Wenn von Sekten die Rede ist, beschleicht viele Menschen ein mulmiges Gefühl. Der Begriff weckt oft unheilvolle Assoziationen. Rituelle Gewalt kommt einem in den Sinn, Indoktrination, Unterdrückung, Abhängigkeit, Isolation in einer Parallelwelt, finanzielle Ausbeutung und vieles mehr.
Ältere Menschen sehen gar die Bilder von den Massenmorden oder -Suiziden. Sie erinnern sich an die Massaker der Volkstempler (Jim Jones in Guyana 1978 mit rund 900 Toten), an die Sonnentempler (Joe Di Mambro in der Schweiz, in Frankreich und in Kanada, 1994/95, mit 74 Toten), David Koresh, Waco (1993, 76 Tote), an Marshall Applewhite, Haeven‘s Gate, (1997, 39 Tote) und weitere.
Solche Sektendramen sind zum Glück selbst in radikalen und fanatisch religiösen und pseudoreligiösen Gruppen selten, doch sie prägen unser Bewusstsein. Eine Differenzierung ist deshalb wichtig.
Das wird mir immer wieder bewusst, wenn ich Interviewanfragen bekomme. «Welches ist die gefährlichste Sekte?», wollen viele Journalistinnen und Journalisten wissen. Es ist schon beinahe eine Standardfrage. Manche wünschen sich gar ein Ranking. Dabei frage ich mich jeweils, wie gut sich meine Kolleginnen und Kollegen auf das Interview vorbereitet haben. Auch ohne vertiefte Erkenntnisse müsste ihnen klar geworden sein, dass es mehrere Bewertungskriterien gibt, die sich nicht gegeneinander abwägen lassen.
Konkret: Gewichte ich die sozialpolitischen Aspekte höher als die individuelle Abhängigkeit? Die Auswirkungen auf die Gesellschaft höher als das Leid der Angehörigen und Familien? Den Verlust der Freiheit der Sektenmitglieder stärker als ihre Wesensveränderung? Die finanzielle Abhängigkeit höher als den Rückzug aus der Gesellschaft? Und, und, und. Kommt hinzu, dass dies alles weiche Faktoren sind, die sich nicht messen lassen, ja schwer einzuschätzen sind.
Bei der Frage nach der Sektenhaftigkeit und den Gefahren gibt es für mich ein zentrales Kriterium: Was passiert mit einem Sektenmitglied auf der psychischen Ebene? Wie stark radikalisiert es sich, wie gross sind die Wesensveränderungen, wie stark ist der Einfluss auf das Alltagsverhalten, wie gross ist die Entfremdung vom ursprünglichen Leben, wie stark leidet die Gefühlswelt, wie gross ist der Anpassungsdruck usw.
Angesichts dieser Fragen wird klar, dass ein Ranking unmöglich ist. Der Hauptgrund: Die Auswirkungen der Indoktrination sind sehr individuell. Sie hängen vom Temperament, dem Charakter, dem Selbstwertgefühl, der Sozialisation, den Sehnsüchten, den Ängsten, den religiösen Bedürfnissen der Sektenmitglieder und vielem mehr ab.
Meine Erfahrungen zeigen denn auch, dass die Anhänger sehr unterschiedlich auf die Einflüsse und psychischen Manipulationen sektenhafter Gruppen reagieren.
Zwei Extrembeispiele machen das Phänomen deutlich. Eine junge Frau lässt sich von einer Freundin überreden, einen Gottesdienst einer moderaten Freikirche zu besuchen. Sie leidet nach der Trennung von ihrem Freund unter Liebeskummer und depressiven Verstimmungen. Sie wird in der Freikirche herzlich aufgenommen und vom Pastor in der Predigt persönlich begrüsst. Die warme Atmosphäre, die Hingabe der Gottesdienstbesucher, die fröhlichen Lieder, begleitet von einer tollen Band, holen sie rasch aus ihrem Tief.
Sie wird Mitglied der Freikirche, engagiert sich im Team, ist begeistert von der neuen Beziehung zu Jesus. Sie legt die Bibel wörtlich aus, wie es der Pastor auch tut. Doch mit der Zeit erlebt sie die dunkle Seite des frommen Glaubens. Sie entwickelt eine Angst vor der Endzeit, lebt asketisch, um nicht sündig und von Gott fallengelassen zu werden, sie befürchtet, das Seelenheil zu verlieren und am jüngsten Tag von Gott verdammt zu werden.
Die anfängliche Euphorie wandelt sich in eine Depression, das Leben wird für sie zur Hölle. Kurz: Die moderate Freikirche kann für die sehr sensible Frau zur religiösen Falle werden, die ihr Leben zerstört. Die Glaubensgemeinschaft wird für sie zur gefährlichen Sekte
Das Gegenbeispiel: Ein extravertierter Mann, der mit einem guten Selbstvertrauen ausgestattet ist, lässt sich von den grössenwahnsinnigen Ideen des Scientology-Gründers und Machtmenschen Ron Hubbard, der das ewige Leben verspricht, beeindrucken. Er wird Mitglied der Sekte und liest die Schriften seines Idols.
Schliesslich belegt er den ersten Kurs, der vergleichsweise günstig ist. Manche Auditoren oder «Lehrer» erlebt er als stümperhaft und beschwert sich bei den Führungskräften. Da er sehr bestimmt auftritt, wird er nicht wie üblich in die Schranken gewiesen. Er tut sich auch schwer mit den autoritären Regeln und Geboten. Ihn interessieren die Inhalte und nicht die Verhaltensnormen.
Er lässt sich auch nicht von den Ermahnungen und Disziplinierungsmassnahmen einschüchtern. Als die Kursgelder auf den höheren Stufen ins Unermessliche steigen, weigert er sich, sein Bankkonto zu plündern. Deshalb muss er sich einem entwürdigenden Sicherheitscheck unterziehen. Er weigert sich und wirft den Bettel hin.
Fazit: Für dieses Mitglied ist die an sich gefährlichere Sekte nicht zur Falle geworden. Er hat keinen psychischen Schaden davongetragen, sich nicht abhängig machen lassen, seine Freiheit nicht aufgegeben.
Aus der Perspektive eines Sektenmitglieds sind die Gefahren relativ und subjektiv. Da dies für mich ein wichtiger Bestandteil der Bewertung ist, machen Rankings keinen Sinn.
Trotzdem besteht kein Zweifel, dass die Gefahr, die für durchschnittliche Mitglieder von Scientology ausgeht, wesentlich höher ist als bei Freikirchen. Leider sind die Fälle, wie ich sie am Beispiel des Scientologen beschrieben habe, selten. Denn Personen mit seiner Persönlichkeitsstruktur lassen sich nicht oft missionieren.