Immer mehr Menschen huschen an jenem Morgen kurz vor 9 Uhr durch den unscheinbaren Eingang an der Zahnradstrasse 22. Im zweiten Stock, dort, wo einst das Orchester der Tonhalle probte, hat sich Intrinsic niedergelassen.
Das «Unternehmen für angewandte Bildungsrevolution», wie es sich selbst bezeichnet, hat zusammen mit dem Institut Unterstrass das Begleitprogramm Plan L zusammengestellt. Das L steht für Lehrpersonenmangel. Und genau diesen gilt es am heutigen Tag zu bekämpfen.
Angereist sind etwas mehr als 40 Personen. Im Eingang versammeln sich mehr Frauen als Männer. Die meisten sind über 30 Jahre alt. Nicht so Helena*, die gelernte Velomechanikerin. Die 20-Jährige gehört zu den jüngsten Teilnehmenden des Programms.
Kommenden Montag steht sie keineswegs in einer Werkstatt. Sondern vor einer zweiten Primarklasse in einer Gemeinde im Zürcher Oberland. Es ist Helenas erster Einsatz als Klassenlehrerin.
Genauso der 39-jährige Mateusz*. Ursprünglich aus Krakau, lebt der Pole seit 9,5 Jahren in der Schweiz. Als Bike- und Skilehrer hatte er viel mit Kindern zu tun. Und merkte, wie viel Spass ihm das machte. «Lehrer ist meine Berufung», sagt Mateusz. Am Montag unterrichtet er eine erste Primarklasse.
Sie sei die Zahnfee, sagt Franziska* schmunzelnd. Weil sich ihr Job als diplomierte Pflegefachfrau und die Schichtarbeit nicht mit ihrer Familie vereinbaren liess, bildete sie sich weiter. Seither unterrichtet die 43-Jährige Einzellektionen zu gesundheitlichen Themen – unter anderem zum Thema Zahnpflege. Und merkte, dass sie dabei aufblühte. Kommende Woche wird Franziska in zwei Zürcher Seegemeinden als Springerin eingesetzt. Fehlt eine Lehrperson, übernimmt Franziska den Unterricht.
Franziska, Mateusz und Helena haben keine pädagogische Ausbildung. Sind «diplomlos», wie es vielerorts zu lesen war. Ihnen gab die Zürcher Bildungsdirektion Mitte April grünes Licht. Der Lehrpersonenmangel war so akut, dass Bildungsdirektorin Silvia Steiner keinen anderen Ausweg sah. Alle Schulgemeinden im Kanton Zürich dürfen seither auch Personen ohne Lehrdiplom anstellen.
Die drei Neueinsteigerinnen witterten ihre Chance. Und erhielten sie in Form eines einjährigen Anstellungsvertrags. In wenigen Tagen unterrichten sie ihre erste Schulklasse. Der Plan L soll ihnen dabei helfen.
«Das Begleitprogramm soll ein Anker sein», sagt Christine König, Co-Geschäftsleiterin von Intrinsic. Entstanden sei der Plan L ziemlich kurzfristig. Als der Entscheid der Zürcher Bildungsdirektion im Frühling gefallen sei, sei man in die Konzeption und Planung gegangen, erzählt König. Wenige Monate später stand das Programm. «Wir wollten Franziska, Mateusz und Helena und alle anderen auffangen und begleiten. Ihnen ermöglichen, sich untereinander zu vernetzen.»
Treffen werden sich die Laien-Lehrpersonen alle zwei Wochen am Mittwochnachmittag. In der Zeit dazwischen werden sie von erfahrenen Lehrpersonen begleitet und treffen sich für Intervisions-Formate.
Gerechnet hat König mit etwa 20 Anmeldungen. Doch es kamen mehr als doppelt so viele. Bis zum Schluss hätten sich Interessierte gemeldet. Aus organisatorischen Gründen wurde die Betreuung der zukünftigen Kindergärtnerinnen deshalb ans Institut Unterstrass verlegt. Primar- und Sekundarlehrpersonen werden von Intrinsic begleitet.
Bezahlt wird das Angebot von den Schulgemeinden. «Uns war wichtig, dass nicht die Privatpersonen die Kosten tragen müssen», sagt König. Diese nehmen ohnehin bereits eine Einkommenseinbusse in Kauf: Wer ohne Diplom arbeitet, erhält 20 Prozent weniger Lohn.
Zurück an die Zahnradstrasse 22: Kurz vor Schulstart werden die Teilnehmenden nun zwei Tage lang gebrieft. Schul- und Familiencoach Zilia Späni spricht über den Umgang mit schwierigen Kindern und Eltern. Schulleiterin Georgina Bachmann geht auf einem Flipchart durch das Schuljahr. Beide geben sie praktische Tipps. «Gebt keine privaten Telefonnummern raus» oder «macht Elternabende nur zusammen mit der Schulleitung», rät Bachmann.
Über Papierblöcke und Laptops gebeugt, machen sich die Teilnehmenden seitenweise Notizen. Sie stellen eifrig Fragen. «Darf man Schüler noch vor die Tür stellen?», will ein angehender Sekundarlehrer wissen. «Wie reagiere ich, wenn ein Kind ein anderes vom Spielturm stösst?», «Wie richte ich das Schulzimmer ein?» oder «Was sind gute Hausaufgaben?», fragen andere.
Vor die Kamera oder mit ihrem ganzen Namen hinstehen wollen die wenigsten. Sie haben die kritischen Berichte gelesen. Sie wissen um die Brisanz der Laien-Lehrpersonen. «Ohne Diplom als Klassenlehrperson unterrichten, will ich nicht», sagt Franziska, die Zahnfee. Darum helfe sie vorerst als Springerin aus. «Aber wir sind alle unglaublich motiviert. Und wir kommen nicht ungebildet. Wir bringen einen grossen Rucksack an Tools mit.»
Natürlich sei sie sehr aufgeregt, sagt die 20-jährige Helena. «Am meisten Respekt habe ich vor den Elterngesprächen.» Aber sie weiss auch: Die Schulleitung hat sich für sie entschieden, gibt ihr Rückendeckung, wenn nicht alles sofort klappt.
Georgina Bachmann, die Schulleiterin, die während ihres Vortrags viele Fragen beantwortet, sagt am Schluss in die Runde: «Wir sind einfach froh, dass ihr so mutig seid. Denn wir wissen, was es bedeutet, eine Klasse ohne Lehrperson zu haben.»
So weit wird es am Montag nach den Sommerferien in den Zürcher Schulgemeinden an den meisten Orten nicht kommen. Dafür sorgen Helena, Franziska und Mateusz und mit ihnen etwas mehr als 300 weitere Lehrpersonen, die ohne Diplom starten.
Was im nächsten Sommer passiert, wissen sie nicht. Der Kanton Zürich möchte den Laien-Lehrpersonen, die ein Jahr durchhalten, eine Perspektive bieten. Gut möglich, dass der Zugang zur Lehrdiplom-Ausbildung erleichtert wird. Bis Ende dieses Jahres möchte die Zürcher Bildungsdirektion die genauen Modalitäten ausarbeiten, schreibt der «Tages-Anzeiger».
Für die drei Neueinsteigerinnen spielt das aktuell kaum eine Rolle. Was zählt, ist der kommende Montag. Wie das Schulzimmer eingerichtet wird. Und ob sie sich als Lehrpersonen behaupten können.
*Nachname der Redaktion bekannt
Noch ein knappes Jahrzehnt so weiter und das Ziel ist erreicht: Gute Schulbildung gibts nur noch in wohlhabenden Gemeinden oder gleich bei der Privatschule, der Pöbel soll zusehen wo er bleibt, irgendjemand muss ja die Niedriglohnjobs machen.
In vielen Berufen wird erwartet, dass Kandidat*innen möglichst jung, diplomiert sind und viel Berufserfahrung mitbringen.
Bei Lehrer reicht mittlerweile eine Ausbildung als Skilehrer*in oder Velomechaniker*in aus, um Kinder unterrichten zu können.
Nicht unbegründet braucht es für einen Lehrberuf Ausbildung, Wissen, Empathie und Erfahrung.
Ich habe erlebt, wie ausgebildete und engagierte Lehrer*innen ausgebrannt sind.
Das kommt nicht gut, auch wenn sich viele das wünschen.