Am Abend des 20. Februar 1994 herrschte im Urner Hauptort Altdorf Feierlaune. Das Schweizer Stimmvolk hatte die Alpeninitiative angenommen, die eine Verlagerung des alpenquerenden Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene forderte. Landammann Hansruedi Stadler (CVP) liess sich zu einem Tänzchen hinreissen.
Stadler war zur Symbolfigur im Kampf für die aus der rotgrünen Ecke lancierte Volksinitiative geworden. In der SRF-«Arena» war es ihm gelungen, Verkehrsminister Adolf Ogi (SVP) aus der Fassung zu bringen («Wir zahlen euch Urnern alles!»). Die «Arena» habe die Abstimmung entschieden, hiess es oft. Doch das ist mehr Mythos als Realität.
Der Leidensdruck war zu gross geworden. Das zeigte sich am Resultat: Die Alpeninitiative wurde mit 51,9 Prozent Ja nur knapp angenommen, doch das Ständemehr schaffte sie mit 16:7 (Halb-)Kantonen mühelos. Das widersprach allen Erfahrungen und war dadurch erklärbar, dass die konservativen Deutschschweizer Kleinkantone zustimmten.
Selbst Appenzell Innerrhoden und Schwyz waren deutlich dafür. Nein sagten einzig der «Autokanton» Aargau und die geschlossene Westschweiz, die damals noch sehr auf den Strassenverkehr fixiert war. Die grösste Ablehnung gab es mit fast 75 Prozent Nein ausgerechnet im Wallis, das von den welschen Kantonen am stärksten betroffen war.
Im September 1980 wurde der Gotthard-Strassentunnel eröffnet. Bundesrat Hans Hürlimann betonte in seiner Ansprache: «Dieser Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr.» Ob der Zuger CVP-Magistrat das wirklich glaubte, sei dahingestellt. Denn natürlich kam es ganz anders. Schon 1981 wurden mehr als 180’000 Lastwagenfahrten am Gotthard gezählt.
Bis 1990 stieg diese Zahl auf rund eine halbe Million, was die Menschen im Urner Reusstal enorm belastete. Im selben Jahr reichte der Verein Alpeninitiative sein Volksbegehren ein. In Uri wurde es vor 30 Jahren mit fast 85 Prozent Ja angenommen. Dennoch nahmen die Lastwagenfahrten am Gotthard weiter zu, auf fast 1,5 Millionen pro Jahr.
An einer Jubiläumsfeier am Sonntag in Bern bezeichnete der bis heute aktive Verein die Verlagerungspolitik trotzdem als «eindrückliche Erfolgsgeschichte». Dazu trugen mehrere Massnahmen bei, vor allem die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA). Ihre Einführung war ohnehin geplant und wurde am selben Tag sehr deutlich angenommen.
Definitiv erhoben wurde sie ab 2001. Zuvor hatte die Europäische Union (EU) die LSVA im Landverkehrsabkommen akzeptiert. Im Gegenzug musste die Schweiz die Erhöhung der Gewichtslimite von 28 auf 40 Tonnen «schlucken». Dafür werden bei der LSVA auch die Emissionen berücksichtigt, weshalb viele «saubere» Lastwagen durch die Alpen fahren.
Weitere Faktoren waren das nach dem verheerenden Brand im Strassentunnel 2001 eingeführte Tropfenzählersystem und die NEAT. Das gesetzlich festgehaltene Ziel von maximal 650’000 Lastwagenfahrten pro Jahr durch die Alpen konnte dennoch nicht eingehalten werden. Zuletzt nahmen sie vielmehr wieder zu, auf 927’000 im Jahr 2022.
Zu diesem Trend trägt bei, dass Deutschland beim vertraglich zugesicherten Ausbau der Zufahrtsstrecken zur NEAT massiv im Verzug ist. Jene in Italien wurden fertiggestellt, weil die Schweiz sie faktisch finanziert hat. Die Schweiz muss sich dabei auch an der eigenen Nase nehmen. Sie hatte die NEAT weitgehend im Alleingang geplant und gebaut.
«Der Alpenschutz ist kein Selbstläufer», sagte der Bündner SP-Nationalrat und Alpeninitiative-Präsident Jon Pult am Sonntag in Bern. Der Verein hat mehrere Forderungen an Bundesrat und Parlament formuliert. Primär geht es um mehr Fördermittel für die Verlagerung, was angesichts der drohenden Defizite beim Bund ein ambitioniertes Ziel ist.
Immerhin verabschiedete der Bundesrat im Januar die Botschaft zur Totalrevision des Gütertransportgesetzes, die eine stärkere staatliche Förderung vorsieht. Die Zahl der Lastwagenfahrten soll reduziert und die Digitalisierung des Schienengüterverkehrs vorangetrieben werden. Allerdings soll die Finanzierung im Bundesbudget kompensiert werden.
Die Alpeninitiative verlangt deshalb neben einer Anpassung der LSVA an die Teuerung eine zusätzliche Alpentransitabgabe für den Schwerverkehr. Auch dies dürfte nicht einfach werden. Die EU wird sie nur akzeptieren, wenn sie nicht diskriminierend ist. Bei der LSVA ist dies der Fall, sie muss von in- und ausländischen Transporteuren bezahlt werden.
Widerstand wäre programmiert. Das zeigt auch die Debatte um andere Anliegen, etwa die von bürgerlichen Politikern geforderte Tunnelmaut am Gotthard zu Spitzenzeiten. Das Tessin will von solchen Gebühren nichts wissen, weil sie den Südkanton benachteiligten und zu Ausweichverkehr durch den San Bernardino oder über die Alpenpässe führen würden.
Der Güterverkehr durch die Alpen bleibt 30 Jahre nach dem Volksentscheid eine Herausforderung. Das zeigt auch die Debatte um die Zulassung von Gigalinern in der EU, vor der die Alpeninitiative warnt. Keine Hilfe ist auch die bis September «gesperrte» Röhre im Gotthard-Basistunnel, auch wenn vor allem der Personenverkehr darunter leidet.
Das stimmt nicht. In den 90ger Jahren haben Italien und Deutschland Verträge mit der Schweiz unterzeichnet mit dem Ziel, den Zulaufstrecken der NEAT die nötige Kapazität zu geben.