Es ist Nacht, die Gleise sind trocken und die Temperatur beträgt elf Grad. Am 25. April 2015 rauscht ein Güterzug durch die Dunkelheit von Basel nach Lausanne. Er besteht aus 22 Wagen, wovon 14 mit gefährlichen Chemikalien beladen sind. Kurz vor dem Ziel, in Daillens VD, spürt der Lokführer plötzlich, wie seine Maschine nach hinten gezogen wird. Er klappt die Rückspiegel aus und sieht Funken unter einem Wagen am Zugende hervorschiessen.
Er löst eine Vollbremsung aus. Dann steigt er aus und schreitet seinen Zug ab. Dabei stellt er fest, dass nur noch 17 Wagen angehängt sind. Die restlichen fünf Wagen liegen 600 Meter weiter hinten. 25 Tonnen Schwefelsäure und 3000 Liter Natronlauge sind ausgelaufen. Beide Chemikalien sind ätzend.
Die Unfallursache finden die Ermittler später am Wagen Nummer 20. Hier haben sich Teile eines Laufwerks gelöst. Als der Zug über eine Weiche ratterte, entgleiste er. Der Unfall in Daillens weist Parallelen zur Entgleisung des Güterzugs im Gotthardbasistunnel auf. Hier vermuten die Ermittler einen Radbruch als Ursache. Als der beschädigte Zug über eine Weiche schlitterte, wurde er auseinandergerissen.
Bei einem Radbruch bilden sich vorher oft feine Risse, die in genauen Kontrollen entdeckt werden könnten. Der Unfallbericht zu Daillens zeigt auf, wie solche Kontrollen funktionieren – beziehungsweise wie sie nicht funktionieren.
Der Unfall im Jahr 2015 geht auf eine miserabel durchgeführte Wartung im Jahr 2011 zurück. Bei diesen Arbeiten wurde eine Sicherungsscheibe nicht korrekt gesichert. In einem schleichenden Prozess lösten sich danach Teile des Achslagergehäuses, bis dieses in der Unfallnacht schliesslich auseinanderfiel.
Der Unfallwagen von Daillens gehörte der Hamburger Firma VTG. Die Werkstattarbeiten liess sie von der Firma Kaminski Waggonbau im deutschen Hameln ausführen. Diese bezeichnet sich als «führendes Unternehmen der Bahnzulieferindustrie mit Sinn für Innovationen».
Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) inspizierte die Werkhallen nach dem Unfall. Der Befund ist alarmierend. Die Arbeiten würden mangelhaft ausgeführt, und die Qualitätskontrollen bei der Wartung von Achslagergehäusen seien ungenügend.
Warum hat das vorher niemand gemerkt? Die Wagenhalter werden gemäss einer EU-Verordnung jährlich überprüft. Diese Zertifizierungen werden allerdings nicht so gut wie möglich, sondern so günstig wie möglich gemacht. Denn die Zertifizierungsstellen stehen miteinander im Wettbewerb. Die Sust schreibt in ihrem Unfallbericht: «Ein Anbieter ist daran interessiert, dass die Kosten einer Zertifizierung nicht über denjenigen der Konkurrenz liegen, da er sonst den Auftrag nicht erhält.» Deshalb werde nur das Allernötigste gemacht.
Im Fall von Daillens wurde nur die Bürokratie der Wagenhalterin jährlich überprüft. Zertifiziert wurde, ob die Abläufe stimmten. Damit lassen sich Probleme später zwar besser zurückverfolgen. Technische Probleme lassen sich damit aber nicht erkennen.
Die Wartungsarbeiten wurden von der Zertifizierungsstelle nicht selber angeschaut. Sie stützte sich dabei auf ein älteres Gutachten des Verbands der Güterwagenhalter. Dieser hat die von der Schweizer Untersuchungsstelle in der Werkstatt festgestellten Mängel übersehen. Die Ermittler verwundert das nicht. Denn der Verband sei nicht unabhängig. Er wird von den Wagenhaltern verwaltet. Sie sind daran interessiert, dass ihre Flotte möglichst günstig gewartet wird.
Das Fazit der Sicherheitsuntersuchungsstelle lautete: Im Fall Daillens liefen die Kontrollen und Zertifizierungen zwar regelkonform ab. Dabei zeigte sich aber, dass diese Regeln das Problem sind. «Das derzeitige Zertifizierungssystem funktioniert nach wirtschaftlichen Aspekten, die häufig zulasten der Sicherheit gehen», heisst es im Unfallbericht.
Die Güterzüge, die durch die Schweiz fahren, erfüllen die Schweizer Qualitätsansprüche nicht. Das Problem ist bekannt. Das Bundesamt für Verkehr kritisierte 2019, dass das «angestrebte Sicherheitsniveau» nicht erreicht werde, wie CH Media berichtete. Der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel forderte deshalb, ebenfalls gegenüber CH Media, eine ISO-Zertifizierung für Güterzüge.
Einfach umsetzen lässt sich dies allerdings nicht. Denn die Schweiz kann die Sicherheit der Güterzüge nicht selber definieren. Da diese europaweit unterwegs sind, machen nationale Regelungen wenig Sinn. Die Sust hat in ihrem Schlussbericht deshalb gefordert, dass die entsprechende EU-Verordnung verschärft wird. Zertifizierungen und Audits der Werkstätten sollen nicht mehr an einen Verband delegiert werden können, sondern von nationalen Aufsichtsbehörden verantwortet werden.
Doch diese Sicherheitsempfehlung ist seither nicht umgesetzt worden. Das Bundesamt für Verkehr hat die Vorschläge zwar nach Brüssel übermittelt, aber die EU ist nicht darauf eingegangen. Sie will die Zertifizierung weiterhin dem freien Markt überlassen und diesen Grundsatz nicht wie von der Schweiz verlangt aufgeben.
Das Bundesamt für Verkehr hat deshalb reagiert und eine «regelmässige Begleitung der Schweizer Zertifizierungsstellen aufgebaut», wie es auf Anfrage mitteilt. Die Sicherheitsempfehlung der Sust wird damit allerdings nur teilweise umgesetzt.
Die Sicherheitsprobleme könnten SBB Cargo teuer zu stehen kommen. Das Bahnunternehmen haftet grundsätzlich für Unfälle, auch wenn es selber alles richtig gemacht hat. Die Schäden im Fall Daillens hat die Bahn gemäss der Sust nicht erkennen können. Ein Zivilverfahren, in dem SBB Cargo die Kosten nach Deutschland abwälzen will, ist immer noch hängig.
Die Geschichte zeigt: Je schlimmer ein Bahnunfall ist, desto grösser sind die danach ergriffenen Sicherheitsmassnahmen. Der Unfall in Daillens war nur von nationaler Bedeutung. Der Unfall im Gotthard hingegen hat nun ein europäisches Ausmass. Deshalb ist die Chance grösser, dass in der Folge auch das europäische Regelwerk verschärft werden könnte.
Schade, dass das System Bahn dadurch teurer würde.
Gestern in der Tagesschau erwähnten Speditionsfirmen, dass sie bereits heute wieder vermehrt auf LKW‘s setzen, da die Bahn zu teuer sei.
Bedenklich.
Die LKW-Lobby in FDP&SVP möchten ja auch am liebsten die Prüfzentren der Strassenverkehrsämter privatisieren. Hoffen wohl, dann mit den gleichen Rosthaufen herumfahren zu können wie die EU-Konkurrenz.