Eine Firma veranstaltet ein grosses Fest für ihre Belegschaft – und niemand geht hin? So weit wird es kaum kommen, wenn Tamedia am Mittwoch den 125. Geburtstag des «Tages-Anzeigers» in der Samsung Hall in Dübendorf feiert. Dennoch ist absehbar, dass ein Teil der 3400 Mitarbeitenden des grössten privaten Medienkonzerns der Schweiz durch Abwesenheit glänzen wird.
Bei den Journalistinnen und Journalisten hält sich die Feierlaune in Grenzen. Das gilt besonders für jene von «Berner Zeitung» und «Bund», sie veranstalten am Mittwoch sogar eine Art «Gegenfest» mit Speis, Trank und Musik. Auch in der Westschweiz und in Zürich planen offenbar viele, der Dübendorfer Sause fernzubleiben, behauptet der anonyme Twitteraccount «Inside Tamedia».
Tamedia muss das 125-Jährige ohne die JournalistInnen feiern. Diese boykottieren das Fest aufgrund des Abbaus im Konzern. Gefeiert wird trotzdem: Im Restaurant Mappamondo in Bern findet am 9. Mai ab 17h ein alternatives Fest statt. Für Essen, Getränke und Live-Acts ist gesorgt.
— Inside Tamedia (@inside_tamedia) 2. Mai 2018
Wie kann es sein, dass ein Unternehmen einen Teil seiner Belegschaft dermassen verärgert, dass diese nicht einmal für ein gemütliches Beisammensein zu haben ist?
Die Entwicklung im Hause Tamedia lässt mich nicht kalt, und das nicht nur, weil ich in der gleichen Branche arbeite, sondern auch aus persönlichen Gründen. Der «Tages-Anzeiger» war «meine» Zeitung, seit ich lesen kann, also seit bald einem halben Jahrhundert. Er verschaffte mir Zugang zum Weltgeschehen und weckte in mir den Wunsch, Journalist zu werden.
Während meines Studiums an der Universität Zürich erhielt ich die Chance, für den Tagi zu schreiben. Das längst eingestellte Ressort Regionalsport suchte freie Mitarbeiter. Ich meldete mich und erhielt sogleich den Auftrag, über ein Bogenschiess-Turnier in der Stadthalle Bülach zu berichten. Während ich den Artikel in die Schreibmaschine – jawohl, Schreibmaschine! – tippte, schwitzte ich Blut und Wasser. In der Nacht vor dem Erscheinen machte ich kaum ein Auge zu.
Mit zitternden Händen öffnete ich am Morgen die Zeitung. Ich war überzeugt, dass die Story aus dem Blatt geflogen war. Doch sie war drin, üppig bebildert. Mein allererster professioneller Artikel war gleich in «meiner» Zeitung erschienen! Ich durfte in der Folge weitere Berichte für den Regionalsport schreiben. Damit war mein Karriereweg vorgezeichnet: Journalism or bust!
Mein grosser Traum aber, als «richtiger» Redaktor beim Tagi zu arbeiten, blieb unerfüllt. Irgendwie wollte es sich nie ergeben. Heute hält sich mein Bedauern in Grenzen. Der «Tages-Anzeiger» ist für mich kein Objekt des Begehrens mehr, sondern des Bedauerns.
Das liegt nicht an der Arbeit der Journalistinnen und Journalisten. In mancher Hinsicht ist der Tagi eine bessere Zeitung als früher, professioneller gemacht und lesbarer. Der Konzern aber honoriert dies nicht, im Gegenteil. Die Tageszeitungen von Tamedia stehen unter einem permanenten Spardruck. Kein Wunder, befindet sich die Stimmung in den Redaktionen auf einem Tiefpunkt.
Der «Tages-Anzeiger» war einst eine Cashcow. Insbesondere der «Stellenanzeiger» war dermassen lukrativ, dass der Verlag gleich hätte Banknoten drucken können. Seine Einstellung vor einigen Jahren markierte denn auch eine Zäsur. Das Geschäft mit den Rubrikeninseraten – zu denen auch Autos, Immobilien und andere Kleinanzeigen gehören – war endgültig ins Internet abgewandert.
Gerade Tamedia verfügt jedoch über die entsprechenden Plattformen und macht damit glänzende Geschäfte. Der Konzerngewinn betrug letztes Jahr 170 Millionen Franken. Auf den ersten Blick scheint Tamedia die goldene Formel gefunden zu haben, um auch im Online-Zeitalter ein umfassendes journalistisches Angebot garantieren und finanzieren zu können.
Das aber geschieht nicht. Der Konzern verlangt vielmehr, dass jedes Produkt selbsttragend arbeitet. Das trifft die bezahlten Tageszeitungen hart. Nicht darben müssen die Aktionäre, sie erhalten den Löwenanteil des jährlichen Konzerngewinns als Dividenden. Man fühlt sich zurückversetzt in die Zeiten von Shareholder-Value-Prediger Martin Ebner.
Deshalb wird auch die abgemagerte Kuh «Tages-Anzeiger» weiter kräftig gemolken. Letztes Jahr wurden die Ressorts Inland, Ausland, Wirtschaft und Sport mit jenen von «Berner Zeitung», «Bund» und den Zürcher Regionalzeitungen zu einer «Super-Redaktion» zusammengefasst. Sie produziert für alle Titel mehr oder weniger die gleichen Artikel. Bald stösst die «Basler Zeitung» hinzu.
Diese Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Als Tamedia die Neuorganisation ankündigte, hiess es, niemand werde entlassen. Nun aber sagte CEO Christoph Tonini im März, er könne nicht ausschliessen, «dass es in Zukunft zu Kündigungen kommen wird». Auf den Redaktionen ist man überzeugt, dass damit nur aus Rücksicht auf das Jubiläumsfest zugewartet wird.
Unter solchen Umständen fällt das Feiern schwer. Auch andere Massnahmen tragen nicht zur Motivation bei. Beim «Tages-Anzeiger» wurden in letzter Zeit zwei Mediengeschichten (über NZZ-Chefredaktor Eric Gujer und Somedia-Verleger Hanspeter Lebrument) gestoppt oder nachträglich aus den Archiven gelöscht. Ein Vertrauensbeweis für die eigenen Redaktoren sieht anders aus.
Man fragt sich nicht nur in diesen Fällen, warum der Tagi sich selbst das Leben unnötig schwer macht. Das betrifft etwa die Themensetzung auf der Frontseite. Als Aufmacher erschien kürzlich ein Bericht über ein «Geheimprojekt» zur Zusammenlegung von Bibliotheken an der Uni Zürich. Nichts gegen die Story an sich, aber fahren die Leser wirklich auf solche Themen ab?
Weitere Beispiele lassen sich mühelos aufzählen. Sie erwecken den Eindruck, dass der Tagi eine Zeitung für Newsjunkies und andere Journis sein will. Das unterinformierte Massenpublikum hingegen scheint sich zu fragen, wie lange es noch die immer höheren Abopreise für das immer schmalere Blatt berappen will. In der jüngsten Erhebung der Wemf AG für Werbemedienforschung hat keine Tageszeitung prozentual so viele Leser verloren wie der «Tages-Anzeiger».
Es ist in jeder Beziehung eine unschöne Entwicklung. Ich sage das nicht aus Schadenfreude, obwohl ich bei einem Konkurrenzprodukt arbeite. Es schmerzt im Gegenteil sehr, den Niedergang eines Produkts zu verfolgen, dem ich in mancher Hinsicht viel verdanke.