«Da läuft es mir kalt den Rücken runter», sagte Sandro Brotz zu Beginn der gestrigen «Arena». Nicht ob der hohen Ansteckungsgefahr im Raum, im Gengenteil. Das Publikum ist voll besetzt, Nasen und Münder sind in allen Formen und Farben zu sehen. Eine Brise Normalität weht durch das Studio 8 – und der Moderator genoss den frischen Wind sichtlich.
Doch wenn Normalität zur Anomalie wird, birgt sie auch Raum für Skepsis. «Immer, wenn Massnahmen gelockert wurden, war der nächste Lockdown nicht weit», warnte ein Schüler im Publikum.
Ist die Schweiz gefangen in einem selbst auferlegten Sisyphus-Dilemma? Rollen wir den Felsblock stets bis kurz vor den Berggipfel, nur um ihn dann wieder ins Tal rauschen zu lassen? Oder haben die Erfahrungen der letzten zwei Jahre uns so misstrauisch gemacht, dass wir den Gipfel nicht mehr erkennen? Darüber debattierten in der «Arena» am Freitag:
Oder so der Plan. Statt verbaler Boxkämpfe auszutragen, wurde sich dann aber meist selbst auf die Schulter geklopft. Das begann schon bei Alain Berset.
Nicht der Bundesrat habe die Fahrtrichtung diktiert, sondern das Virus, resümierte der Gesundheitsminister. Das Zusammenspiel mit der Taskforce sei zudem sehr gut gewesen und die internen Uneinigkeiten im Bundesrat hätten zu mehrheitsfähigen Lösungen geführt. Die Gratwanderung der Schweiz zwischen überlasteten Spitälern und grösstmöglicher Freiheit: Auch sie habe sich ausbezahlt. Alle Kritik schien an der lotusblumigen Art Bersets abzuperlen. «Wir müssen auch etwas Freude zeigen dürfen», sagte er schon fast trotzig.
SVP, FDP und Mitte zeigten sich ebenfalls zufrieden. Vor allem mit sich selbst. Mitte-Nationalrat Philipp Bregy konstatierte, dass seine Partei für Zusammenhalt im Parlament sorgte, denn «eine Pandemie kann man nur gemeinsam bewältigen». FDP-Ständerat Andrea Caroni redete vom «liberalen schlechten Gewissen», das seine Partei mit einbrachte.
Doch keiner beherrschte die Kunst des Eigenlobs so gut wie Marcel Dettling. Die SVP sei der Grund dafür gewesen, dass die Skigebiete offen blieben. Die SVP habe letzten Winter mit der «Beizen für Büezer»-Petition frierenden Arbeitern die Möglichkeit auf eine warme Mahlzeit gegeben. Und die jetzigen Lockerungen? Sie kamen «auch auf Druck der SVP zustande».
Bis auf die SVP zeigten sich auch alle mehrheitlich zufrieden mit den Leistungen des Bundesrates. Doch bevor alle Arm in Arm «Kumbaya, my Lord» anstimmten, griff Sandro Brotz ein. Ein Konflikt musste her. Denn so ungewohnt das einige Bild auch war: In einer Arena wird per Definition gekämpft, nicht geschmust.
Auftritt Mattea Meyer. Frisch aus dem Mutterschaftsurlaub zurück verdrehte die SP-Co-Präsidentin ob den Lobeshymnen ihrer Kollegen oft nur die Augen. Sie kam in die Arena, um auszuteilen. So warf sie der SVP vor, ihre Diktatur-Rhetorik «hatte nur wenig mit der Realität zu tun. So etwas schadet dem Pandemieverlauf». Bundesrat Ueli Maurer habe zudem versagt, als es um Finanzhilfen für Unternehmen ging. «Er hat ein Gesetz vorgelegt, das keinerlei wirtschaftliche Hilfen vorgesehen hat.» Das sei für sie unverständlich.
Meyer war jedoch nicht nur wütend auf die SVP, sondern auf die gesamte Diskussion. «Ich bin etwas genervt. Wir haben über Digitalisierung und die Rolle des Parlaments gesprochen. Können wir vielleicht mal darüber sprechen, was diese Krise mit den Menschen gemacht hat? Dass 12'000 Menschen ihr Leben und tausende weitere ihre Jobs verloren haben?»
Brotz schien diesen Vorwurf persönlich zu nehmen und zählte auf, wie oft in der «Arena» bereits das Pflegepersonal und andere betroffene Personen zu Wort kamen. Darauf hatte auch Zankhahn Meyer keine Einwände mehr.
Grünen-Präsident Balthasar Glättli, der im Publikum Platz nehmen musste, schien sich derweil vom Feuer Meyers inspiriert gefühlt zu haben. Anstatt jedoch über die angeprangerte fehlende Einigkeit während der Krise zu debattieren, schlug Glättli eine etwas deplatziert anmutende Brücke zum eigenen Parteiprogramm: «Wenn wir im gleichen Spirit zusammenarbeiten würden wie am Anfang, dann könnten wir auch die Klimakrise lösen.»
Mitte-Nationalrat und «Arena»-Debütant Philipp Bregy nahm Glättli sogleich den Wind aus den Segeln. Die Klimakrise habe in dieser Diskussion nichts zu suchen. Wie gut eine Nation durch eine Krise komme, hänge hauptsächlich mit der Vorbereitung zusammen. Das werde oft vergessen. «Die Schweiz war sehr gut vorbereitet. Wir hatten an vielen Orten gut geschultes Personal, wir hatten tiefe Schulden. Wir konnten es uns leisten, durch die Krise zu kommen.»
Die Leistung tatsächlich gebremst hätten Bereiche, in denen die Schweiz nicht vorbereitet war. Beispiel Digitalisierung: «Im Bundesamt für Veterinärwesen schaffen wir es, jährlich rund 1,3 Millionen Schweine auf Krankheiten zu untersuchen. Aber wir schaffen es nicht, die Daten von 283 Spitälern zu sammeln. Das ist ein Versagen der Politik, das muss aufgearbeitet werden.»
Dass die Massnahmen mehrheitlich aufgehoben wurden, kritisierte letztlich niemand wirklich. Einwände aus dem Publikum, wonach ältere und vulnerable Menschen sich nun vor dem Einkauf fürchten müssten, wurden von Alain Berset geschickt unter den Teppich gekehrt. Auch dem Vorwurf von Schüler Dominic Beck, wonach die Jugend zu wenig berücksichtigt worden sei, konnte Medienprofi Berset ausweichen: Er applaudierte einfach kurzerhand allen anwesenden Jugendlichen. «Ihr wart alle perfekt. Gratuliere!»
Letztlich liess die Sendung den Zuschauer etwas verwirrt zurück. War die Schweiz jetzt gut oder schlecht? Und ist jetzt alles vorbei? Man weiss es nicht. Die Quintessenz dieser «Arena» dürfte anderswo gelegen haben: in ihrer Spiegelfunktion der Pandemie. Zwei Jahre Krise kondensiert in 70 Minuten Sendezeit. Ein bisschen Einigkeit, ein bisschen Parteipolitik, ein bisschen Selbstlob, ein bisschen Kritik an Problemen, die andere zu verantworten haben. Und hin und wieder ein Hinweis darauf, wer die Schweiz hauptsächlich durch die Krise brachte: die Ärzte, das Pflegepersonal, die Buschauffeure, die Pöstler – kurzum alle Menschen, die trotzdem weitermachten.
Bemühen wir uns das Pflegepersonal anständiger zu entlohnen?
Versuchen wir die Entschleunigung etwas beizubehalten.
Machen wir mit der Digitalisierung vorwärts?
Versuchen wir den teilweise mehr als hinderlichen Kantönligeist etwas zu korrigieren?
Nehmen wir die Möglichkeit für HO wahr und entlasten die Umwelt?
Es wäre eine einmalige Chance quer Beet in der Gesellschaft etwas dazuzulernen, aber ich befürchte der Mensch ist resistent und vergisst mehrmals nur schnell.
Unglaublich.
Und was hätte dagegen gesprochen, die Öffnung ein wenig langsamer anzugehen ?