Majestätisch thront sie in der Gnadenkapelle, 117 Zentimeter gross, mit Jesuskind im Arm. Jährlich verehren Hunderttausende Menschen die Schwarze Madonna, wohnhaft im Kloster Einsiedeln im Kanton Schwyz. Ihr Leistungsausweis sucht seinesgleichen: Sie hat Kranke geheilt, Autounfälle verhindert, Brände gelöscht, Frauen aus der untergehenden «Titanic» gerettet oder stumme Fürstensöhne zum Sprechen gebracht. Zumindest in der Wahrnehmung der Gläubigen.
So erfolgreich die Muttergottes Menschen vor Unheil bewahrt, so wehrlos ist sie, wenn sie selbst in Not gerät. Wie an jenem Samstagnachmittag Mitte November dieses Jahres. Ein afghanischer Asylbewerber kletterte auf den Altar in der Gnadenkapelle, entriss der Marienstatue Zepter und Kleider und setzte sich am Schluss deren Krone aufs Haupt. Der Vorfall sorgte für grosses mediales Aufsehen. Das Video, das die Schändung der Heiligenfigur zeigt, ging viral. Die Polizei führte den 17-Jährigen in Handschellen ab. Die Jugendanwaltschaft führt ein Strafverfahren wegen Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit. Der Asylsuchende leidet unter psychischen Problemen.
Jetzt befindet sich die beschädigte Originalstatue aus dem 15. Jahrhundert an einem sicheren Ort und wartet darauf, von Fachleuten restauriert zu werden. Der Asylbewerber brach die Hand ab, fügte dem Antlitz zwei kleinere Kratzer zu und ramponierte das rote Kleid. Dass die Schwarze Madonna vor zwei Jahren eine neue Halterung aus Metall erhielt, erweist sich nun als Glücksfall, wie Pater Philipp Steiner sagt: «Sie verhinderte das Herunterfallen der Statue und damit weitaus grösseren Schaden.» Derzeit steht eine Kopie in der Gnadenkapelle. Ein Ersatzkleid war schnell gefunden: Die Garderobe der Schwarzen Madonna umfasst rund dreissig Roben.
Welches Kleid die Statue am 24. August 1893 trug, ist nicht überliefert. Fest steht aber, dass sie auch an diesem Tag Schlagzeilen lieferte. Pater Odilo Ringholz, Haushistoriker des Klosters, listet den spektakulären Fall in seiner 1896 erschienenen Wallfahrtsgeschichte unter dem Kapitel Gebetserhörungen und Wunder auf. Die Schwarze Madonna soll einen Mord an einem Priester vereitelt haben. Der «Einsiedler Anzeiger» schilderte den Vorfall so:
Attentäter Peter Schäuble, geboren im Grossherzogtum Baden, feuerte kniend aus einem Meter Distanz einen Schuss ab auf Priester Meinrad Anton Kälin. In einem «wahrheitsgetreuen» Bericht schilderte dieser, wie er einen heftigen Aufprall am Rücken spürte, ein brennendes, stechendes Gefühl. Er glaubte zunächst, ein Sprengsatz sei explodiert.
Nachdem der zweite Schuss gefallen war, realisierte er, dass jemand Suizid begangen hatte. Später in der Sakristei entdeckt er ein kleines Loch im roten, seidenen Messgewand und eine Kugel, die «wie angegossen» daran klebte. Dorfarzt Meinrad Gyr konstatierte noch gleichentags bloss geringfügige Verletzungen: eine kleinere Blutung und Hämatome.
Zeitgenössische Quellen beschreiben den etwa 40-jährigen Attentäter Peter Schäuble als «irrsinnig». Mediziner Gyr erklärte ihn für unzurechnungsfähig, weshalb man ihm eine kirchliche Beerdigung nicht verweigern dürfe. Schäuble hatte dreizehn Jahre vor dem Attentat als Schuster im Kloster gearbeitet. Dann wanderte er nach Amerika aus und wollte sich dem Kloster St. Meinrad, einer US-Filiale des Klosters Einsiedelns, anschliessen. Die Gemeinschaft wies ihn zurück, sie hielt ihn für charakterlich ungeeignet.
In den USA geriet Schäuble in persönliche Schwierigkeiten. Die Schuld dafür schob er den Mönchen in die Schuhe. Die «Einsiedler Pfaffen» würden Unglück über ihn herabbeten, wetterte Schäuble. Er verliess Frau und Kinder in St. Louis und kehrte im Frühjahr 1893 nach Europa zurück für eine Abrechnung am Wallfahrtsort Einsiedeln.
Über die Jahrhunderte hinweg haben sich mehr als 1000 Berichte über Gebetserhörungen und Wunder angesammelt, die der Muttergottes attestiert werden, bestätigt von Päpsten und anderen Gewährsmännern, wie Pater Odilo Ringholz betont. Um theologisch genau zu sein: Nicht Maria, sondern Gott hat die Wunder vollbracht – jedoch auf ihre Fürsprache hin.
Belastbare Belege für Wallfahrten nach Einsiedeln gibt es aus dem 14. Jahrhundert, wahrscheinlich setzten sie schon im 12. oder 13. Jahrhundert ein. Gegründet wurde Einsiedeln vom Heiligen Meinrad. Er zog sich als Eremit in eine Klause im «finsteren Wald» zurück und wurde gemäss Legende 861 von zwei Räubern ermordet. Zwei Raben sollen diese bis an den Zürichsee verfolgt haben. Die schwarzen Vögel zieren heute das Einsiedler Wappen.
Im Mittelalter kam es zu Massenaufläufen, und Einsiedeln entwickelte sich allmählich zu einem der bedeutendsten Marienwallfahrtsorte in Europa. Laut zeitgenössischen Quellen erschienen 1466 mehr als 130'000 Pilger zur Engelweihe; das Fest erstreckte sich damals auf zwei Wochen. Im selben Jahr fand die Schwarze Madonna, ein spätgotisches Fabrikat aus Süddeutschland, ihren Weg in die Gnadenkapelle.
Die Marienstatue ersetzte eine Figur, die kurz zuvor einem Brand zum Opfer gefallen war, und avancierte zum Symbol der Wallfahrt. Durch Kerzen und Öllampen wurde sie über die Jahrhunderte geschwärzt und später schwarz angemalt. Sie blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Bis ins 18. Jahrhundert stand sie quasi im Dienst für den Strafvollzug. Für Delikte wie Totschlag, aber auch moralisches Fehlverhalten wie vorehelichen Sex oder Ehebruch, für Schlägereien und verbale Ausfälligkeiten im Restaurant verhängten Gerichte bis ins 18. Jahrhundert Strafwallfahrten nach Einsiedeln.
Stark unter Druck geriet das Kloster zur Franzosenzeit. Im Mai 1798 zerstörten Napoleons Truppen die Gnadenkapelle, trugen Marmorstein um Marmorstein ab und plünderten, was ihnen in die Hände fiel. Die Mönche versteckten die Schwarze Madonna an verschieden Orten, flohen nach Vorarlberg und kehrten erst 1801/1802 zurück. Erst nachdem die Mediationsakte im Jahr 1803 den Fortbestand des Klosters garantiert hatte und das Gnadenbild wieder nach Einsiedeln zurückgebracht worden war, nahm die Wallfahrt wieder Fahrt auf. Die Gnadenkapelle wurde neu errichtet.
Die Pilger standen immer unter Verdacht, sie frönten in Tat und Wahrheit einem profanen Tourismusvergnügen mit abergläubischen Zügen. Das Kloster Einsiedeln widersprach heftig und schildert die Gläubigen als Menschen, denen es um Aussöhnung mit Gott, um Busse und Beichte, um Erneuerung des christlichen Tugendsinns gehe. In einer Art Pilgerreiseleitfaden formulierte das Kloster detaillierte Regeln. So sollten die Wallfahrer während der Zugfahrt beten, anstatt zum Fenster hinauszuschauen oder mit dem Nachbar zu schwatzen. Und wer Pflichten wie die Betreuung kranker Angehöriger zu erfüllen habe, bleibe besser daheim.
Eine neue Spielart des Pilgerns etablierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, auch dank des immer besser werdenden Eisenbahnnetzes. Sehr papsttreue Katholiken organisierten Massenwallfahrten nach Einsiedeln, demonstrierten damit ihre Solidarität zum Vatikan und protestierten gegen die Moderne, gegen Aufklärung, gegen Liberalismus oder Sozialismus. Geistliche aus dem Kanton Freiburg instrumentalisierten die Schwarze Madonna sogar als Wahlkampfhelferin. Eine Pilgergruppe musste vor ihr ein Gelübde ablegen, bei den nächsten Wahlen katholisch-konservative Politiker auf den Zettel zu schreiben.
Eine andere Funktion übernahm die Marienstatue in Kriegszeiten. Während des Ersten Weltkriegs fungierte sie als Schutzpatronin vieler Männer, die in den Kampf ziehen mussten. Zwischen 1914 und 1918 landeten mehr als 3000 Soldatenbilder in Einsiedeln mit der Bitte, die Muttergottes möge Unheil von ihnen abwenden. Vor zehn Jahren wurden Mönche bei Aufräumarbeiten in der Sakristei von einem Zufallsfund überrascht. Sie entdeckten rund 600 Fotos von deutschen, französischen, österreichischen und Schweizer Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs der Schwarzen Madonna anvertraut worden waren. Die Bilder sollten möglichst nahe bei der Statue niedergelegt werden, die meisten stammten von Angehörigen der deutschen Wehrmacht.
Niemand weiss, was aus den Soldaten geworden ist, die in dem von den Nazis entfesselten Krieg kämpften. Die Fotos dokumentieren das Vertrauen, das sie in die Muttergottes hegten, aber auch die Ungewissheit und die Ohnmacht der Daheimgebliebenen. Auf einigen Bildern finden sich biografische Hinweise.
Zu einem angehenden Theologiestudenten heisst es: «Seit August 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft. Liebe Gnadenmutter von Einsiedeln! Führe doch unseren Eugen bald glücklich in die Heimat zurück!» Kriege lassen die Schwarze Madonna nicht los. In den letzten Jahren fanden wegen des russischen Feldzuges gegen die Ukraine Friedenswallfahrten statt.
Es gibt eine weitere Konstante. Der Glaube an übernatürliche Kräfte bleibt in der säkularisierten Welt des 21. Jahrhunderts bestehen. Die Mönche ermuntern Gläubige denn auch, Gebetserhörungen zu melden. In einem Schreiben, das an der Wand der Klosterkirche direkt hinter der Gnadenkapelle und neben Votivtafeln prangt, heisst es: «Wunder geschehen auch heute noch, wenn man mit ihnen rechnet.»