Im Tessin hatte man damit gerechnet, dass die Reparatur und vollständige Wiederinbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels nach dem Entgleisungsunfall vom August lange dauern würde. Aber so lange? Erst im September 2024 soll der Normalbetrieb in beiden Röhren wieder möglich sein, wie die SBB am Donnerstag mitteilten.
«Diese Nachricht erfreut uns gar nicht, und dieser Zeitplan wird Konsequenzen für unsere Wirtschaft und den Tourismus haben», hält Staatsratspräsident Raffaele De Rosa auf Anfrage fest. Zugleich wisse man, dass der Sicherheit im Tunnel absolute Priorität eingeräumt werden müsse.
«Es ist offensichtlich, dass die Schliessung des Basistunnels einen negativen Einfluss auf den Tages- und Geschäftstourismus hat», hält seinerseits Angelo Trotta als Direktor von Ticino Turismo fest. Dies habe man bereits in der Zeit nach August festgestellt. Bisher gebe es aber noch keine konkreten Erhebungen, wer auf eine Reise ins Tessin ganz verzichte oder trotz längerer Reisezeit den Zug nehme.
Laut den SBB ist die Zahl der Zugreisenden ins Tessin seit dem Unfall im August um einen Drittel zurückgegangen. Dabei handelt es sich vor allem um Tagestouristen.
«Das haben wir schon im September und Oktober gemerkt», hält Massimo Suter, Präsident des Gastgewerbeverbandes Gastroticino, fest. Er zeigt sich angesichts der Ankündigung der SBB, wohl erst im September 2024 zum Normalbetrieb zurückkehren zu können, äusserst besorgt. Gerade für die Gastrobetriebe in Randregionen – in den Tälern – werde es schwierig werden, da diese bei einer zusätzlichen Fahrzeit von zwei Stunden pro Tag kaum in einem Tagesausflug erreichbar seien.
Die Kundinnen und Kunden hätten sich daran gewöhnt, in weniger als zwei Stunden von Zürich nach Lugano zu fahren, weil dies eine Retourfahrt an einem Tag leicht möglich mache. Bei drei Stunden pro Richtung überlegten sich viele Gäste, ob sich die Reise lohne.
Weniger problematisch ist seiner Meinung nach die Situation für die Hotellerie. «Vielleicht müssten wir nun aber Pakete schnüren, welche Gastroangebote mit einer Hotelübernachtung verknüpfen», so Suter.
«Das ist eine sehr schlechte Nachricht», meint schliesslich auch Luca Albertoni als Direktor der Wirtschafts- und Handelskammer des Kantons Tessin, der die Sorgen der Unternehmen kennt. In Bezug auf den Güterverkehr hält er fest: «Auch wenn die nötige Zahl der Trassen für Güterzüge zur Verfügung gestellt werden kann, stellen die engeren Zeitfenster doch ein organisatorisches Problem für die logistischen Abläufe dar.» Der Tessiner Mitte-Nationalrat Fabio Regazzi, Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands, ist sehr ernüchtert und sauer: «Für mich ist es schlicht unfassbar, dass die Wiederherstellung des Tunnels über ein Jahr dauert.»
Wenig Freude an den längeren Fahrzeiten haben natürlich auch Bahnkunden und Arbeitspendler, die regelmässig aus dem Tessin in die deutsche Schweiz oder in Gegenrichtung unterwegs sind. Sie hatten zumindest auf ein finanzielles Entgegenkommen gehofft, etwa eine kostenfreie Laufzeitverlängerung des Generalabos. SBB-Chef Vincent Ducrot hat solche Hoffnungen zunichte gemacht, zumal für Tariffragen nicht allein die SBB zuständig sind: «Wir wollen auf die Wünsche der Pendler durch eine punktuelle Verbesserung des Angebots eingehen.» Pro Bahn, die Interessengemeinschaft der Kundinnen und Kunden, will aber an entsprechenden Forderungen festhalten. (aargauerzeitung.ch)