Es heisst, das Strafrecht sei die Königsdisziplin in der Zunft der Rechtsanwälte. Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen einzuwenden?
Andreas Josephsohn: Nein, gar nichts. Ich bin seit bald 30 Jahren als Strafverteidiger tätig und finde natürlich auch, dass es eine wichtige Aufgabe ist.
Erzählen Sie uns doch etwas über die Motivation eines Strafverteidigers!
Als Strafverteidiger ist man oft mit Situationen konfrontiert, in denen Menschen existenzielle Nöte erleben. Es geht immer um sehr viel, unter Umständen um sehr lange Freiheitsstrafen, um Landesverweisung, um die Spaltung ganzer Familien. Es geht um Arbeitsplatzverlust, um Geldnot und oft auch um grosse Emotionen. Es geht für die Betroffenen also sehr oft ums Ganze. Für mich sind solche Situationen motivierend und sehr spannend. Aber da bin ich nicht allein: Menschliche Tragödien interessieren auch die Öffentlichkeit viel mehr als die unterschiedliche Auslegung eines Vertrages, mit dem sich die Kollegen in den Wirtschaftskanzleien tagtäglich beschäftigen.
Im Strafrecht geht es also um den Menschen und nicht ums Geld. Beim Raiffeisen-Prozess ging es aber um beides.
Das ist eine sehr ungewöhnliche Kombination, die den Prozess auch für die Öffentlichkeit so interessant gemacht hat. Die persönliche Tragödie des gefallenen Starbankers Pierin Vincenz, den man in den vergangenen 20 Jahren landauf, landab beklatscht hatte, macht quasi automatisch auch die von ihm und seinen Mitbeschuldigten getätigten Geschäfte interessant. Wäre Pierin Vincenz ein unbekannter Schweizer Firmenchef, dem exakt dasselbe vorgeworfen wird, hätte sich keine Journalistin und kein Journalist für den Fall interessiert.
Ist ein derart mediatisierter Strafprozess auch für die Verteidiger etwas Besonderes?
Ja, unbedingt. Ein solcher Prozess ist für jeden Strafverteidiger wahnsinnig aufregend und auch motivierend, es ist sicher ein Höhepunkt in der beruflichen Laufbahn. Man steht im Rampenlicht und strengt sich noch mehr an, als man dies sonst schon tut. Man wird ständig bewertet, kämpft um gute Noten und kann allen zeigen, wie engagiert und gut man die Verteidigung führt. Eine schönere Bühne kann sich ein Strafverteidiger kaum wünschen.
Ist das eine Gelegenheit, den eigenen Marktwert zu heben?
Der Raiffeisen-Prozess zahlt sich für die involvierten Verteidiger sicher aus. Jedes grössere Unternehmen in der Schweiz hat diesen Prozess mehr oder weniger eng verfolgt. In den Rechtsabteilungen und Chefetagen der Firmen weiss man natürlich, dass solche Probleme auch im eigenen Betrieb plötzlich auftauchen können. Deshalb merkt man sich dort auch die Namen der im Raiffeisen-Prozess involvierten Rechtsanwälte.
Das mit dem «sich auszahlen» ist wörtlich gemeint?
Ja, natürlich. Wer sich mit einem solchen Mandat positiv hervortun kann, kommt an weitere dicke Mandate heran. In anderen Branchen würde man vermutlich von Grossaufträgen reden. Da wird auch sehr schön fakturiert.
Dann ist das Muster im Strafrecht doch nicht so viel anders als im Wirtschaftsrecht.
Doch. Es gibt ja nicht nur Wirtschaftsstrafrecht. Ich mache zum Beispiel mehr klassisches Strafrecht und dieser Markt funktioniert anders. Nach meiner Erfahrung, die ich mit etlichen Kollegen teile, passiert auch nach einem spektakulären Prozess erstaunlich wenig. Auch dann, wenn das Verfahren für den eigenen Mandanten gut herausgekommen ist und ich für meine Arbeit gute Bewertungen erhalten habe. Man klopft mir dann vielleicht ab und an auf die Schulter, aber es ist nicht so, dass plötzlich jeder Mörder in der Schweiz von mir verteidigt werden möchte.
Kommen wir auf den Raiffeisen-Fall zurück. Pierin Vincenz nutzte die Gelegenheit für ein Schlusswort. Hat er damit noch etwas bewirkt?
Auf den Entscheid des Gerichts hat ein solches Schlusswort absolut keinen Einfluss mehr. Herr Vincenz mag es gemacht haben, um sich im Blick auf seine gesellschaftliche Stellung der Öffentlichkeit noch einmal zu erklären.
Das Urteil wird am 13. April publiziert. Ist es schon gefällt?
Ja, grösstenteils schon. Mindestens teilweise ist es auch schon geschrieben.
Warum ist das so?
Das hat auch mit dem Prozess der Entscheidungsfindung des Gerichtes zu tun. In einem Gericht gibt es neben dem Gerichtspräsidenten auch sogenannte Referenten. Der Referent ist die Person, die sich mit dem Fall am intensivsten auseinandergesetzt hat. Dieser Referent muss den anderen Richtern in der Urteilsberatung einen Antrag für ein Urteil stellen und diesen auch detailliert begründen. Damit das so geschehen kann, muss der Antrag, der dann meistens auch zum Urteil wird, wenigstens teilweise bereits verschriftlicht sein.
Der Strafrechtsprofessor Marcel Niggli prophezeite im «Tages-Anzeiger», die beiden Hauptbeschuldigten Vincenz und Beat Stocker würden verurteilt, weil sie über drei Monate in Untersuchungshaft gesessen haben. Wie kommt er darauf?
Die Aussage ist vielleicht etwas provokativ, aber nicht ganz falsch: Wer zu Unrecht in Untersuchungshaft gesessen hat, muss vom Staat entschädigt werden. Und das geht dem Gericht manchmal gegen den Strich. Die Lösung ist dann, nicht freizusprechen.
Sie bezeichnen das doch nicht im Ernst als Lösung?
Doch. Eine Verurteilung ist eine Lösung. Der Beschuldigte muss nicht entschädigt werden. Aber aus rechtsstaatlicher Sicht ist ein solches Urteil im Ergebnis natürlich hanebüchen.
Um welche Beträge geht es bei Entschädigungen?
Ich würde schätzen, für drei Monate Untersuchungshaft gibt es im Normalfall etwas mehr als 10'000 Franken. Da wird ein Tagessatz von vielleicht 200 Franken festgelegt, der aber mit der Haftdauer abnimmt, weil das Gericht davon ausgeht, dass man sich mit der Zeit an die Mühsal der Haft gewöhnt, und die Entschädigung, je länger die Haft dauert, per Tag gerechnet, geringer ausfallen kann.
Aber 10'000 Franken würden für Stocker und Vincenz wohl kaum reichen, oder?
Sicher nicht. Bei solchen Personen kommen nebst der Entschädigung für den Freiheitsentzug durch die Haft noch Dinge wie massive Rufschädigung hinzu- und auch die durch die Haft und das Verfahren entgangenen Einnahmen. Und vergessen Sie nicht die Entschädigung für die Verteidiger, die ja auch von der Frage schuldig oder unschuldig abhängt.
Und daran denkt das Gericht, wenn es Urteile spricht?
Genau. Niggli wollte mit seiner Bemerkung sagen, dass ein Gericht solche Erwägungen bewusst oder unbewusst in ein Urteil einfliessen lässt. Das ist nicht abwegig. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Fall vor sich, in dem die Beweislage vielleicht etwas knapp, aber eine Verurteilung immer noch möglich ist. Da kann es dann eben eine Rolle spielen, ob der Staat dem Beschuldigten bei einem Freispruch noch viel Geld hinterherschiessen muss.
Viele sagen, auch der Raiffeisen-Fall stehe beweismässig etwas auf der Kippe.
Eben. Darum hat Niggli vermutlich diese Prognose gemacht.
Vincenz' Verteidiger Lorenz Erni klagte am letzten Prozesstag über die «schier unüberblickbare Menge» an Beweismaterial, welche die Staatsanwaltschaft zusammengetragen habe. Warum ist das ein Grund zur Klage?
Ein Verteidiger muss diese Akten alle kennen, um sicher zu sein, dass er nichts übersehen hat, was seinem Mandanten nützen könnte. Das ist einfach bei solchen Aktienmengen ein irrsinniger Aufwand für eine Verteidigung. Ein Strafverteidiger hat natürlich bei weitem nicht die gleich grossen personellen Ressourcen wie die Staatsanwaltschaft. Wir sind in der Regel Einzelkämpfer. Die Staatsanwaltschaft ist hier in einer massiven Übermacht und das tangiert das faire Verfahren respektive den sogenannten Anspruch auf Waffengleichheit. (saw/aargauerzeitung.ch)
Rethinking
Ein Tagessatz von 200 pro eingesessenen Tag ist ja eher mickrig…
Hat man während dieser Zeit trotzdem Anspruch auf Lohn vom Arbeitgeber?
Was passiert wenn man danach den Job verliert und die Karriere Bachap geht?
Bekommt man für all dies eine Entschädigung wenn man unschuldig in Untersuchungshaft gesteckt wurde?
Ich frag nicht für Vinceenz & Co. sondern für Bürger wie dich und mich…