Wie in Polen Sorge vor Russlands Krieg herrscht – und warum man dennoch zuversichtlich ist
Marek Traczyk sitzt mit seinem gelben Medienbadge im «Warsaw Stage» des Hotels Hilton in Warschau – und schüttelt den Kopf. Am Sonntag sei er von seiner elfjährigen Tochter Victoria «total überrascht» worden, gesteht er – und wirkt leicht erschüttert.
Traczyk ist Vorsitzender des polnischen Medienverbands mit 4000 Journalistinnen und Journalisten. Er verfolgt die 12. Ausgabe des Warschauer Sicherheitsforums. 2500 Teilnehmende aus 90 Ländern sind gekommen. Hauptthema: Wie soll Europa Russland in Schach halten?
Victoria stellte ihrem Vater am Sonntag zwei Fragen. «Wann kommt der Krieg?» Und: «Wohin müssen wir fliehen?» Victoria spricht neben polnisch fliessend russisch. Ihre Grosseltern mütterlicherseits stammen aus Mariupol. Der Grossvater ist Ukrainer, die Grossmutter Russin.
Victorias Ängste lassen sich mit den Entwicklungen der letzten zwei Wochen erklären. 19 russische Drohnen drangen in Polens Landesinnere ein. Drohnen wurden auch über Dänemark, Norwegen und Deutschland gesichtet. Und über Estland flogen drei russischen Kampfjets. Das sorgt in der Bevölkerung für Nervosität.
Ganz anders am Sicherheitsforum selbst. Die Stimmung ist nicht gedämpft. Im Gegenteil. Die Voten sind erstaunlich optimistisch und kämpferisch, gerade bei den drei Aussenministern von Deutschland, Frankreich und Polen. Diese Länder haben sich 1991 im Weimarer Dreieck zusammengeschlossen, das als Gesprächsforum für aktuelle europapolitische Fragen dient.
«Russland versagt und macht einen Fehler nach dem anderen», stellt der deutsche Aussenminister Johann Wadephul fest. Die hybriden Attacken Russlands zeitigten den «absolut gegenteiligen Effekt» dessen, was Moskau beabsichtige: «Sie brachten uns zusammen.» Wadephul wird noch deutlicher: «Am Ende des Tages kann Russland gegen uns nicht gewinnen. Das ist eine ökonomische Frage.» Vom Bruttoinlandprodukt her erreiche Russland (mit 2,17 Billionen Dollar) knapp die Grösse Italiens (mit 2,37 Billionen). Zudem wisse Europa – im Gegensatz zu Russland – die Bevölkerung hinter sich. Er folgert: «Wir sind besser auf die Zukunft vorbereitet als Russland.»
Es ist Moldawien, das die Europäer beflügelt. Das Land kippte trotz massiver Einflussnahme Russlands bei den Regierungswahlen nicht ins prorussische Lager. Das sorgt für Hochgefühle. Man habe, erzählt Frankreichs Aussenminister Jean-Noel Barrot. den «Sieg der moldawischen Bevölkerung» gefeiert.
Polens Führungsrollen wird immer stärker
In Warschau fällt eines besonders deutlich auf: Polen spielt eine immer zentralere Rolle in der Anti-Russland-Koalition – als Motor. Exemplarisch zeigt sich das in der Rede von Ministerpräsident Donald Tusk.
Seine ruhige Art kontrastiert mit der Härte der Aussagen. «Es herrscht Krieg», sagt er. «Und es ist auch unser Krieg.» Der Krieg in der Ukraine sei Teil eines schrecklichen Vorhabens, dessen Ziel die Versklavung von Nationen, das Einsperren von Menschen und der Triumph von Autoritarismus, Willkür und Grausamkeit seien. Tusk: «Wenn wir diesen Krieg verlieren, werden die Folgen nicht nur für uns, sondern für viele kommende Generationen furchtbar sein.»
Polen wird, auch das zeigt das Forum, dank seines neuen konservativ-nationalistischen Präsidenten Karol Nawrocki zur sicherheitspolitischen Brücke zwischen Europa und den USA. Nawrocki hat einen besonderen Draht zu Trump. Dieser sicherte ihm zu, dass die US-Truppen in Polen stationiert bleiben. «Für Polen stehen die transatlantischen Beziehungen ganz oben auf der Agenda», sagt Staatssekretär Marcin Przydacz von der Kanzlei des Präsidenten. «Wir brauchen mehr Amerikaner in Europa und mehr Europäer in Amerika.»
Polen befindet sich auf dem Weg zur stärksten Armee Europas – mit einem beispiellosen Aufrüstungsprogramm. Sei es finanziell: 2025 beträgt das Verteidigungsbudget 4,7 Prozent (44 Milliarden Euro) des Bruttoinlandprodukts – es soll auf 5 Prozent steigen. Sei es personell: Heute hat Polen 206'000 aktive Berufssoldaten und 300'000 Reservisten. Bis 2035 sollen es 300'000 aktive Berufssoldaten sein. Polen ist damit zahlenmässig hinter den USA und der Türkei drittgrösste Nato-Armee – vor Grossbritannien.
Die Schweiz als «interessante Ergänzung»
Auch die Schweiz ist am Sicherheitsforum vertreten – mit Markus Mäder, Staatssekretär für Sicherheitspolitik und Armeechef Thomas Süssli. Sie blicken neidisch auf die polnische Armee, die mit 500'000 Berufs- und Milizsoldaten fast so viel militärisches Personal zählt wie die Schweiz einst mit der Armee 61 – mit 600'000 Milizsoldaten.
Mäder tritt auf einem hochkarätigen Podium auf, unter anderem mit Keith Kellog, US-Sondergesandter in der Ukraine. Der Moderator führt die Schweiz als «interessante Ergänzung» ein: «Historisch gehört das Land zur westlichen Welt, es verhält sich aber neutral.»
Mäder nutzt die Gelegenheit, die Situation der Schweiz zu erklären. Sie sei weder Mitglied der Nato und der EU und wirke damit auf den ersten Blick ganz anders, sagt er. «Schaut man aber genauer hin, erkannt man: So verschieden sind wir nicht. Wir sehen uns als integralen Teil Europas, teilen dieselben Werte, haben die gleichen Sicherheitsinteressen.» Aber natürlich halte sich die Schweiz an das historisch gewachsene Neutralitätsrecht, das Teil ihrer Identität sei.
Die lettische Aussenministerin Baiba Braze kann sich einen augenzwinkernden Seitenhieb nicht verkneifen. «Eines Tages», sagt sie, «würde ich gerne auch Schweizer F-35 sehen, die russische Bedrohungen bekämpfen.» Darauf wird sie wohl länger warten müssen. Auch wenn Mäder gegenüber CH Media betont, die Schweiz suche im Rahmen ihrer politischen und rechtlichen Möglichkeiten eine engere sicherheitspolitische Kooperation «mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern, inklusive Nato und EU».
Mäder hat in Warschau «aller Schwierigkeiten zum Trotz» viel Zuversicht gespürt, «dass Europa die russische Aggression stoppen kann». Das sei nicht nur Zweckoptimismus, betont er. «Viele glauben, dass das zu schaffen ist.» Gleichzeitig sieht er aber wie andere Referenten ein strategisches Dilemma von Europa. «Russland stichelt, provoziert, verletzt Grenzen – und Europa reagiert im Einzelsprung», analysiert er. Sein Fazit: «Es fehlt eine klare Strategie, wie man gegen Russland vorgehen soll, wie man von der Reaktion in die Aktion kommt.»
Journalist Marek Traczyk hat seine 11-jährige Tochter Victoria zu beruhigen versucht. Es werde nichts geschehen, sie müssten nirgendwohin flüchten. Er betont aber: «Ich werde nochmals mit ihr sprechen – um ihr all das in Ruhe zu erklären.» (aargauerzeitung.ch)