Und Sie wollen sagen, dass es auch Verständnis braucht, um nicht auszutreten. Sie können sich gar nicht vorstellen, was in der Erlöserpfarrei passierte. Ich kann auch ohne Kirche mit Gott reden. Schmerzerfüllte und sehr traurige Grüsse, Carlo A., Chur.
Diese Worte erreichten mich per E-Mail. Es war eine Reaktion auf einen Kommentar zu sexuellen Übergriffen in der katholischen Kirche. Vor drei Wochen enthüllten Historikerinnen und Historiker, dass es viel mehr Missbräuche gab als bis jetzt bekannt, die dokumentieren Fälle aber nur die Spitze des Eisberges seien. Ich habe die 3-V-Strategie (verschweigen, vertuschen, versetzen) der kirchlichen Verantwortungsträger kritisiert. Gleichzeitig habe ich argumentiert, weshalb ich der katholischen Kirche treu bleibe - wegen den Tausenden engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die wertvolle Arbeit leisten und nichts mit den Übergriffen zu tun haben.
In einer weiteren E-Mail schrieb Carlo A.:
Jedes Mal, wenn Glocken läuten, wenn auf dem Friedhof Abschied von Freunden genommen wird, und, und, und … werde ich an die Zeiten der Nötigung und schlimmen Übergriffe erinnert. Ich habe nun meinen Kirchenaustritt der Kirchgemeinde mitgeteilt. Eine Bestätigung habe ich erhalten.
Carlo A. erklärt sich bereit, CH Media seine Geschichte zu erzählen. In einem Café in Chur empfängt mich der 60-Jährige mit den nach hinten gekämmten Haaren zum Gespräch. Carlo A. ist freundlich, gut gelaunt und wirkt nicht wie jemand, der eine schwere Vergangenheit mit sich schleppt. Fast im Minutentakt winkt er anderen Gästen zu oder wird selber gegrüsst. Er kennt jeden, jeder kennt ihn.
Aber fast niemand kennt den Leidensweg, den ihm ein übergriffiger katholischer Pfarrer aufgebürdet hat. Erst vor drei Jahren traute er sich seiner Psychiaterin an, dann der Ehefrau. Er habe stets unter einer inneren Unruhe gelitten, zweifelte an seiner sexuellen Orientierung und fragte sich. Habe ich vielleicht selber etwas falsch gemacht? Bin ich vielleicht nicht doch schwul?
Es komme oft vor, dass Opfer von sexuellen Übergriffen lange niemanden in ihr Schicksal einweihten, sagt der forensische Psychiater Frank Urbaniok. «Das Thema ist mit Scham und Ekel behaftet. Es braucht Mut, offen über solche Erlebnisse zu reden», sagt Frank Urbaniok. Die Machtposition der Kirche, in der Priester früher quasi Halbheiligenfiguren waren, mache es noch schwerer, das Unrecht anzusprechen. Es ist kein Zufall, dass viele Opfer ihre Geschichte jemandem in einem Moment anvertrauen, in dem die Problematik in der Öffentlichkeit breit diskutiert wird. «Es hilft, wenn man sieht, dass man mit seinem Schicksal nicht allein ist», sagt Urbaniok.
Carlo A. sagt, er habe sein Umfeld nicht mit seiner Vergangenheit belasten wollen. Ihn belastet sie bis heute. Jammern mag er nicht: «Ich bin glücklich verheiratet und habe ein gutes Leben.»
Carlo A. wächst ganz in der Nähe der Erlöserkirche in Chur auf. Es ist eine Zeit, in dem Pfarrer unangefochtene Autoritäten sind und von einer Aura der Unfehlbarkeit umweht werden. Carlo A. macht bei der Jungwacht mit. Er ist etwa 10 Jahre alt, als der Pfarrer zudringlich wird und seine Machtposition ausnutzt. Eingebettet in die «Normalität» des Jungwacht-Lebens, kommt es während Jahren zu Berührungen, «die niemals hätten stattfinden dürfen». Carlo A. vermutet, dass viele seiner Kollegen damals in den 1970er Jahren auch Opfer der priesterlichen Übergriffe wurden.
Darüber geredet wird nicht. Sexualität ist ein absolutes Tabu, die Kinder sind kaum aufgeklärt. Carlo A. realisiert gar nicht, wie ihm geschieht, wenn ihn der Pfarrer anhält, dessen Penis zu berühren. «Man denkt, das muss so sein, der Pfarrer macht es schon recht», erinnert er sich. Erst etwa 15, 20 Jahre nach den Übergriffen habe er erfasst, was ihm widerfahren sei.
Lange frass Carlo A. das Geschehene in sich hinein, blieb aber der Kirche treu. Seinen Eltern vertraute er sich nicht an. Er sagt, sie hätten ihm sowieso nicht geglaubt. Seine Befürchtung deckt sich mit den Ergebnissen der Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich. Sie fanden heraus, dass die Eltern ihre Kinder zum Teil sogar verantwortlich machten für die Übergriffe der Kleriker – gerade zu jener Zeit, in der Carlo A. dem Pfarrer schutzlos ausgeliefert war.
In der Studie der Universität Zürich sind 1002 sexuelle Übergriffe dokumentiert. Die allermeisten Täter waren Priester, die Opfer zu drei Vierteln minderjährig und mehrheitlich männlich. Das traurige Fazit der Forscherinnen und Forscher sowie mein Kommentar haben bei Carlo A. alte Wunden aufgerissen. Ganz nüchtern, fast regungslos, spricht er von dem «verlogenen Pack», das den Missbrauch gedeckt habe.
Carlo A. ist überzeugt: Die Verantwortlichen in der Kirchgemeinde und andere kirchliche Mitarbeiter wussten damals, als er ein Bub war, dass sich unter der Soutane Verbotenes abspielte. Es konnte ihnen nicht verborgen geblieben sein, wie der Pfarrer sich an ihn, an andere Ministranten und Jungwacht-Buben heranmachte. In seinen Augen hat dieses kirchliche Fussvolk ein Schweigekartell installiert, aktiv weggeschaut und zahlreiche Opfer in Kauf genommen. Carlo A. ist nicht mehr bereit, noch länger ein System finanziell zu alimentieren, das er für heuchlerisch und unreformierbar hält.
Er hat die schmerzhafte Erfahrung gemacht: Viele kirchliche Mitarbeiter, mögen sie noch so engagiert gewesen sein, haben die Augen vor den unheiligen Taten verschlossen. «Diesen Aspekt finde ich fast noch schlimmer als die Übergriffe als solche. Die Leute wussten Bescheid, aber haben die Priester geschützt und versetzt.» Der beliebte und angesehene Pfarrer, der Carlo A. so viel Leid zugefügt hat, ist längst verstorben. Ob er je auf eine Art und Weise zur Rechenschaft gezogen wurde, weiss Carlo A. nicht. Er tippt: wohl kaum.
Martin Suenderhauf ist Präsident der katholischen Kirchgemeinde Chur. Er könne nachvollziehen, dass Missbrauchsopfer das Erlebte zum Anlass nehmen, um aus der Kirche auszutreten. Ihm persönlich seien keine Übergriffe aus den 1970er-Jahren in der Erlöserpfarrei bekannt.
Auch nach seinen eigenen Erlebnissen beobachtete Carlo A. Kleriker, die eine ungesunde Nähe zu Ministranten pflegten. Eltern berichteten ihm, es hätten erneut Übergriffe stattgefunden, doch abermals habe man die Stellvertreter Gottes gewähren lassen, weil die Verantwortlichen den Schilderungen der Kinder keinen Glauben geschenkt hätten.
Dass der Churer Bischof Joseph Bonnemain wegen Vertuschungsvorwürfen gegen seine Bischofskollegen ermittelt, findet Carlo A. eine Farce. Er misstraut den Beteuerungen der helvetischen Oberhirten, jetzt endlich einen Kulturwandel einzuläuten. «Ich glaube keinem Bischof und keinem Kirchenvertreter mehr.» Den Glauben an Gott hat er nicht verloren, doch von der Institution der katholischen Kirche hat er sich verabschiedet - wie viele andere Katholiken in diesen Tagen. Um die gesparten Kirchensteuern gehe es ihm nicht, betont Carlo A. Er wird von der katholischen Kirche keinen Antrag um Entschädigung aus dem Genugtuungsfond stellen. (aargauerzeitung.ch)
Schon alleine dass ein anderer Kollege die "Ermittlungen" führt zeigt wie ernst es ihnen ist. Hier müsste endlich der Staat eingreifen und den Riegel schieben.
Er war auch die go-to-Person der Nonnen die auch Klassen unterrichteten, wenn immer es zu bestrafen gab, dann wurden die Kinder zu ihm gebracht und er prügelte die Kinder Läderach Style. Der teuflische Kreis wurde unterbrochen, als eines Tages der Vater eines geschlagenen Kindes in der Tür stand und ihm den Kiefer brach.
Der Glaube und die Werte an sich sind etwas Gutes und helfen bestimmt vielen Menschen. Leider wird diese Macht von der Kirche viel zu oft schamlos ausgenutzt.
Es wird Zeit, dass die Gläubigen, welche diese Kirche unterstützen, aufstehen und diese Schandtaten hinterfragen und verurteilen. Es ist an der Zeit, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und zwar jetzt und nicht erst dann, wenn alles verjährt ist.