Alles neu macht der August: Für Tausende Kinder beginnt mit dem Start in den Kindergarten ein neuer Lebensabschnitt. Im Kanton Aargau bricht das neue Schuljahr bereits am Montag an, in den anderen mit Ausnahme des Tessins (30. August) eine oder zwei Wochen später.
In den meisten Kantonen ist der Eintritt ins Bildungssystem ab vier Jahren obligatorisch. Als Stichtag hat die Mehrheit der Kantone den 31. Juli bestimmt. Damit sind die jüngsten Kinder beim Kindergartenstart vier Jahre und wenige Wochen alt, die ältesten 5-jährig. Die Altersspanne von fast 12 Monaten innerhalb eines Schuljahrgangs ist relevant. Biologisch ältere Kinder sind in der Entwicklung weiter und sind erfolgreicher als die jüngeren Gspänli. Dieses Phänomen ist in der internationalen Fachliteratur gut dokumentiert. Der Geburtstag ist also ein wesentlicher Faktor für den erfolgreichen Verlauf der Bildungskarriere.
Ein Forschungsteam um Bildungsökonom Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) untersucht derzeit die Ergebnisse der sogenannten «Überprüfung der Grundkompetenzen», welche die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren im Mai 2019 veröffentlichte.
23'000 Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit lösten Mathematikaufgaben, gleich viele Sechstklässler taten dies in der Muttersprache und der ersten Fremdsprache. Wolter verrät CH Media ein Zwischenfazit zum Test bei den Grundkompetenzen: «Wir können den Alterseffekt auch für die Schweiz belegen.» Für die noch unveröffentlichte Studie wurden nur die Leistungen von regulär eingeschulten Schülern verglichen mit einem Altersunterschied von ergo maximal 12 Monaten.
Wolters Resultate bergen bildungspolitische Brisanz. «Beobachtungen zeigen, zum Beispiel in Australien, dass akademisch gebildete Eltern ihre Kinder absichtlich ein Jahr später einschulen, um ihnen einen relativen Vorteil zu verschaffen», sagt Wolter. Der Bildungsökonom, der an der Universität Bern als Professor lehrt, erkennt Indizien, dass auch hierzulande manche Eltern ihre Sprösslinge taktisch zu spät in die Schule schicken. In diesem Fall erhöht sich der Altersunterschied zwischen dem ältesten und jüngsten Kind in einer Klasse auf zwei Jahre. «Das ist bildungspolitisch heikel. Die richtig eingeschulten Kinder haben einen Nachteil, weil sie in ihren Leistungen mit den älteren Schülern verglichen werden», sagt Wolter. «Es ist, als müsste ein 7-Jähriger im Schnelllauf gegen einen 9-Jährigen antreten.»
Wegweisend kann der Altersunterschied etwa bei der Frage zum Übertritt ins Gymnasium sein. In der Tat ist die ältere Hälfte eines Schuljahrgang in den Mittelschulen um zehn Prozent übervertreten, wie die Aargauer Zeitung bereits vor vier Jahren enthüllte. Die Anzeichen verdichten sich, dass die Zahl der verspäteten Schuleintritte steigt. Im Kanton Zürich etwa besuchten 2020 11.1 Prozent der Kinder die 1. Primarklasse verzögert – 2016 waren es 7.5 Prozent.
Der SKBF-Bildungsbericht aus dem Jahr 2018 offenbart zudem frappante kantonale Unterschiede. So werden in Luzern knapp 40 Prozent der Kinder zu spät eingeschult, im Kanton Aargau sind es knapp 26, im Kanton Basel-Stadt hingegen bloss gut 1 Prozent. Für das Zuwarten mit der Einschulung gibt objektive Gründe wie Schwierigkeiten mit der Ortssprache bei Kindern mit Migrationshintergrund. Sie sind bei den zu spät Eingeschulten denn auch übervertreten.
Wolter sagt: «Ich plädiere nicht dafür, unabhängig vom Entwicklungsstand stur den Stichtag anzuwenden.» Doch allein mit dem Entwicklungsstand der Kinder lassen sich für ihn die riesigen kantonalen Differenzen nicht erklären.
Wolter vermutet, dass politische und institutionelle Gründe hinter den Unterschieden stecken.
Im Kanton Luzern liefern die Rahmenbedingungen einen Erklärungsansatz für die hohe Anzahl verspäteter Schuleintritte. Dort ist der Besuch des ersten Kindergartenjahres freiwillig. «Gewisse Schulleitungen haben auch schon zurückgemeldet, dass gewisse Eltern ihre Kinder spät in den Kindergarten schicken», sagt Aldo Magno, Leiter der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern. Dadurch verzögere sich auch der Übertritt in die erste Primarklasse. Magno weiter: «Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie sich dadurch eine einfachere Schulkarriere für ihr Kind erhoffen.»
Die Regeln für eine Verschiebung der Einschulung sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich. «Grundsätzlich stellen wir fest: Je mehr Mitsprache die Eltern haben, desto höher ist tendenziell der Anteil zu spät eingeschulter Kinder», sagt Wolter. Eine Umfrage, die er und sein Forscherteam letztes Jahr bei 6000 Personen durchführten, zeigt: 60 Prozent der Eltern wollen, dass der Entscheid über die Einschulung bei ihnen anstatt bei den Behörden liegt.
Wolter spricht sich dezidiert gegen diesen Wunsch aus. «Sonst drohen zu viele ungerechtfertigte zu späte Einschulungen. Das hat negative Auswirkungen auf die Chancengerechtigkeit.» Wolter plädiert dafür, den Einschulungsentscheid generell Profis wie Schulpsychologen zu überlassen. «Sie kennen mehr Kinder als Eltern und haben deshalb auch bessere Vergleichsmöglichkeiten.» (saw/ch media)