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Das taugt das Ideenfeuerwerk zur Lösung des Stauproblems am Gotthard

Stau traffic jam
Es brauche Massnahmen zur Entschärfung des notorischen Stauproblems am Gotthard, so die Urner.Bild: Shutterstock

Das taugt das Ideenfeuerwerk zur Lösung des Stauproblems am Gotthard

Den Urnern ist der Geduldsfaden gerissen. Und nicht nur sie fordern Massnahmen zur Entschärfung des notorischen Stauproblems am Gotthard. Schon an Auffahrt steht der nächste Stresstest bevor.
16.05.2023, 09:3716.05.2023, 13:31
Kari Kälin / ch media
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Stau, an einem gewöhnlichen Montag, meldet Georg Simmen, als ihn CH Media am Telefon erreicht. «Tabubrecher» nannte ihn die «Urner Zeitung». Denn der FDP-Landrat aus Realp hat im Kantonsparlament dafür plädiert, alle vier Spuren zu öffnen, wenn dereinst beide Strassentunnel am Gotthard betriebsbereit sind – was 2032 der Fall sein wird. Unter der Woche habe man früher Ruhe gehabt, sagt Simmen. Der Verkehr habe sich an Ostern, Auffahrt, Pfingsten, während der Sommerferien geballt:

«Doch mittlerweile kann es fast jeden Tag Stau geben.»

Mit Kollateralschäden für die Einheimischen. Es gibt nur eine Ausweichalternative: die Kantonsstrasse, die durch das enge Reusstal ans Nordportal in Göschenen führt.

Der Stau auf der Autobahn, hört man aus dem Kanton, behelligt die Urner eigentlich kaum. Es ist der Verkehr, der sich auf die Kantonsstrasse verlagert und den Unmut befeuert. Im letzten Sommer berichtete die «Urner Zeitung», wie die Menschen im Dorf Wassen unter Lärm und Abgasen leiden. Wie sie sich aufregen, dass manche ihr «Geschäft» in freier Wildbahn erledigen. Wie der Verkehr ins Stocken gerät, man kaum noch auf die Hauptstrasse einbiegen kann.

Dazu kommt die Befürchtung, dass der Freizeitverkehr Feuerwehr, Polizei und Ambulanz im Ernstfall die Durchfahrt versperrt. Man sorgt sich um die Verkehrssicherheit, auch jene der Velofahrer, wenn Wohnwagen Autos zu Überholmanövern animieren. Stau herrscht auf der Kantonsstrasse zwar nur selten. Doch es kann vorkommen, dass der Weg von Altdorf ins Urner Oberland eine Stunde dauert, weil es Stau gibt und man weder auf der Autobahn noch auf der Kantonsstrasse vorwärtskommt.

Die nächsten Blechlawinen werden sich bald durch die Gotthardroute quälen. Am Montag kündigte das Bundesamt für Strassen an, in Richtung Süden sei jeweils ab Mittwochnachmittag vor Auffahrt und Fronleichnam sowie ab Freitagmittag vor Pfingsten mit längeren Staus zu rechnen. In die Gegenrichtung werden sich beim Rückreiseverkehr Schlangen bilden. Als Ausweichroute parat sein dürfte der Gotthardpass, der voraussichtlich am Mittwoch geöffnet wird – just vor Auffahrt. Auf der Südseite wurde die Ausfahrtsspur für die Passstrasse schon im letzten Sommer verlängert. Auf der Nordseite kann man sich jetzt neu schon ab Wassen auf die Ausfahrt Gotthardpass begeben.

Nun ist der Stau am Gotthard kein neuartiges Phänomen. Und im Vergleich zu den Pendlern, die täglich im Aggloverkehr feststecken, jammere man auf hohem Niveau, sagen sogar einige Urner hinter vorgehaltener Hand. Auch deshalb stellt sich die Frage: Weshalb lupft es ihnen ausgerechnet jetzt den Hut? Gespräche mit zahlreichen Betroffenen führen zum Coronavirus. Nach der epidemiologisch bedingten, verkehrstechnisch gesehen angenehmen Zwangsbremsung fiel der Aufprall im Normalbetrieb umso härter aus, weil die Staubelastung auch gegenüber der Vor-Lockdown-Ära deutlich stieg.

Im letzten Jahr verlangten Ständerätin Heidig Z'graggen und Nationalrat Simon Stadler (beide Mitte) mit Vorstössen Abhilfe gegen den Ausweichverkehr. Im Februar reichten zwei Bürger, Patrick Walker aus Wassen und Jonathan Imhof aus Gurtnellen, die Petition «Urner Dörfer vor Ausweichverkehr schützen» mit mehr als 3000 Unterschriften bei der Regierung ein. Landesweit für Schlagzeilen sorgte der Urner Landrat, als er im April einstimmig eine Motion annahm, welche die Regierung in Form einer Standesinitiative beim Bundesrat einreichen wird. Die Kernforderung: Die Einführung eines Reservationssystems (Slots), um die Verkehrsspitzen zu glätten. Was taugen die Ideen zur Linderung der Stauproblematik? Ein Überblick.

Ein Zeitfenster für die Durchfahrt reservieren (Slotsystem)

Automobilisten umfahren des Stau durch das Dorf Amsteg. Reiseverkehr am Wochenende vor Ostern staut sich bei der Autobahneinfahrt Wassen in Richtung Sueden vor dem Gotthard- Tunnel zwischen Gueschenen ...
«Jetzt ist der Warteraum der Kanton Uri. Es wäre zielführender, diesen ins Internet zu verlagern.» Auf dem Bild: Automobilisten umfahren des Stau durch das Dorf Amsteg.Bild: keystone

Fast 2.5 Millionen Lastwagen fuhren im letzten Jahr über den Brenner – ungefähr viermal mehr als durch den Gotthardtunnel. Die Landeschefs von Bayern, Tirol und Südtirol wollen des Verkehrschaos mit einem Slotsystem Herr werden auf der Strecke zwischen Rosenheim und Trient. Transportunternehmen sollen ihre Durchfahrten reservieren; gibt es keine Kapazität mehr, muss man auf die Schiene oder es an einem anderen Tag versuchen.

Slots: Das ist auch der Kernpunkt der Urner Standesinitiative, die aus der Feder von Landrat Ludwig Loretz (FDP, Andermatt) stammt. Pro Stunde und Richtung kann der Tunnel 1000 Personenwagen schlucken. Anstatt blind in den Stau zu fahren, soll man im Internet ein Zeitfenster für die Durchfahrt in den Süden (und umgekehrt in den Norden) buchen können. Das Ziel: Die Spitzen werden geglättet, der Verkehr verlagert sich in die früheren Morgen- und späteren Abendstunden, er wird so verflüssigt, die Nerven der Automobilisten und Urner werden geschont.

Erste Signale aus Bern sind ablehnend. Das Bundesamt für Strassen (Astra) hält ein Reservationssystem für praxisuntauglich und listet eine Reihe an Einwänden auf. Es sei etwa zentral, dass der gebuchte Slot eingehalten werden könne. Doch auf der Zufahrt zur Gotthardroute könnten Staus, Pannen und Unfälle zu Verzögerungen führen und die Einhaltung des Slots verunmöglichen. Zudem brauche es nicht vorhandene Warteräume, um Fahrzeuge mit Reservation von jenen ohne zu triagieren. Und es drohe Ausweichverkehr über andere Alpenpässe.

Ludwig Loretz kann die Einwände teilweise nachvollziehen. Es gehe aber darum, jetzt die Machbarkeit eines solchen Systems ernsthaft zu prüfen, sagt er. Die Kapazität werde nicht erweitert, der Verkehr aber weiter zunehmen, eine andere Lösung sehe er nicht. Loretz ist kürzlich von Andermatt aus über den Brenner ins Südtirol in die Ferien gefahren. Beim Selbstversuch erreichte er Innsbruck trotz Baustellen und Rotlichtern nur 5 Minuten später als geplant. Von Innsbruck bis Meran verfehlte er die Zielzeit um sieben Minuten. «Die Navigationssysteme sind gut», sagt Loretz. Und er ergänzt:

«Jetzt ist der Warteraum der Kanton Uri. Es wäre zielführender, diesen ins Internet zu verlagern.»

Er kann sich vorstellen, auch an anderen Alpenübergängen Slots anzubieten – damit nicht alle auf den San Bernardino ausweichen.

Für Jon Pult, Präsident der Alpeninitiative und SP-Politiker aus Graubünden, ist dies eine Grundvoraussetzung zur Einführung eines Reservationssystems. Die Idee findet der Präsident der nationalrätlichen Verkehrskommission vielversprechend, auch wenn noch viele Fragen zur Umsetzung offen blieben. «Die Schweiz könnte Pionierin sein. Schon viele Innovationen wurden gegen den Willen von Bundesämtern durchgesetzt.» Auf Tessiner Seite gibt es unterschiedliche Reaktionen. Nationalrätin Greta Gysin (Grüne) begrüsst grundsätzlich Slots, sagt aber, für Tessiner und Urner brauche es einen vereinfachten Zugang. Mitte-Nationalrat Fabio Regazzi hingegen hält die Pläne für technisch und logistisch kaum umsetzbar.

Eine Maut

epa05749318 (FILE) - A picture dated 30 October 2014 shows a car toll (Maut) sign placed at a street near Rostock, Germany. Austrian transport minister Joerg Leichtfried met some of his European count ...
Im benachbarten Ausland weitverbreitet: die Maut. Der Vorschlag: 20 Franken für eine Fahrt durch den 17 Kilometer langen Tunnel.Bild: EPA/DPA

31 Franken kostet die Durchfahrt durch den sechs Kilometer langen Grosse-Sankt-Bernhard-Tunnel, der das Wallis mit Italien verbindet. Der Tunnel wird nicht vom Bund, sondern privat von einer italienisch-schweizerischen Gesellschaft betrieben. Es ist die einzige Alpenverbindung in der Schweiz, bei der eine Gebühr fällig wird. In anderen Ländern, zum Beispiel in Österreich am Vorarlbergtunnel und bei der Brennerautobahn, werden Autofahrer ebenfalls zur Kasse gebeten. Warum nicht auch am Gotthard, um die Attraktivität der Route zu schmälern?

Die Zürcher GLP-Nationalrätin Corina Gredig lancierte die Idee kurz nach Ostern via «Blick»: 20 Franken für eine Fahrt durch den 17 Kilometer langen Tunnel. Denkbar wäre auch ein dehnbares Preismodell mit günstigeren Tarifen bei geringerem Verkehrsaufkommen. Unterstützung erhält Gredig von den Nationalräten Simon Stadler (Mitte/UR) und Matthias Jauslin (FDP/AG). Das Trio plant, in den Sommersession einen entsprechenden Vorstoss einzureichen – mit tieferen Tarifen für Urner und Tessiner, um nicht die lokale Bevölkerung zu bestrafen.

Die Idee ist nicht neu, stiess bei Parteien, Verbänden und Kantonen in der Vernehmlassung zur Sanierung der Gotthardröhre aber auf Ablehnung. Eine Maut am Gotthard wäre grundsätzlich ohne Abstimmung machbar. Würde sie bei allen Alpenverbindungen oder generell bei Tunnelverbindungen eingeführt, bräuchte es eine Verfassungsänderung, wie die frühere Verkehrsministerin Doris Leuthard 2017 im Parlament ausführte. Gredig ist überzeugt, dass diese Abstimmung zu gewinnen wäre.

Alle vier Spuren öffnen

Das Sprenghorn wird zu einer Imitierten Sprengung geblasen, beim offiziellen Spatenstich zum Baustart der zweiten Roehre des Gotthard Strassentunnel am Nordprtal in Goeschenen am Donnerstag, 29. Septe ...
Das Sprenghorn wird geblasen, beim offiziellen Spatenstich zum Baustart der zweiten Röhre des Gotthard Strassentunnels, 2021.Bild: keystone

Zurück zu «Tabubrecher» Georg Simmen. «Der Verkehr wird noch zunehmen, ob einem das passt oder nicht. Man kann ihn nicht stoppen, indem man künstliche Engpässe schafft», sagt er. Mit der Öffnung aller vier Spuren könne man den Verkehr verflüssigen. Infrage kommt dies frühestens 2032. Dann werden die zweite und die sanierte Röhre betriebsbereit sein.

Doch diesem Plan steht der Alpenschutzartikel in der Verfassung entgegen. Und das Versprechen von Bundesrat und Parlament vor der Abstimmung über die zweite Gotthardröhre, die Kapazität auf keinen Fall zu erweitern. Hans Wicki, FDP-Ständerat aus Nidwalden und Präsident der Verkehrskommission, ist aber überzeugt:

«Die Idee, alle vier Spuren zu öffnen, wird Aufwind bekommen, wenn sich die Stauproblematik weiter verschärft.»

Wicki selbst würde dies befürworten – allerdings unter der Bedingung, dass im Parlament eine politische Debatte darüber geführt werden könne. Und am Ende das Stimmvolk darüber befindet.

Der Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann sprach sich schon immer dafür aus, alle vier Spuren zu öffnen. Bis im Jahr 2032 werde die Situation anders sein als 1994, als das Volk die Alpeninitiative annahm. «Es werden viel weniger Fahrzeuge unterwegs sein, die CO₂ ausstossen. Wir werden bezüglich Umwelt- und Alpenschutz eine andere Ausgangslage haben», sagt er.

Der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli sagt, er werde sich nicht für diesen Vorschlag engagieren. Er habe sich für den Bau einer zweiten Röhre unter Wahrung des Alpenschutzartikels ausgesprochen. Dittli kann es aber nachvollziehen, dass das Thema aufs Tapet kommt nach dem Motto: «Wenn man schon vier Spuren hat, dann sollte man auch vier Spuren fahren können.» Für ihn ist klar: Es liegt deshalb an der nächsten Generation zu entscheiden, ob dereinst in beiden Röhren beide Fahrspuren in beide Richtungen freigegeben werden sollen oder nicht.

SP-Nationalrat Jon Pult rechnet zwar mit steigendem Druck, alle vier Spuren freizugeben. Er glaubt aber nicht, dass an der Urne eine Mehrheit des Volkes den Alpenschutzartikel für eine «Scheinlösung» über Bord werfen würde: «In der Bevölkerung wächst das Bewusstsein dafür, dass mehr Kapazitäten mehr Verkehr anziehen.»

Eine Vorzugsspur für Tessiner und Urner

Am Gotthard hat sich die Verkehrslage auf der Autobahn A2 nach dem Osterstau wieder normalisiert. (Archivbild)
Gotthard für einmal staufrei.Bild: KEYSTONE

Politische Erfolge haben die Urner schon verbucht. Bundesrat und Nationalrat haben das Postulat gutgeheissen, in dem Simon Stadler ein besseres Management im Umgang mit dem Ausweichverkehr vorwiegend auf der Gotthard- und San-Bernardino-Route verlangt.

Fabio Regazzi, Tessiner Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbandes, wartet mit einem weiteren Vorschlag auf: Der Bundesrat soll prüfen, wie eine Vorzugsbehandlung für Urner und Tessiner umzusetzen wäre, damit sie bei Stau freie Bahn bis zum Tunneleingang haben.

Regazzi ärgert sich, dass das lokale Gewerbe während Stunden in einem von Touristen verursachten Stau stecken bleibt. Ihm schwebt vor, den Pannenstreifen für Urner und Tessiner zu öffnen oder die bei Stau geschlossenen Autobahneinfahrten in den Dörfern vor dem Tunnel ausschliesslich für Einheimische zugänglich zu machen. Bei der Umsetzung könnte aber das Landverkehrsabkommen mit der EU in die Quere kommen: Es verlangt einen diskriminierungsfreien Zugang zum Tunnel.

Vielleicht das nächste Mal mit dem Zug?

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268 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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insert_brain_here
16.05.2023 10:17registriert Oktober 2019
Die Frage ist doch wie man hunderttausende Menschen dazu bringt ihre religiöse Autowallfahrt an den Gotthardstau bleiben zu lassen, für genau den Zweck wurde für viel Geld der vielleicht modernste Eisenbahntunnel der Welt gebuddelt.
Da hecken meine Arbeitskollegen vor Ostern jeweils absurde Pläne aus wie sie irgendwie doch noch durchschlüpfen können, wenn ich aber davon erzähle wie ich mit der Bahn in die Toscana fahre werde ich angeschaut wie ein Alien.
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In per tuts, tuts per in
16.05.2023 10:11registriert Juli 2020
Wir haben letzthin 51 EUR für die Durchfahrt durch den Grossen St. Bernhard (eine Richtung) bezahlt. Eine Maut fände ich die beste Idee
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Anonymous77639578
16.05.2023 11:01registriert September 2020
Mehr Kapazität mehr Verkehr. Dies wäre die ultimative Rache des Teufels. Ich als Urner sehe nur eine Maut als Lösung - auch für den Pass. Vorzugsbehandlung für Ürner und Ticinesi wäre schön, jedoch kaum Mehrheitsfähig.

Wenn die Maut nur 10Fr kosten würde, kommt gefühlt genug Geld zusammen dass jeden Monat eine Credit Suisse gerettet werden könnte :)

Ernsthaft:
Mit dem Geld könnte man z.B. einen CH-Transit-Autoverlad ''aufgleisen'' von ähm Basel - Chiasso o.ä.
oder:
Verstecke für Ostereier nördlich der Alpen bauen.

@Bern: ''mr wärdet langsam ulyydig''
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