Und dann kam er, der König, Martin Candinas. Das Lächeln breit wie der Rhein, war der Spitzenkandidat der CVP noch ein paar Zentimeter grösser als sonst. In einem Triumphmarsch, vor ihm die Fotografinnen, die im Rückwärtslaufen den Kotau machten, zog er in sein temporäres Reich ein, das Medienzentrum Chur. Candinas trat nicht für den Ständerat an, er machte kein Rekordergebnis, er war einfach nur Candinas, der wohl populärste Politiker des Kantons, der am Sonntagnachmittag seinen Aufzug hielt. Candinas erzielte 23'143 Stimmen, geschlagen nur von der EMS-Milliardärin und politischen Erbin des einflussreichsten Schweizer Politikers der Neuzeit, Magdalena Martullo Blocher.
Um 15 Uhr präsentierte sich die Situation wie folgt: Platz 1 bei den Nationalratswahlen Martullo-Blocher. Platz 2 Martin Candinas. SVP und CVP. Der Ständerat ist sowieso fest in der Hand des bürgerlichen Gespanns Stefan Engler (CVP) und Martin Schmid (FDP). Business as usual im flächenmässig grössten Kanton der Schweiz.
Und wenig später verkam dies alles zur Randnotiz.
In Graubünden, so erzählte es die überraschend gewählte SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel später, ereignete sich am späten Sonntagnachmittag nämlich «ein kleines Churer Wunder». Als man sich schon damit abgefunden hatte, dass Graubünden an einem Wahltag voller Überraschungen das Fähnlein des Status Quo aufrecht hielt, lieferte der Kanton also doch noch. Spät, aber umso dramatischer.
Die letzten Gemeinden wurden ausgezählt, darunter Chur, die Hochburg der Progressiven. Und plötzlich war alles anders. Nur waren es nicht die Grünen, die profitierten, sondern die Sozialdemokraten. Die SVP verlor ihren zweiten Sitz an die FDP und die SP verteidigte nicht nur den Sitz der zurückgetretenen Silva Semadeni, sondern holte sogar noch einen zweiten Sitz dazu.
Die erste Hochrechnung prognostizierte am frühen Nachmittag, dass Heinz Brand seinen Sitz an die FDP abtreten müsse und BDPler Duri Campell wohl ebenfalls ausscheiden würde. Dass es knapp werden würde, damit rechnete man. Aber dass ausgerechnet eine SP-Frau Brand beerben würde, darauf wetteten um 16 Uhr in Graubünden nur noch die abgebrühtesten linken Optimisten.
Die endgültigen Resultate waren für 16 Uhr angekündigt. Dann für 16.15 Uhr, für 16.30 Uhr, für 16.45 Uhr. Im Viertelstundentakt wurde man vertröstet. Der Stimmung tat es keinen Abbruch. Das Medienzentrum Chur, ein paar Dutzend schmucklose Treppenstufen unter dem städtischen Beton, hatte sich im Lauf des Sonntagnachmittags längst in eine gesellige Apérorunde verwandelt. Alles deutete auf einen geruhsamen Verlauf hin.
Oben, draussen, trieb der Föhn Warmluft durch die Gassen, im politischen Kellergeschoss wärmte man sich mit Weisswein und Rückenreiben. Hier prallten keine politisch unterschiedliche Weltanschauungen zusammen, hier badete man in einer Wolke aus Harmonie. Dem Wahlkampf habe es an Kampf gefehlt, beschied die Südostschweiz im Vorfeld. Das ist, wenn man sich die Szenen zu Gemüte führte, eine grobfahrlässige Untertreibung. Stefan Engler, CVP-Ständerat, soeben mit einem Glanzresultat wiedergewählt, liess sich zusammen mit Martin Schmid (FDP) herzen und küssen und nahm Gratulationen ab. Der Herausforderer Jon Pult (SP) lag wie erwartet abgeschlagen auf Platz 3. Gegen die zwei unzertrennlichen blieb er chancenlos.
Und dann ging alles ganz schnell. Kurz nach 17 Uhr brach plötzlich Tumult aus in der Mitte des Saals. Sandra Locher Benguerel erfuhr, dass sie gewählt ist. Unglauben herrschte im Raum. Zwei Stimmen für die Sozis, raunte es aus einer Gruppe Senioren am Stehtisch nebenan. Unfassbar. Sie sei unter Schock gestanden in diesem Moment, sagte die Mittelstufen-Lehrerin später. 64 Stimmen machten den Unterschied, stellte sich später heraus. 64 Stimmen Vorsprung hatte Locher vor Josias Gasser, mit dessen GLP die SP und die Grünen als Klimaallianz eine Listenverbindung bildete.
Der Moment, als Sandra Locher (SP Graubünden) erfährt, dass sie in den Natonalrat einzieht. @watson_news #WahlCH19 #gr pic.twitter.com/e1s0rUzhgz
— William Stern (@william_j_stern) October 20, 2019
Während Locher von einer Schulter an die nächste weitergereicht wurde, musste Heinz Brand den Medien erklären, dass er eigentlich nicht viel falsch gemacht habe. Dass das alles ein bisschen überraschend kam. Und dass man jetzt damit umgehen müsse. Auf der Stirn des 64-Jährigen bildeten sich Schweissperlen, der Gesichtsausdruck blieb stoisch. Der Präsident der SVP Graubünden hatte Zeit, sich für diesen Moment vorzubereiten. Viel Zeit. «Brand wurde parteiintern abgesägt», sagte Südostschweiz-Politexperte Clau Dermont. Vor einigen Jahren war er noch ein Schwergewicht in der Partei und Bundesrats-Anwärter. Jetzt ist seine politische Zukunft ungewiss. «Die SVP wollte nicht, dass irgendjemand im Kanton Martullo-Blocher vor der Sonne steht», so Dermont. Das wurde Brand zum Verhängnis.
Derweil Brand im Untergeschoss höflich den Überraschten mimte, oblag es Magdalena Martullo-Blocher im Eingangsbereich, Emotionen zu schüren. Zerknirscht beantwortete sie die Fragen des RTR-Journalisten, ärgerte sich darüber, dass das Interview verzögert wurde, rollte mit den Augen, winkte immer wieder genervt ab, spielte also auf der ganzen Klaviatur der blocherschen Missmutigkeits-Gestik, bevor sie wenig später abrauschte, vorbei an den in den Kantonswappen geschmückten Lorbeerblättern, ins sich anbahnende Bündner Abendblau, das im Hause Blocher angesichts des nationalen Abschneidens der Partei wohl mit ein paar karmesinroten Zornesspritzer angereichert wurde.
Zurück liess Martullo-Blocher Brand, ein paar GLPler, die mittlerweile vom Weiss- zum Rotwein gewechselt hatten, einige Senioren, die früher einmal einflussreiche Positionen in Wirtschaft, Politik und den Medien bekleidet hatten, und sich an einem Wahlsonntag noch immer gern unter die Mächtigen mischen, und einen Mann, der seinen eigenen politischen Tod betrauerte.
Es gibt keinen Politiker Duri Campell mehr, sagte Duri Campell mit einem traurigen Lächeln. Der BDPler mit dem gesunden Schnauz und dem behutsamen Wesen wurde Opfer eines Polit-Selbstmords mit Ankündigung, niedergestochen vom eigenen Sanftmut. Campell sagt: «In meiner ruhigen Art wurde ich nicht gehört.» Ein lauter Campell aber sei gar kein Campell. Es ist das Schicksal des stillen Schaffers, bei dem man nie ganz sicher ist, ob er denn wirklich auch schafft, oder einfach nur still ist.
Irgendwann war dann fast nur noch er da, Duri Campell, von einem Bildschirm zum nächsten wandernd, den Blick auf die immergleichen Resultate gerichtet, als ob die Zahlen gelogen, die Technik versagt hätte, und irgendwann, wenn man nur fest genug starrt, sich alles wieder zurechtbiegen würde.
Aber auch Graubünden ist nicht gross genug für zwei Wunder an einem Tag. Während Campell sich nach 30 Jahren in der Politik verabschiedet, steht die BDP vor einem Scherbenhaufen. Wieder einmal. Schweizweit gingen vier von sieben Nationalratssitze verloren. «La casa dei morti», sagte Hansmartin Schmid, selbsternannter senior editor des Bündner Tagblatts zwar trocken. Aber falls es doch ein zweites Wunder gab, dann ist es, dass eine Partei so oft sterben kann und doch noch nicht tot ist.
Die BDP sei an einem Scheideweg angelangt, sagte Politologen Dermont. «In dieser Verfassung spielt sie keine Rolle mehr auf nationaler Ebene. Entweder, sie geht eine Fusion mit einer anderen Mittepartei ein – oder sie schrumpft endgültig zur Regionalpartei.»
Der Trauerstimmung entfloh man, indem man das Medienhaus in Richtung Altstadt verliess. Vorbei an dem Glockenspiel am Postplatz, «We are sailing», hinein in die Pflastersteingassen, bis zur Beiz Werkstatt, wo eine Hundertschaft von SP-Mitgliedern, Sympathisanten und Klima-Allianz-Kämpfern mit einem ausgerollten Plakat die beiden Wahlsieger, Jon Pult und Sandra Locher Benguerel empfing.
Freudentränen, ungläubiges Kopfschütteln, wieder Freudentränen, mehr Jubel, ohrenbetäubender Jubel, Blumensträusse, Prosecco-Flaschen, Jubel und Jauchzen und inmitten dieses Pulks Pult, der, auf die Frage, wie es ihm denn jetzt gerade so gehe, sehr glaubwürdig sagt: «Geil geil geil unglaublich überwältigend!» Bis sich Pult und Locher durch das Spalier gekämpft hatten, vergingen gute 10 Minuten.
Auf dem Podium unter einer Discokugel erzählt Locher dann tatsächlich von einem «Wahlkrimi» und wie sie in der Liveschaltung das Mikrofon mit beiden Händen festhalten musste, weil sie so gezittert hatte vor Glück und Aufregung. Und sie erinnerte daran, dass dies auch eine Frauenwahl war, weil mit ihr, Martullo-Blocher, und der ebenfalls neu gewählten Anna Giacometti von der FDP der Kanton nun von einer Frauenmehrheit im Nationalrat vertreten wird.
Dann trat Pult ans Mikrofon, staatsmännisch und mit Bariton, etwas gefasster als noch vor einigen Minuten, sprach von einem Wechselbad der Gefühle, wechselte fliessend von Deutsch zu Italienisch zu Rätoromanisch und wieder zurück, mahnte an die Kämpfe in Rojava und das Leid der kurdischen Schwestern und Brüder, und betonte schlussendlich, dass heute eben doch die Beste aller Welten eingetroffen sei.
Irgendjemand stimmte kraftvoll die «Internationale» an, und Pult verabschiedete sich mit den Worten, er wolle jetzt endlich, endlich ein Bier trinken, an den Bartresen.
Die SP hatte bei der Einladung zu der Wahlparty geschrieben: «Getränke sind – soweit das Budget reicht – offeriert.» Es ist anzunehmen, dass das Budget angesichts der Umstände nicht allzuweit reichte.