Die E-Mail, die den Stein ins Rollen brachte, ging am vergangenen Freitag beim Genfer Umwelt- und Sicherheitsdepartement ein. Absender: das türkische Konsulat in Genf. Was genau in jenem Schreiben stand, und ob es der Konsul höchstpersönlich signiert hatte, wollen die Behörden nicht bekannt geben. Nur so viel: «Das Konsulat verlangte darin, dass wir das Bild entfernen», sagt Genfs Pressesprecher Philippe d’Espine.
Das Bild, es hängt im Rahmen einer Fotoausstellung noch bis zum 1. Mai auf der Place des Nations, dem symbolträchtigen Platz vor dem UNO-Hauptquartier in Genf. Es zeigt eine Demonstration im Jahr 2014 an gleicher Stelle, bei welcher der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einem Transparent für den Tod eines Jugendlichen verantwortlich gemacht wird. Geschossen hat das Bild Demir Sönmez, ein Fotograf mit kurdischen und armenischen Wurzeln.
Die Genfer Stadtregierung hatte also zu entscheiden, ob sie dem Drängen der türkischen Behörden nachgeben wollen oder nicht. Gestern Nachmittag fiel dieser Entscheid: «Wir halten an der Bewilligung für die Ausstellung fest», hiess es in einem Communiqué. Sie trage zur Verteidigung der freien Meinungsäusserung bei und hebe die Rhônestadt als Kapitale der Menschenrechte hervor. Mit anderen Worten: Die Stadtregierung ging als – zumindest vorübergehende – Siegerin aus dem Kraftakt mit Ankara hervor.
Die türkischen Gegenspieler versuchten wenige Stunden zuvor noch, die Wogen zu glätten. In einer kryptischen Mitteilung schrieb die Botschaft in Bern, man habe «nur eine Möglichkeit für die Herstellung eines Kontakts mit der zuständigen Dienststelle der Stadt Genf» gesucht. Man respektiere die Freiheit jedes Künstlers, den Inhalt seiner Werke selbst zu bestimmen. Die Äusserungen auf dem Foto, wo der damalige Ministerpräsident der Türkei in einer «ungerechten und unwirklichen Weise unter Verdacht gestellt» werde, habe aber bei manchen türkischen NGOs in der Schweiz «eine Reaktion ausgelöst».
So gross die Aufregung um das Genfer Foto derzeit auch ist, der Fall ist nur einer unter vielen in der schwierigen und gerade in jüngerer Vergangenheit konfliktträchtigen Beziehung zwischen der Schweiz und der Türkei. Folgende Fälle haben in den letzten 25 Jahren besonders hohe Wellen geschlagen:
Die Repressionen des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Minderheit haben regelmässig Auswirkungen bis in die Schweiz. So auch am 24. Juni 1993, als rund 300 Kurden vor der türkischen Botschaft in Bern protestierten. Im Verlauf der Kundgebung drangen mehrere Teilnehmer auf das Gelände der Botschaft ein, die Situation eskalierte: Botschaftsmitarbeiter schossen auf die Demonstranten, wobei mehrere verletzt wurden.
Ein Mann starb. Der Zwischenfall führte zu einer schweren diplomatischen Krise: Die Türkei zog ihren Botschafter ab, nachdem die Schweiz die Aufhebung seiner Immunität gefordert hatte. Im Gegenzug verlangte Ankara die Abberufung des Schweizer Botschafters. Erst eineinhalb Jahre später tauschten die Länder wieder ihre diplomatischen Vertreter aus. Nochmals acht Jahre später gab der damalige türkische Botschafter Kaya Toperi gegenüber einer türkischen Zeitung zu, selbst geschossen zu haben – er habe aber in die Luft gezielt.
Nur wenige Wochen, nachdem die bilateralen Beziehungen wieder vollständig aufgenommen wurden, ereignete sich 1995 bereits der nächste Eklat.
Der damalige Schweizer Aussenminister Flavio Cotti aktivierte innerhalb der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) den sogenannten «Moskauer Mechanismus», der bei Support von anderen Staaten einem Mitgliedsland eine externe Untersuchung über die Menschenrechtslage aufzwingen kann. Für Cotti war dies «nichts Aussergewöhnliches» und schon gar kein «unfreundlicher Akt» – die neuerliche Verstimmung der Türkei war dennoch perfekt. Die Mission kam freilich gar nie zustande.
Je nach Schätzung kamen in der Türkei zwischen 1915 und 1917 mehrere Hunderttausend oder auch 1,5 Millionen Armenier bei Massakern und Todesmärschen ums Leben. Die meisten Historiker qualifizieren die Ereignisse als Völkermord – und so nannte es 1998 auch der Genfer Grosse Rat. Das Waadtländer Pendant, die Genfer Regierung und im Jahr 2003 schliesslich auch der Nationalrat, folgten dem Beispiel.
Jedes Mal protestierte der türkische Staat heftig, denn in seiner Lesart handelt es sich bei den Verbrechen um «kriegsbedingte Ereignisse». Obwohl der Bundesrat dem Parlament in dieser Frage bis heute nicht gefolgt ist, rief die Türkei 2003 erneut ihren Botschafter aus der Schweiz zurück. Und es kam noch dicker: Ein geplanter Besuch von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey wurde kurzfristig abgesagt.
Auch der Vorfall im Jahr 2005 knüpft am armenischen Völkermord an: Der Ultranationalist und Präsident der türkischen Arbeiterpartei, Dogu Perinçek, spannte damals eine Veranstaltungsreihe in der Schweiz kurzerhand für seinen persönlichen Wahlkampf ein. Mehrmals leugnete er bei seinen Reden den Genozid – und wurde 2007 dafür wegen Rassendiskriminierung zu einer Geldstrafe verurteilt.
Seine Voten basierten auf einer rassistischen Grundlage, die nicht mit den historischen Fakten vereinbar sei, befanden die Richter. Alle Instanzen bis zum Bundesgericht bestätigten das Urteil, doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stiess es 2013 um. Die Schweiz wurde wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit verurteilt.
Alt Bundesrat Christoph Blocher nutzte die Affäre ebenfalls zu seinen Gunsten: Anlässlich seines Besuchs in Ankara sagte er 2006, dass ihm der Schweizer Antirassismus-Artikel «Bauchschmerzen» bereite – ohne sich zuvor mit dem Bundesrat abgesprochen zu haben. Der damalige Justizminister löste damit in der Schweiz eine Welle der Empörung aus.
Zwar zeitigte das, was sich am 16. November 2005 im türkischen Nationalstadion abspielte, weniger politische Reaktionen als andere Ereignisse, in der kollektiven Erinnerung bleibt die «Schande von Istanbul» aber bis heute haften. In einem denkwürdigen Spiel qualifizierte sich die Schweizer Fussballnationalmannschaft für die folgende Weltmeisterschaft – was manchen türkischen Spielern und Funktionären gar nicht genehm war.
Sie prügelten und traten auf Schweizer Fussballer ein, die – wie im Fall von Verteidiger Stéphane Grichting – teils ernsthafte Verletzungen davontrugen. Für besondere Empörung sorgte hierzulande, dass der Schweizer Benjamin Huggel, der ebenfalls austeilte, mit der gleichen Anzahl Spielsperren belegt wurde wie die am höchsten bestraften türkischen Spieler.
Am 27. Juli 2012 wurde der Kommandant der Walliser Polizei, Christian Varone, während einer Ferienreise in der Türkei inhaftiert. Grund: Er hatte bei einer Ausgrabungsstätte einen Stein mitgenommen, was ihm bei der Ausreise zum Verhängnis wurde. Die Türkei qualifizierte den Marmor als «Bestandteil des kulturellen und natürlichen Erbes der Türkei». Varone musste fünf Tage in Untersuchungshaft verbringen.
Obwohl er 2013 von der Türkei zu einem Jahr und 15 Tagen Gefängnis unter Aufschub verurteilt wurde, durfte Varone Walliser Polizeichef bleiben. Das ist er bis heute.