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Gipfeltreffen Genf: Kanton wird beschuldigt, Grundrechte zu vergessen

APTOPIX Swiss police forces have blocked a road that will be taken by U.S. President Joe Biden and Russia's President Vladimir Putin in Geneva, Switzerland, early Wednesday, June 16, 2021. Biden  ...
Die Strassen sind leergeräumt, das Gebiet, wo sich Biden und Putin treffen weiträumig gesperrt: Ausnahmezustand in Genf. Bild: keystone

Biden-Putin Gipfel: Warum Genf beschuldigt wird, die Meinungsfreiheit zu vergessen

Die Sicherheit der Staatspräsidenten Joe Biden und Wladimir Putin sei wichtiger als die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht, heisst es von linken Parteien in Genf. Der Kanton wehrt sich dagegen.
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16.06.2021, 10:5016.06.2021, 11:17
Guillaume Chillier
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Das Treffen von US-Präsident Joe Biden und dem Kremlchef Wladimir Putin in Genf sorgt weltweit für Aufsehen. So sehr, dass in der Kantonshauptstadt offenbar Grundrechte wie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit vergessen gehen. So jedenfalls lautet der Vorwurf, nachdem Kundgebungen in der Nähe des Treffens verboten wurden.

Entschieden wurde das Verbot vom Genfer Staatsrat. Und es sorgte – neben der Vorfreude auf das Treffen – für ein kleines politisches Erdbeben. Am Montag prangerten die SP, die Grünen und das «Ensemble à Gauche» das Kundgebungsverbot an.

Die Parteien gegen den Staatsrat

«Es ist besonders schwerwiegend, dass die Sicherheit vor der Demokratie Vorrang hat. Damit werden Grundrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, aus welchen sich unter anderem das Demonstrationsrecht ableitet», verkünden die Parteien in einem Schreiben – die notabene seit Monaten in der Genfer Regierung das Sagen habe.

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«Das ist umso schockierender», seufzt Yann Woodcock, Mitglied des Komitees der Genfer Koordination für das Recht auf Demonstration.

«Diese Rechtsprechung verpflichtet den Staat, den Schutz und die Ausübung dieser Grundfreiheit zu gewährleisten. Demonstrieren ist kein Luxus.»
Yann Woodcock

Woodcock verweist darauf, dass die Demonstrationsfreiheit in mehreren grundlegenden Texten anerkannt wird. So etwa:

  • In der Bundesverfassung durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit
  • In der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch das Recht auf Versammlungsfreiheit. Sie wird auch in Bezug auf die Meinungsfreiheit und der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beigezogen.
  • Durch den UN-Pakt II über bürgerliche und politische Rechte.
  • Durch das Bundesgericht, das anerkennt, dass die Demonstrationsfreiheit ein öffentliches Interesse darstellt und ein wesentliches und schützenswertes Element in einer demokratischen Gesellschaft ist.
A police officer looks through a binoculars to guard the area in front of the 'Villa la Grange' ahead of the meeting of US President Joe Biden and Russian President Vladimir Putin at the vil ...
In Genf sind derzeit mehr als 95 Prozent der 1500 Polizeibeamten des Kantons für den Gipfel im Einsatz.Bild: keystone

«Diese Rechtsprechung verpflichtet den Staat, den Schutz und die Ausübung dieser Grundfreiheit zu gewährleisten. Demonstrieren ist kein Luxus», sagt Woodcock und folgert: «Deshalb hat die Regierung mit dem Verbot einer für den Mittwochabend geplanten Demonstration in Genf gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit verstossen.»

Die Sicherheit geht vor

Auf Nachfrage verteidigt der Kanton Genf das Verbot: «Das Demonstrationsverbot erfolgt aus offensichtlichen Sicherheitsgründen. Wir können keinen Demonstrationszug genehmigen, denn das würde die Teilnehmenden selbst in Gefahr bringen», erklärt Laurent Paoliello, Sprecher der zuständigen Behörde.

In Genf sind derzeit mehr als 95 Prozent der 1500 Genfer KantonspolizistInnen für den Gipfel im Einsatz. Das Sicherheitsdispositiv erforde einen erheblichen organisatorischen und logistischen Aufwand, heisst es vom Kanton Genf. «Wir können es uns nicht leisten, die für den Gipfel eingerichteten Sicherheitsmassnahmen für eine Demonstration abzuändern. Das würde Stunden, wenn nicht Tage dauern», so Paoliello weiter.

Der Sprecher versicherte aber, dass mit dem Genfer Quartier Plainpalais als Alternativ-Demonstrationsort vorgeschlagen wurde, um die Grundrechte einzuhalten. «Die Organisatoren hatten die Wahl. Wenn ihre Demonstration abgesagt wird, dann nur, weil sie sich nicht auf einen anderen Ort geeinigt haben.»

Diverse Kundgebungen geplant

Gemäss Informationen von watson sind neben der Demonstration am Mittwoch mindestens vier weitere politische Kundgebungen in der Nähe von Plainpalais und dem Place des Nations geplant.

Doch zufrieden sind die Organisatoren damit nicht. So spricht etwa Thomas Vacchetta, einer der Organisatoren der Demonstration am Mittwochabend und Mitglied der SolidartiéS-Bewegung, von einer «Beleidigung». Für ihn ist dieser grosse Platz im Zentrum von Genf vergleichbar mit einem «Indianerreservat»: Weit weg vom eigentlichen politischen Geschehen und weit weg von den Blicken der ganzen Welt.

«Es gibt eine echte Diskrepanz zwischen dem Bild, das das internationale Genf vermitteln möchte und der Realität der leidenden Bevölkerung auf der ganzen Welt», sagt Vacchetta und ergänzt: «Oder wie ist es sonst möglich, dass Genf nicht in der Lage ist, den Gipfel zu organisieren und die Meinungsfreiheit zu bewahren?»

Die Frage nach Ausschreitungen bleibt offen: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu illegalen Versammlungen und Scharmützeln mit der Polizei kommt. Der Kanton teilt diese Befürchtung. Deshalb appelliert er an die Vernunft der Demoteilnehmenden und hofft, dass es zu keinen unbewilligten Versammlungen kommt.

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Gipfeltreffen in Genf
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Gipfeltreffen in Genf
Guy Parmelin empfängt Joe Biden und Wladimir Putin in der Villa La Grange in Genf.
quelle: keystone / denis balibouse
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56 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Ökonometriker
16.06.2021 11:07registriert Januar 2017
Wenn sich zwei der mächtigsten Personen der Welt treffen, brauchts eben entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Chaos und Tote will auch keiner.
Warum nicht anderswo demonstrieren? Eine Demo in Bern, z.B. mit Umzug von der russischen zur amerikanischen Botschaft, böte sich an...
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Chalbsbratwurst
16.06.2021 11:14registriert Juli 2020
Zitat: «Die Organisatoren hatten die Wahl. Wenn ihre Demonstration abgesagt wird, dann nur, weil sie sich nicht auf einen anderen Ort geeinigt haben.»

Demonstrieren ist also möglich einfach nicht an dem Ort an dem die Demonstranten das gerne tun würden. Ein Grundrecht auf einen bestimmten Platz gibt es aber logischerweise nicht... sonst könnten die Klimastreiker ja mitten auf der Autobahn demonstrieren.

Somit, meiner Meinung nach, alles Gesetzeskonform und keine Beschneidung der Grundrechte.
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*Diesisteinzensurportal*
16.06.2021 11:21registriert Oktober 2018
Das ein fruchtbares Treffen zwischen den USA und Russland für uns alle positivere Auswirkungen haben könnte als das Brüllen von Parolen in den Genfer Gassen ist ihnen wohl nicht in den Sinn gekommen?
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