13'000 Jugendliche entscheiden sich in der Schweiz jedes Jahr für eine Lehre zur Kauffrau oder Kaufmann. Sie lernen die Grundlagen des Berufs in Banken, bei Versicherungen oder bei Reisebüros. Das «KV» ist beliebt – und mit Abstand die am meisten gewählte Berufslehre in der Schweiz.
2022 soll die Lehre komplett umgekrempelt werden. Folgend einige Auszüge aus der Reform:
Die Reform treibt die Schweizerische Konferenz der Kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB) voran. Die SKKAB ist verantwortlich für die Qualität und die Entwicklung der kaufmännischen Grundbildung. Seit 2018 arbeitet die Konferenz an der Reform. Nun liegt der Ball beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI).
Bis zum 20. April sammelt das SBFI Rückmeldungen zur Reform. Bis vor einer Woche zählte das SBFI 20 Stellungnahmen, die Erfahrung zeige aber, dass die meisten Rückmeldungen «in den letzten Tagen der Anhörung eintreffen», so eine Sprecherin.
Die Rückmeldungen sind nicht alle positiv. Im Gegenteil: Es regt sich Widerstand an vielen Fronten. «Ich habe Angst, dass die Jugendlichen einen hohen Preis für dieses Experiment bezahlen», so eine Fachfrau der betrieblichen Ausbildung. Sie will anonym bleiben, weil sie sich vor Konsequenzen fürchtet.
«Die Reform geht nicht auf die Bedürfnisse der Jugendlichen ein. Sie ist ein Bildungskonzept für Erwachsene. Eine 16-jährige Lernende kann wenig mit selbstorganisiertem Lernen und Selbstreflexion anfangen», kritisiert die Fachfrau. «Lernende brauchen Anleitung und Begleitung in der Arbeitswelt.» Anstatt produktiv zu arbeiten, müssten Lernende und Berufsbildende stundenlang reflektieren und dokumentieren, fügt die Fachfrau an. «Das ist ein Lehrstellen-Killer.»
Sie ist mit der Kritik nicht alleine. Auch die Lehrpersonenkonferenz Berufsfachschulen Kanton Zürich (LKB) sind mit dem Bildungsplan unzufrieden. Die Leistungsziele seien zum Teil sehr allgemein formuliert. «Die Lernenden sollen recherchieren, reflektieren und kritisieren. Um diesen Forderungen gerecht zu werden, ist ein fundiertes Grundlagenwissen zwingend», schreibt die LKB in einer Stellungnahme, die watson vorliegt. «Im Bildungsplan ist jedoch nicht ersichtlich, wann und in welchem Umfang Grundlagenwissen vermittelt wird.»
LKB-Präsidentin Denise Sorba führt aus: «Die KV-Lehre muss reformiert werden und sich weiterentwickeln. Bei der geplanten Reform bleibt aber kein Stein auf dem anderen. Weil die Veränderungen so umfassend sind, sehen viele Berufslehrkräfte in eine ungewisse Zukunft.»
Der Aargauer Regierungsrat Alex Hürzeler (SVP) bläst ins gleiche Horn: Handlungskompetenzen seien unbestritten wichtig, so der Vorsteher des Bildungsdepartements. Dass Schulfächer Handlungskompetenzen weichen müssten, schwäche jedoch den Erwerb von wichtigen Fachkompetenzen, so Hürzeler weiter und konkretisiert: «Ein Treuhandunternehmen will wissen, ob seine Lernenden über ausreichende Kenntnisse im Rechnungswesen verfügen. Das ist der Kern einer kaufmännischen Ausbildung.» Weil aber Fächer wie Finanz- und Rechnungswesen nicht mehr zwingend belegt werden müssen, ist dieses Wissen nicht gesichert.
Auch die Idee, eine zweite Fremdsprache nur als Wahlpflichtfach anzubieten, sei für die KV-Ausbildung «nicht haltbar», so der Regierungsrat weiter. Weil die Kantone die Pflichtsprache bestimmen, könnten sich Zürich und Aargau, die weit weg von der Westschweiz sind, für Englisch entscheiden. Viele Lernende würden dann gar kein Französisch mehr büffeln. «So würde Französisch auch an den Sekundarschulen an Bedeutung verlieren», sagte SP-Nationalrätin Martina Munz gegenüber der «NZZ am Sonntag».
Mit nur einer Sprache als Pflichtfach entsteht ein weiteres Problem: Die Anschlussfähigkeit ist nicht immer gewährleistet. «Mit nur einer Fremdsprache und ohne Kenntnisse im Finanz- und Rechnungswesen fehlen den Lernenden die Voraussetzungen zum erfolgreichen Bestehen einer Berufsmaturität», kritisiert die LKB in der Stellungnahme an das SBFI. Ohne die Berufsmatur bleibt den Lernenden der Zugang zu einer Fachhochschule verwehrt. «Der Leitsatz ‹kein Abschluss ohne Anschluss› wird hier über den Haufen geworfen», kritisiert auch die Fachfrau der betrieblichen Ausbildung.
Nicht nur die Inhalte der Reform, sondern auch die Art und Weise, wie darüber kommuniziert wird, sorgt hinter den Kulissen für rote Köpfe. Bereits im Januar 2020 schrieb der «Tages-Anzeiger», dass mehreren Zürcher KV-Schulen und deren Lehrkräfte ein Maulkorb verpasst wurde. Man durfte sich nicht kritisch zu «Kaufleute 2022» äussern. Ein Grund, warum auch die Fachfrau für betriebliche Ausbildung nicht mit Namen genannt werden will: «Viele Branchenvertreter und Lehrpersonen fürchten Konsequenzen, wenn sie sich öffentlich äussern.»
Fragt man bei der Wirtschaftsschule KV Zürich auf offiziellem Weg nach einem Feedback zur KV-Reform heisst es dort: Man unterstütze das Vorhaben, könne aber die gestellten Fragen nicht beantworten. Ein Statement sei ohne Einverständnis «diverser übergeordneter Stellen undenkbar». In einem internen Dokument, das watson vorliegt, spart die Zürcher Wirtschaftsschule aber nicht mit Kritik. Man mache sich Sorgen darüber, dass die Lehrbetriebe nach wie vor «nicht vertieft über KV 2022 informiert wurden» und dass «trotz Corona und vielen ungeklärten Fragen» nach wie vor am Einführungszeitpunkt August 2022 festgehalten werde.
Auch für den Aargauer Regierungsrat Hürzeler ist die Einführung der Reform auf das Schuljahr 2022 «zu ambitiös», wie er sagt. «Eine derartig grundlegende Reform in einem so relevanten Berufsfeld braucht eine deutlich breitere und vertiefte Diskussion.»
Auf die Kritikpunkte reagiert die Treiberin hinter der Reform, die Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB), gelassen. Deren Geschäftsleiter Roland Hohl weiss um die umstrittenen Punkte. «Weil kurz vor Abschluss der Anhörung stehen, befassen sich viele verschiedene Personen mit unterschiedlichem Wissensstand mit der Reform», so Hohl. Besonders den Lehrpersonen und Berufsfachschulen stünden grosse Veränderungen bevor. Das sei mit Befürchtungen verbunden, die man aber ernst nehme. Inzwischen seien bereits Weiterbildungsmassnahmen und Umsetzungshilfen angelaufen.
Zum Streitpunkt Fremdsprachen sagt Hohl: «Diese Diskussion über die Fremdsprachen sorgte bereits beim Lehrplan21 für grosse Wellen.» Man habe aber bereits reagiert und die Verbundpartner der Berufsbildung seien daran, eine «tragfähige und innovative Lösung» zu finden.
Vom Vorwurf des Maulkorbs und der intransparenten Kommunikation will Hohl nichts wissen. Er räumt aber ein, dass man anfänglich wohl zu defensiv über die Reform kommuniziert habe, auch weil vieles noch unklar war. «Unterdessen informieren wir im Hinblick auf die Umsetzung monatlich über den Stand der Entwicklung.»
Für den SKKAB-Geschäftsleiter bringt «Kaufleute 2022» die längst nötigen Anpassungen. «Die kaufmännische Berufslehre soll noch konsequenter auf die Berufspraxis ausgerichtet werden. Das machen wir mit dieser Reform.» Unterstützung erhält er dabei von der Schweizerischen Bankiervereinigung, die ebenfalls Berufsleute ausbildet. «Die Reform trägt dazu bei, dass die Bankgrundbildung attraktiv, modern und qualitativ hochwertig bleibt», schreibt eine Sprecherin auf Anfrage.
Und auch Michael Kraft, Leiter Bildung des Kaufmännischen Verbandes Schweiz, der ebenfalls in den Reformprozess involviert war, ist ein «grosser Fan» der geplanten Umstellungen. Kraft sieht aber auch die Schwierigkeiten bei einem so grossen Projekt: «Es sind viele verschiedene Akteure betroffen. Von Lehrpersonen zu den Ausbildenden und vom kleinen Reisebüro bis zur Grossbank.» Man müsse die zahlreichen Rückmeldungen ernst nehmen und bei Kritik genau hinhören.
Bis zum 20. April dauert die Anhörung zu «Kaufleute 2022» noch. Danach sitzen die am Revisionsprojekt beteiligten Partner wieder zusammen und brüten über den Rückmeldungen. Sind diese gesichtet, wird über die nächsten Schritte entschieden.
* Im E- und M-Profil belegen die Lernenden Englisch und Französisch. Nur das B-Profil beschränkt sich auf Englisch.
Das ist in etwa so wie ein Metzger Fleischfachkunde im Freifach wählen kann und sonst Soja ernten geht.
Ich wechselte dann ziemlich bald in die Informatik und fügte später ein berufsbegleitendes Studium an, aber Kollegen, die noch im kaufmännischen Bereich tätig sind, sagen dass bereits heute die Ausbildung zu verwässert sei. Kann ja nur gut kommen, wenn die Anforderungen weiter gesenkt werden... 🤔