Wetternostalgiker freuen sich über den eisigen Charakter des gerade erst eingebrochenen Winters. Die Höchsttemperatur in den ersten 10 Tagen des angebrochenen Jahres vermochten kaum die Ein-Grad-Grenze zu überschreiten.
Für Leute deren Schlafplatz sich normalerweise im Freien befindet, wird die momentane Wettersituation zum bitteren Überlebenskampf.
Seit November verloren in Polen 65 Menschen ihr Leben am Kältetod. Bei Temperaturen von bis zu minus 25 Grad mussten auch die Westukraine und die Slowakei je vier Todesfälle wegen Unterkühlung verzeichnen.
Die eisige Polarluft aus Skandinavien zieht derweil auch tief in den Süden des Kontinentes. Trotz speziellen Schlafsäcke, die Papst Franziskus verteilen liess, starben in Rom sieben Obdachlose. In Griechenland brach die Kälte bis über die Inseln der Ostägäis ein. Weil auf Chios und Lesbos nicht ausreichend beheizbare Wohncontainer zur Verfügung stehen, campen dort viele Menschen noch in Sommerzelten im Freien.
Auch in der reichen Schweiz haben trotz Schnee und eisigen Temperaturen längst nicht alle ein Dach über dem Kopf. Die Truppen der SIP Zürich (Sicherheit Intervention und Prävention) wissen, dass derzeit allein in der Stadt Zürich rund zehn bis fünfzehn Personen im Freien schlafen.
Die SIP steht mit diesen Personen in engem Kontakt. Auf nächtlichen Patrouillen kontrollieren sie die gängigsten Schlupflöcher, stellen sicher, dass sie gut ausgerüstet sind und versuchen die Betroffenen zu überreden, sich in einer der Notunterkünfte einzuquartieren. Gelingt dies nicht, wägen die Sozialarbeiter die Risiken ab und ziehen bei Bedarf einen Notarzt bei.
In der Stadt Zürich stehen über 130 Notschlafplätze zur Verfügung. Dazu kommen Dutzende zu Betten umfunktionierte Flughafen-Bänke, welche für viele die letzte Rettung vor dem Kältetod sind.
Eveline Schnepf ist Leiterin der Notschlafstelle Zürich. An der Rosengartenstrasse im Stadtteil Wipkingen checken jeden Abend bis zu 52 obdachlose Menschen ein.
Um Punkt acht Uhr Abends öffnet sich die Pforten zum warmen Schlafplatz. Für Stadtzürcher ist eine sichere Nacht hier nur noch ein Fünfliber entfernt. Wer in der Notschlafstelle übernachten will, muss entweder in Zürich angemeldet sein oder von der Zentralen Abklärungs- und Vermittlungsstelle (ZAV) zugewiesen werden.
«Wer die Anforderungen nicht erfüllt, namentlich Leute ohne Wohnsitzbestätigung, dürfen für eine Nacht bleiben. In die Kälte hinaus schicken wir niemanden», versichert Schnepf, die schon seit 21 Jahren in der Notschlafstelle arbeitet.
Vom gescheiterten Banker bis zum Hardcore-Junkie – die Notschlafstelle ist ein Gemenge von schicksalsgeplagten Seelen. «Unsere Klientinnen und Klienten sind sehr unterschiedlich. Sie aufzunehmen und zu betreuen, gelingt einem nicht mit reiner Administration. Dazu braucht es Empathie. Eine gesunde Beziehung zu den Klienten zu pflegen ist für das Funktionieren unseres Hauses unverzichtbar», betont Schnepf.
Sobald die 52 Obdachlosen eingecheckt werden, ist aber doch Pragmatik gefragt. Es gibt ein Stockwerk nur für Frauen, jeweils ein Zimmer für Raucher und Nichtraucher und ein anderes, in dem harte Drogen konsumiert werden dürfen. «Wir geben auch sauberes Spritzenmaterial zur HIV- und Hepatitisprävention ab.»
Viel weniger institutionalisiert geht es im Open Heart nahe der Langstrasse zu und her. Die Notschlafstelle der Heilsarmee sieht aus wie eine spärlich eingerichtete Stube in der Grösse eines Primarschul-Klassenzimmers. Lagerhaustische stehen mittig im Raum, an der Wand das Wappen der christlichen Gemeinschaft, dem ein hölzernes Kreuz gegenüber steht.
Patrick Brun übernimmt an diesem Abend die Nachtschicht. Es ist seine vierte Saison im Open Heart. Zu Hause hat er sein eigenes Bett an der Wärme, darüber sei er sehr dankbar. «Aber auch ich kannte Lebenssituationen, die nicht sehr blumig waren. Ich kann mich sehr gut in die Leute hier hineinversetzen.», erzählt der engagierte Sozialhelfer watson.
Um zehn Uhr Nachts wird die Tür geöffnet. Zusammen mit dem Piket-Dienst legt Patrick Matratzen auf den Boden. Zwei dreifach-Kajüten stehen an der Fensterseite. «Bis zu sechs Matratzen können wir auf den Boden legen. Bei mehr als 12 Leuten wird es zu stickig hier drin.»
Draussen warten bereits acht Nasen in der Kälte. Ein paar rauchen. Zwei trinken Bier. Ein Ehepaar versucht sich mit einer engen Umarmung warm zu halten. Ein Schweizer Weltenbummler sitzt neben seinem grossen Wanderrucksack auf dem Boden: «Ich bin seit zwei Jahren am Wandern. Ich habe bis jetzt immer gezeltet. Jetzt geht das einfach nicht mehr. Ich bin froh um diese Möglichkeit. Ich wüsste nicht, wo ich sonst hingehen würde.»
Die einzige Bedingung, um im Open Heart zu übernachten, ist ein gültiger Ausweis. Für Leute mit ungewissem Aufenthaltsstatus gibt es Aufenthaltsfristen, wobei oft beide Augen doppelt und dreifach zugedrückt werden.
Für Patricks Bettnachbar Joseph* ist der Kampf um einen warmen Schlafplatz einiges schwieriger. Er ist Rumäne und somit ein Arbeitsmigrant. Für ihn gilt in jeder Notschlafstelle eine Aufenthaltsfrist von drei bis sieben Nächten. «Im Iglu in Seebach habe ich meine Frist ausgenutzt. Hier darf ich jetzt noch zwei Mal übernachten. Danach muss ich zurück nach Rumänien. Draussen schlafen kann ich nicht und Arbeit finde ich auch keine. Ohne diese Einrichtungen wäre ich längst erfroren. Ich bin sehr dankbar.»
* Namen der Obdachlosen wurden geändert.