Der «Orden des Sonnentempels» wird 1984 in Saconnex-d'Arve in der Region Genf von zwei Männern gegründet: Joseph Di Mambro und Luc Jouret. Die beiden Gurus bezeichnen sich als spirituelle Führer, die davon überzeugt sind, dass ihre Anhänger auf eine göttliche Mission von aussergewöhnlichem Ausmass vorbereitet werden müssen.
Joseph Di Mambro, ein ehemaliger Juwelier, der wegen Betrugs sechs Monate im Gefängnis sass und sich für Esoterik begeistert, ist der Kopf der Gruppe, während Luc Jouret, ein charismatischer belgischer Homöopath, das attraktive Gesicht der Gruppe ist. Gemeinsam lassen sie eine Organisation entstehen, die Sonnentempler, die Alchemie und New-Age-Wahnvorstellungen miteinander verbindet.
Die Sekte behauptet, von den Idealen der mittelalterlichen Templer inspiriert zu sein, und hat das ultimative Ziel, ihre Mitglieder zur «Transmutation» zu führen: ein Übergang vom irdischen Leben zu einer höheren Existenz. Das Leben auf der Erde ist für diese Anhänger nur eine Etappe; ihre wahre Bestimmung ist Sirius, der mystische Planet, der von den Gurus versprochen wird. Diese Rede findet in einigen spirituellen Kreisen Europas und Kanadas Anklang, die auf der Suche nach einer Transzendenz sind, die ihnen die traditionellen Religionen nicht mehr bieten.
Um seine Autorität zu festigen, zögert Di Mambro nicht, zu lügen und zu betrügen. Er benutzt Dominique, eine junge Drogenabhängige, die angeblich von Zuhältern verfolgt wird, um sie zur Leihmutter des «kosmischen Kindes» durch theogamische Empfängnis zu machen: In einer «Zeremonie» berührt der Guru dazu mit einem Schwert den Bauch der jungen Frau, woraufhin «ein Blitz erscheint »– und schon ist sie schwanger. In Wirklichkeit ist Dominique die Geliebte von Di Mambro. Die Geschichte der Sekte ist von Episoden wie dieser geprägt.
Wie konnten gebildete, gut situierte Männer und Frauen in diese krankhafte Spirale geraten? Die von Di Mambro und Jouret entwickelten psychologischen Mechanismen sind schonungslos – und die Anhänger der Sekte werden nicht zufällig rekrutiert. Der Orden zielt auf Menschen ab, die auf der Suche nach metaphysische Antworten sind und die schon oft von den traditionellen Religionen enttäuscht wurden.
Nach und nach werden die Mitglieder in geheime Rituale eingeweiht, die immer esoterischer werden. Anspielungen auf Ritterorden, alchemistische Zeremonien, geheimnisvolle Symbole – nichts wird dem Zufall überlassen. Di Mambro manipuliert Lichtspiele, um seine Anhänger zu beeindrucken. Und das funktioniert auch: Die «Sonnentempler» sind von der Macht dieses Mannes überzeugt, der behauptet, sie in ein anderes Leben führen zu können.
Dabei wird von verschiedenen Erscheinungen berichtet: dem Heiligen Gral, dem Schwert Excalibur, den zwölf Aposteln und sogar von Christus selber.
Die pyramidenartige Struktur der Sekte ermöglicht es, die Mitglieder zu kontrollieren. Und: Jeder kann in der Hierarchie aufsteigen – je nach seiner Loyalität und den hohen Summen, die er oder sie an die Sekte zahlt.
Denn psychologische Manipulation geht Hand in Hand mit der finanziellen Ausbeutung: Di Mambro versklavt seine Anhänger nicht nur spirituell, sondern zieht ihnen auch ihre Ersparnisse ab, um den luxuriösen Lebensstil der Führung der Sonnentempler zu finanzieren. Psychologische Gewalt, Erpressung, Heilsversprechen – all das wird benutzt, um sicherzustellen, dass die Anhängerinnen und Anhänger blind folgen. Einige sagen allerdings, dass sie die Sekte verlassen wollen, da sie von der Führung ausspioniert und abgehört werden.
Der 4. und 5. Oktober 1994 markieren den Höhepunkt des Wahnsinns der Sekte. In der Nacht setzte Di Mambro einen makabren, von langer Hand geplanten Plan in Gang: Seiner Meinung nach geht die Menschheit ihrem Untergang entgegen und nur ein «Durchgang» in eine höhere Welt kann seine Schäfchen retten. Es ist eine Rede, die sich in einen Aufruf zum kollektiven Selbstmord verwandelt.
In Cheiry werden in einem ehemaligen Bauernhof, der in einen «Tempel» umgewandelt wurde, 23 Leichen gefunden, die in weisse Gewänder gekleidet und im Kreis angeordnet sind. Die Hände sind gefesselt, einige haben Plastiktüten über dem Kopf, andere weisen Schusswunden auf. Die Untersuchung wird zeigen, dass viele von ihnen ihren Tod nicht selbst gewählt haben. Sie wurden dazu gezwungen.
In Salvan im Wallis entdecken die Ermittler in abgelegenen Chalets, die dem Orden gehören, 25 weitere Leichen, die erschossen, unter Drogen gesetzt und dann verbrannt wurden. Auch die Leichen von Di Mambro und Jouret werden in einem abgebrannten Chalet im Walliser Dorf gefunden. Sie nahmen sich als Letzte das Leben. Und auch im kanadischen Quebec gibt es drei Leichen.
Die Inszenierung erscheint widerwärtig, fast theatralisch: Kerzen, Feuerkreuze und mystische Botschaften, die erklären, dass diese «Auserwählten» eine korrupte Welt verlassen haben, um in ein reines und spirituelles Jenseits zu gelangen. Für Di Mambro ist dies die ultimative Erfüllung seiner Mission, für seine Anhänger ein tragisches Ende, das Ergebnis einer gnadenlosen Manipulation.
Zwar sprechen die Behörden von Anfang an von «Massenselbstmord», aber die Realität ist komplexer. Die Familien lehnen diese These ab, doch einige Autopsien scheinen sie zu bestätigen: Mehrere Opfer wurden tatsächlich ermordet – kaltblütig hingerichtet. Di Mambro und Jouret trieben in ihrem apokalyptischen Wahn einige ihrer Anhänger in den Tod, während andere keine andere Wahl hatten, als gewaltsam in den Tod gezerrt zu werden.
Doch hier endete es nicht mit den Sonnentemplern: Nach den Massakern vom Oktober 1994 setzte sich die Tragödie fort. Im Dezember 1995 und im März 1997 kamen in Frankreich weitere 15 Mitglieder unter ebenso ritualisierten Umständen ums Leben. Insgesamt hat der Orden der Sonnentempler 74 Tote zu beklagen. Das jüngste Opfer ist ein drei Monate altes Baby, weitere Kinder sind in der Liste enthalten.
Dreissig Jahre später ist das Trauma noch immer da, viele Fragen sind für die Familien der Opfer nach wie vor unbeantwortet. Die Behörden haben ihre Überwachung von sektenartigen Bewegungen verstärkt, doch die Geschichte dieser Massenmorde bleibt ein erschreckendes Beispiel für die Macht von selbsternannten Gurus. Denn selbst bei gebildeten Menschen scheint das Versprechen einer spirituellen Erlösung zu verfangen.
Seit den ersten Toten im Jahr 1994 ist der Orden des Sonnentempels faszinierend und beängstigend zugleich. Bücher, Dokumentarfilme, Podcasts: Die Geschichten rund um diese Sekte interessieren noch immer – weil sie an das Unerklärliche rühren.
SRF, zum Beispiel, produzierte eine vierteilige Serie, in der die Geschehnisse aufgearbeitet werden.
Weshalb jedoch waren am Ende auch Di Mambro selbst, zusammen mit seiner Tochter, tot?
Weiss das jemand (noch)? Der Typ hat sein eigenes Geschwurbel doch nicht etwa selbst geglaubt?