«Das ist doch Murat Yakin, unser Nationaltrainer», raunen die einen. «Herr Yakin, viel Glück in Italien», rufen die anderen, als er am Freitag kurz nach 8 Uhr durch den Zug von Zürich Richtung Arth-Goldau schreitet und sich ein leeres Abteil sucht. «Danke», entgegnet Yakin. Er sagt nicht: «Danke, das können wir gut gebrauchen.»
Drei Stunden später wird er in Tenero sein Kader für die letzten beiden WM-Qualifikationsspiele in Italien und gegen Bulgarien bekannt geben. Die Ausgangslage: Die Schweiz braucht mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Sieg in Rom, um die Italiener von Platz 1 zu verdrängen und damit das Ticket für die WM in Katar zu lösen. Bei einem Remis müssten sie im letzten Spiel gegen Bulgarien um zwei Tore höher gewinnen als die Italiener in Nordirland.
Dem Zweitplatzierten bleibt die Möglichkeit, sich in zwei Barrage-Begegnungen für die WM zu qualifizieren. Yakin macht es sich bequem und sagt: «Sie kennen mich. Also wissen Sie, dass ich den schnellen und direkten Weg bevorzuge. Wir müssen mutig und nochmals mutig agieren und aggressiv stören.» Kurz: Die Schweiz spielt am Freitag in Rom auf Sieg.
Wir halten in Zug und wechseln in den Plaudermodus. Yakin erzählt, dass er sein Haus in den Bündner Bergen verkauft hat. Wir reden über unsere Kinder. Er verrät, dass er gegen seinen Freund und früheren Mitspieler Kubilay Türkyilmaz auf dem Golfplatz absolut chancenlos ist. Er schwärmt von der Fussballhalle in Oberengstringen, wo sein Bruder Hakan Fussball-Camps organisiert. Und dann erzählt er, dass er sich kürzlich mit Jogi Löw im Aargau zum Nachtessen getroffen hat und er sich am Mittwoch unter Vollnarkose einer Operation unterziehen musste.
Was ist passiert? Auf der letzten Nati-Reise nach Nordirland leidet Yakin auf dem Sinkflug Höllenqualen. Er kann den Druckausgleich nicht mehr machen. Der Kampf gegen die Tränen ist ein aussichtsloser. Er versucht es erst mit Medikamenten, später lässt er sich Röhrchen in die Verbindung zwischen Nase und Ohren einsetzen. Aber das alles hilft nichts. Also lässt er sich operieren. Dabei wird die Ohrtrompete ausgeweitet.
Arth-Goldau, wir steigen um. Und, wie gehts Ihnen jetzt? «Fragen Sie mich wieder, wenn wir am Donnerstag in Rom gelandet sind.» Es scheint, als sei die Sorge um den Druckausgleich die grösste in seinem Leben. Und das, obwohl er am Freitag mit der Nati beim Europameister antritt. Und das in jenem Stadion, das die Schweizer an der EM (0:3) wie geprügelte Hunde verlassen haben.
Yakins Gelassenheit ist ein Segen für das Nationalteam. Blenden wir zum Anfang zurück: Yakin, eben erst zum Nationaltrainer ernannt, muss in seinen ersten zwei Spielen auf Shaqiri, Embolo und Gavranovic verzichten. Dazu die Corona-Erkrankung bei Captain Xhaka. Und das gegen den Europameister Italien. Quasi eine «Mission impossible».
Doch Yakin hadert nicht, Yakin lamentiert nicht. Yakin zaubert. Beispiel: Fabian Frei. Oder wie ein Spieler aus der Versenkung zur Nati-Entdeckung wird. «Je schwieriger die Situation, desto gelassener und kreativer reagiere ich. Ich bin zur Mannschaft und habe gesagt: Xhaka liegt krank im Bett und Embolo, Shaqiri und Gavranovic reisen verletzt zu ihren Klubs. Das wars. Ich kann ja nichts erzwingen. Und als Trainer stehe ich in solchen Situationen erst recht in der Pflicht, Zuversicht zu vermitteln und einen Plan zu entwickeln.»
In Basel staunen sie noch heute über Yakins Gelassenheit. Egal, ob der Gegner Thun oder Chelsea heisst: Yakin lässt keine Anspannung erkennen. Woher kommt das? «Die finanzielle Unabhängigkeit nimmt sehr viel Druck von ihm», sagt ein ehemaliger FCB-Angestellter. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Yakin ist schon als junger GC-Profi mit 2450 Franken Monatslohn unerschütterlich.
Nun also das grosse Spiel in Rom. Für Yakin herausfordernd, weil die Italiener in seiner Kerndisziplin «Taktik» ebenfalls meisterlich sind. Kribbelts da nicht ein bisschen mehr als sonst? «Nein. Es ist, was es ist: ein Spiel. Als Trainer muss man absolut authentisch sein. Und ich bin nun mal nicht der aufgeregte Typ. Ausserdem muss Fussball auch Spass machen. Wenn man zu verbissen an die Sache geht, wird man nervös und macht Fehler.»
Ganz ohne Anspannung gehts auch bei Yakin nicht. «Die Nachmittage vor dem Spiel, wenn es kaum noch etwas zu tun gibt und ich den Anpfiff herbeisehne, sind quälend für mich. Der Match rotiert im Kopf, ich habe ihn bereits x-fach durchgespielt. Eigentlich müsste ich mich ablenken. Aber das gelingt mir nicht mal mit einem Film.»
Wir sind im Nationalen Jugendsportzentrum Tenero. Yakin gibt sein Aufgebot bekannt. Auf die Frage, ob Breel Embolo mittlerweile unverzichtbar sei, sagt Yakin. «Vor acht Jahren habe ich ihn erstmals auf dem Platz hier gegen das Team Ticino spielen sehen. Und jetzt kann sich Embolo zu einem unverzichtbaren Stürmer für die Schweiz machen.» (bzbasel.ch)