«Es war ein Schock» – neuer Nestlé-Chef äussert sich zu Freixe-Absetzung
Drei Chefs in eineinhalb Jahren – das ist die ungewöhnliche Bilanz für den Westschweizer Nahrungsmittelriesen Nestlé. Auf den zu Beginn gehypten Deutsch-Amerikaner Mark Schneider, der mit seinen Resultaten nicht mehr überzeugen konnte, folgte nach knapp acht Jahren im Herbst 2024 der Franzose Laurent Freixe. Doch das Nestlé-Urgestein stolperte über eine interne Liebesaffäre. Mit der Folge, dass er nach einem Jahr vor die Tür gestellt wurde. Für ihn übernahm Anfang September Nespresso-Chef Philipp Navratil.
Nun, nach den üblichen ersten 100 Tage im Amt, hat der Schweiz-Österreicher, der in Zürich aufgewachsen ist, sein erstes Interview gegeben. Dafür wählte er das Fachblatt «Finanz und Wirtschaft». Dies allein ist schon ein Zeichen dafür, dass es dem 49-Jährigen zuallererst darum gehen dürfte, die zuletzt öfters vor den Kopf gestossene Investorenschar auf seine Seite zu bringen (CH Media berichtete).
So sagt Navratil im ausführlichen Interview in Bezug auf den Aktienmarkt: «In den vergangenen Jahren haben wir Vertrauen eingebüsst, weil wir in einigen Quartalen nicht geliefert haben.» Im Gegensatz zu seinem Vor-Vorgänger Schneider, der einige spektakuläre Übernahmen tätigte, setzt Navratil anderswo an: «Ich frage mich nicht, was wir noch dazukaufen müssen. Was wir brauchen, sind Innovationen, um das Wachstum zu beschleunigen.»
Zufrieden mit Tierfutter und Kaffee
Nestlé habe ein starkes Portfolio, mit dem man die angestrebten 4 Prozent organisches Wachstum erreichen könne. Etwa ein Viertel sei Tierfutter, dort sei er «sehr zuversichtlich» punkto Wachstum. «Ein weiteres Viertel ist Kaffee, wo wir unglaubliche Möglichkeiten haben.» Es gebe zum Beispiel noch immer 2 Milliarden Menschen auf der Welt, die keinen Kaffee trinken würden. «In Indien trinkt man 25 Tassen pro Kopf im Jahr. In den USA sind es 450.» Zuletzt hat Nestlé in Indien seine erste Nespresso-Boutique eröffnet.
Das dritte Viertel des Nestlé-Geschäfts betreffe die sogenannte Nutrition- und Health-Palette, die auf die Wurzeln des Unternehmens zurückgehe: Produkte für Schwangere, Babys, Teenager und Erwachsene. Der vierte Pfeiler umfasst laut Navratil das Food- und Snacking-Portfolio.
Doch zu Navratils Strategie gehört auch das Sparen. Oder wie das Programm intern heisst «Fuel for Growth». Der Nestlé-Chef fordert eine «effizientere Organisation, die mit weniger Mitarbeitern funktioniert». Konkret heisst das: In den nächsten zwei Jahren sollten 16'000 der insgesamt 277'000 Stellen abgebaut werden, insbesondere im administrativen Bereich. Zudem will er das Wasser- und das Mainstream-Vitamin-Geschäft verkaufen.
Am Abend wusste Navratil Bescheid
Navratil gibt im Gespräch mit der «Finanz & Wirtschaft» auch Einblick in die turbulente Zeit rund um die Absetzung seines Vorgängers Freixe und seine eigene CEO-Ernennung. «Intern war es ein Schock, was passiert ist», sagt er. Ob er am 1. September, dem Tag seiner Beförderung, eine Ahnung gehabt habe, dass er CEO werden könnte, fragt ihn die Zeitung. «Als Nespresso-Chef war ich ja bereits Mitglied der Konzernleitung und konnte annehmen, dass ich einmal zum erweiterten Kandidatenkreis gehören könnte. Aber an diesem Montagmorgen war noch vieles offen.»
Er habe sich und seine Ideen dann vor dem Verwaltungsrat in einer kurzen Präsentation vorstellen können, danach sei eine Fragerunde gefolgt. Am «Abend habe ich von meiner Ernennung erfahren, und am nächsten Morgen bin ich als CEO ins Büro gekommen.» Aber die ganze Nachfolgeplanung habe natürlich schon vorher laufend stattgefunden, und darüber sei er nicht ins Bild gesetzt.
«Unsere Büros sind nebeneinander.»
Mit Verwaltungsratspräsident Pablo Isla, dem ehemaligen Chef des spanischen Moderiesen Inditex, sei er täglich im Austausch, um Ideen zu besprechen. «Wenn wir hier in Vevey sind, verbringen wir viel Zeit zusammen, unsere Büros sind gleich nebeneinander.» Isla trat seine Stelle erst Anfang Oktober an.
«Was für mich erfrischend ist: Ich hatte keine Übergabe, ich bin in ein leeres Büro gekommen als CEO, mit leerem Kalender», sagt Navratil. «Ich habe nichts von meinem Vorgänger übernommen, in dem Sinn. Pablo Isla auch nicht.» Sie beide hätten sehr viele Freiheiten, um Nestlé zu dem zu machen, was sie für richtig halten. «Alles ist auf dem Tisch, und das ist ein gutes Gefühl.»
Ob das alle Angestellten auch so sehen, ist eine andere Frage. (aargauerzeitung.ch)
