Am Freitag, 24. März, fand in Bern die erste Behindertensession statt. Am Abend wurde in der «Arena Spezial» live darüber debattiert, wo die Behindertenpolitik der Schweiz aktuell steht und welchen Herausforderungen Betroffene in ihrem Alltag begegnen.
Die Hauptgäste waren:
Zudem waren zu Gast im Studio:
Die Sendung fand in einem besonderen Setting statt – neben Sandro Brotz moderierte Oceana Galmarini aus der Zuschauerzentrale heraus. Dort konnten sich die Zuschauerinnen während der Sendung per Chat, Mail oder Telefon melden, um Fragen zu stellen und Kritik anzubringen.
Dass Barrierefreiheit noch keine Gleichstellung bedeutet, erklärt die Berner Grossrätin Simone Leuenberger anhand eines persönlichen Beispiels: Dank des Treppenlifts komme sie zwar zu ihrem Arbeitsplatz, sie benötige dafür jedoch mehr Zeit, die sie sich gut einplanen müsse. Das stelle keine Barriere, aber immer noch ein Hindernis dar – und somit keine Gleichstellung mit ihren Kolleginnen des grossen Rates.
Von solchen Alltagserfahrungen im Rollstuhl kann auch der Behindertenrechtsaktivist Islam Alijaj ein Liedchen singen. Für ihn stellt der öffentliche Verkehr eine grosse Hürde dar – obwohl die Verkehrsbetriebe jetzt 20 Jahre Zeit gehabt hätten, habe sich nichts getan in Sachen behindertengerechte Infrastruktur. «Weil es niemanden interessiert, ob wir barrierefrei reisen können. Und dass ich stundenlang auf das richtige Tram oder den richtigen Zug warten muss, finde ich einen Skandal.»
Ein wichtiger Schritt, um Gleichstellung zu erreichen – da scheinen sich alle im Fernsehstudio einig zu sein – ist die erhöhte Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung. Sei es in der Politik, oder eben auch in den Medien. Der Leiter der Behindertensession, Christian Lohr, äussert an dieser Stelle auch Kritik gegenüber der «Arena»: «Die Medien haben auch einen wichtigen Auftrag. Warum hat man hier heute Abend keinen Moderator oder keine Moderatorin mit Behinderung im Saal?» Hierauf weiss nicht einmal mehr der sonst sehr eloquente Sandro Brotz eine befriedigende Antwort zu geben. Schnell wechselt er mittels Gegenfrage zum nächsten Thema.
Nationalratspräsident Martin Candinas stellt fest: «Die Menschen sind bereit, eure Anliegen ernst zu nehmen – aber wenn es dann darum geht, Taten zu erbringen, scheitern viele.» Simone Leuenberger stimmt ihm zu und beteuert, dass die Umsetzung eigentlich ziemlich einfach sein würde. «Jedes neue Gebäude muss ganz selbstverständlich Brandschutz-Vorschriften einhalten, sonst wird es nicht bewilligt. Aber ein barrierefreier Zugang – davon ist gar nicht erst die Rede.» Und das, obwohl das Risiko für einen Brand geringer sei als die Wahrscheinlichkeit, dass jemals eine Person mit Beeinträchtigung dieses Gebäude betreten will. Das Publikum applaudiert der Berner Grossrätin als Zeichen seiner Bejahung.
Ob «Behinderte», «Menschen mit Behinderung» oder «Menschen mit Beeinträchtigung» nun der richtige Ausdruck ist, hat man sich auch im Vorfeld dieser «Arena Spezial» gefragt. Als Sandro Brotz sich selbst erwischt, wie er über das Wort «Behinderte» stolpert, will er das Thema aufgreifen und fragt die Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenverbunds, Tatjana Binggeli, nach ihrer Meinung. In ihrer Antwort geht es aber schon um das nächste Thema, und seine Frage wird ignoriert. Später spricht Brotz die Kontroverse rund um die politisch korrekte Bezeichnung nochmals an und informiert das Publikum, man habe sich für den Ausdruck «Menschen mit einer Behinderung» entschieden.
Die meiste Sprechzeit sollen in dieser «Arena Spezial» jene bekommen, die auch selbst von einer Beeinträchtigung betroffen sind. Darum unterbricht Brotz SP-Nationalrätin Franziska Roth, noch bevor diese ihren ersten Satz beginnen kann, mit den Worten: «Jetzt muss ich sie unterbrechen – sie haben hier heute wirklich eine Nebenrolle.»
Islam Alijaj bemängelt, dass es zwei voneinander getrennte Arbeitsmärkte gibt, Menschen mit Beeinträchtigung kaum entlöhnt würden und aufgrund der Einschränkungen der IV auch im Alter finanziell benachteiligt seien. «Da arbeitet jemand jahrelang im geschützten Bereich, aber kann sich am Schluss trotzdem keine Pensionskasse leisten.»
Sandro Brotz zeigt das Foto eines Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, der gerade Abstimmungscouverts einpackt, und fragt, ob dieser nicht stattdessen selbst am politischen Leben teilnehmen können sollte. Er erhält dafür Zustimmung von Simone Leuenberger: «Der Skandal ist ja aber eigentlich, dass sie für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten, der reicht, um ihr Leben zu finanzieren.» Sie greift die Thematik des Nicht-Wählen-Dürfens auf und sagt, man halte den Betroffenen immer vor, es könne ja sein, dass sie beim Abstimmen beeinflusst würden. «Hey hallo, das passiert an unseren Stammtischen genauso!», stellt sie treffend fest.
Publikumsliebling und Behindertensportler Daniel Knöpfel fordert, dass die Parlamentarier selbst einmal einen Tag lang Wahlcouverts einpacken müssen – und erhält dafür Applaus. Sandro Brotz fragt – gespickt mit ganz viel Ironie – bei den Gesetzesmachern nach und, wer hätte es gedacht, natürlich haben alle auch schon mal Couverts eingepackt. Die Einzige, die den Kopf schüttelt, ist Franziska Roth, die dann auch gleich zum Rundumschlag gegen ihre Berufskollegen ausholt: «Ich kaufe es euch nicht ab, dass ihr dort nicht einfach hingeht, um ein Selfie eurer guten Tat auf Instagram posten zu können.» Auch diese sympathische Entlarvung kommt beim klatschenden Publikum sichtbar gut an.
Christian Lohr äussert gegen Ende der fast zweistündigen Sendung einen wichtigen Punkt: «Was mir in dieser Diskussion heute Abend fehlt, ist, dass wir überhaupt nicht über die Stärke der Befähigung von Menschen mit Behinderung sprechen.» Rückendeckung erhält er von Leuenberger, die – wie so oft an diesem Abend – einen einleuchtenden Vergleich parat hat: «Wenn jemand eine OP hatte, kommt er in die Reha. Diese ist zeitlich befristet und hat den Sinn, dass man währenddessen wieder dazu befähigt wird, in seinen Alltag zurückkehren zu können. Warum spricht man Heimplätze für Menschen mit Behinderung nicht auch befristet aus?»
Fast immer ist man sich in dieser «Arena Spezial» zur Behindertensession einig, dass sich in Sachen Inklusion und Gleichstellung noch einiges ändern muss. Für eine lösungsorientierte und vor allem ausreichend umfassende Diskussion des Themas hat aber auch eine besonders lange «Arena»-Sendung nicht ausgereicht.
Wie ich in der Arena feststellen musste, ist das bei weiten nicht der Normalfall vieler Menschen mit einer Behinderung.
Was mich nervt ist, dass es in der Politik Jahre dauert bis kleine Verbesserungen im Alltag dieser Menschen sichtbar werden.
Ansonsten konnte ich für mich einiges aus der Arena mitnehmen.
Warum das bei uns so lange dauert, ist mir ein Rätsel.
Übrigens ist das auch im Internet ein Thema. Websites, die für Menschen mit Seh-Beeinträchtigungen optimiert sind, dürften vermutlich immer noch die Ausnahme sein.