Total 100 Milliarden Franken – so viel Geld solle die Schweiz ausgeben, um in der Coronakrise zu bestehen. Vor zwei Wochen stellte Jan-Egbert diese gewaltig wirkende Summe in den öffentlichen Raum. Doch am Freitag stockte der Bundesrat die Hilfsgelder bereits auf 60 Milliarden auf. Vom Leiter der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich wollte CH Media wissen, ob die Wirtschaft nun gut geschützt ist.
Herr Sturm, werden die 100 Milliarden reichen?
Jan-Egbert Sturm: Die 100 Milliarden sind als Obergrenze zu verstehen, die wir hoffentlich nie erreichen. Mein Co-Autor, ETH-Professor Hans Gersbach, und ich wollten damit sagen: Wir können so viel ausgeben – der Bund hätte noch immer solide Finanzen.
Woher kommt die Zahl?
Heute liegt die Staatsverschuldung bei etwa 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts, das 2019 erwirtschaftet wurde. Wenn wir diese Wirtschaftsleistung nach der Krise wieder erreichen, könnten wir 100 Milliarden Franken ausgeben – und die Staatsverschuldung betrüge erst 55 Prozent. Wir wären 5 Prozentpunkte unter den Maastrichter-Kriterien. Diese geben vor, dass die Verschuldung 60 Prozent des BIP eines Landes nicht übersteigen soll.
Wie Bundesrat Ueli Maurer sagte, will die Schweiz aber nicht in die EU – warum sollen die 60 Prozent dennoch wichtig sein?
Viele Leute denken, eine Staatsverschuldung unter diesem Niveau sei verkraftbar. Welchen Wert diese 60 Prozent genau haben, ist tatsächlich durchaus umstritten.
Stellen wir die Grundsatzfrage: Warum soll der Staat eingreifen?
Wir sind von den direkten und indirekten Folgen der Pandemie alle betroffen, die ganze Gesellschaft. Daher muss der Staat als Versicherer in Leistung treten und dafür seine Bilanz nutzen.
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Das heisst: Nach der Krise steigen die Steuern?
Nicht für die gesamte Bevölkerung, das wird nicht nötig sein. Wir schlagen jedoch vor, die Steuern auf hohe Unternehmensgewinne befristet zu erhöhen. Es wäre ein Corona-Zuschlag. Unternehmen, die in der Krise gut wirtschaften konnten, würden etwas mehr Steuern zahlen.
Warum sollen solche Unternehmen mehr zahlen?
In dieser Krise sind hohe Gewinne dem Zufall geschuldet. Krisen sind zwar immer ungerecht: Es hängt oft nicht von der eigenen Leistung ab, wer sie gut übersteht. Aber für die aktuelle Krise gilt dies ganz besonders. Niemand hat sie vorhersehen können. Einige Unternehmen werden nun lange keine Gewinne mehr schreiben. Andere werden aus der Krise einen Profit schlagen oder sind zufällig in Branchen tätig, die besser davon kommen. Diese würden einen Teil ihrer zusätzlichen Gewinne abliefern.
Diese Unternehmen wären dennoch wenig begeistert.
Die Wirtschaft könnte sich solidarisch zeigen, was wichtig für ihren gesellschaftlichen Rückhalt ist. Es wäre ein Beitrag, damit alle die Kosten dieser Krise gemeinsam tragen.
Warum lassen sich allgemeine Steuererhöhungen vermeiden?
Wir werden die Verschuldung auch ohne dieses Instrument wieder senken können. Die Schweiz hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie haushalten kann. Die Schuldenbremse hat dabei geholfen. Wichtig wird auch sein, dass die Schweizer Wirtschaft wieder wächst. So können wir die Verschuldung, gemessen am Bruttoinlandprodukt, leichter senken.
Steuersenkungen wird es aber auch nicht geben?
Nein, davon brauchen wir nicht zu reden. Die sind erst einmal vom Tisch.
Tut der Staat aktuell genug – oder braucht es mehr?
Professor Gersbach und ich glauben, dass es weitere Instrumente braucht. Der Staat sollte die Unternehmen zusätzlich entlasten. Zum Beispiel sollte er teilweise die Mietkosten übernehmen oder auch Zinszahlungen. Und zwar nicht via Kredit, sondern à fonds perdu. Es wäre eine Art von Kurzarbeit-Regime für Kapital. Der Staat soll nicht alles übernehmen, aber eine gewisse Leistung ist angebracht.
Trotz aller der Hilfen, die es schon gibt? Kurzarbeit für die Arbeitnehmer. 20 Milliarden Franken an Krediten, meist zu einem Nullzins.
Kurzarbeit und Kredite allein reichen nicht. Sind nach der Krise viele Betriebe überschuldet, werden sie auf Jahre hinaus nicht investieren. Für Innovationen fehlt das Geld. Die Wirtschaft würde weniger stark wachsen, und die Unternehmen sind weniger wettbewerbsfähig im Vergleich zum Ausland.
Das wäre nach der Krise – man könnte später reagieren.
Alles, was wir jetzt nicht tun, kommt uns später teurer zu stehen. Und es könnten schon heute Unternehmen keine Perspektive mehr für sich sehen – und schliessen. Dadurch könnte die Arbeitslosenquote in der Schweiz stark steigen. Sie hat sich bereits von 2.5 auf 3.1 Prozent erhöht.
Bundesrat Guy Parmelin sagt, der Bund könne sich A-fonds-perdu-Beiträge nicht leisten.
Wir sehen das anders. Solche Beiträge wären ohne grössere Probleme zu stemmen, ohne die Obergrenze von 100 Milliarden Franken zu überschreiten. Deshalb kann ich die Aussage von Bundesrat Parmelin nicht ganz nachvollziehen.
Nicht alles, was man sich leisten kann, sollte man sich leisten.
Es ist gut investiertes Geld. Wir müssen die Wirtschaft nun einfrieren, die Strukturen müssen erhalten bleiben, damit wir nach dem Winterschlaf wirklich durchstarten können. So behalten wir auch die staatliche Verschuldung am besten im Griff.
Wir haben eine Gesundheitskrise und stecken erst am Anfang einer Krise der Realwirtschaft. Wird es auch eine Finanzkrise geben?
Ausschliessen lässt es sich nicht. Wenn Unternehmen reihenweise insolvent werden, womöglich ganze Branchen, dann wird dies den Finanzsektor vor grosse Probleme stellen. Wir hätten zur Gesundheits- und Wirtschaftskrise auch noch eine Finanzkrise. Das gilt es zu verhindern. Darum müssen wir Strukturen erhalten.
Normalerweise sind Ökonomen für einen Wandel der Strukturen.
Richtig. Aber es ist nicht der Moment dafür. Die Zahl der Konkurse darf keine extremen Ausmasse annehmen. Sonst haben wir eine Krise des gesamten Systems. Daher ist es wichtig, dass möglichst viele Unternehmen eine Perspektive haben. Dafür braucht es mehr staatliche Unterstützung, auch Beiträge à fonds perdu.
Aber eine Rund-um-sorglos-Versicherung wollen Sie auch nicht?
Nein, der Staat kann die Krise nicht im Alleingang meistern. Nach unserem Vorschlag soll er zum Beispiel nur einen Teil der Mieten übernehmen. Die Betriebe, ihre Vermieter und deren Geldgeber stehen auch in der Pflicht.
Für über 1 Millionen Menschen wurde Antrag auf Kurzarbeit gestellt, über 20 Prozent aller Erwerbstätigen. Wären sie ohne Kurzarbeit alle arbeitslos?
Wohl nur ein Bruchteil von ihnen. Wie viel genau, lässt sich nicht abschätzen. Den Staat kommt die Kurzarbeit dennoch billiger zu stehen, wie die Finanzkrise von 2008 gezeigt hat. Die Kosten von Arbeitslosigkeit sind sehr viel langwieriger.
Mit der Kurzarbeit werden jene geschützt, die eine Stelle haben. Was ist mit jenen, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen?
Für sie ist es besonders wichtig, dass uns das Einfrieren und wieder Auftauen der Wirtschaft schnell gelingt. Inmitten der Krise werden kaum neue Stellen geschaffen. Auch danach sind die Betriebe zunächst zurückhaltend. In einer Krise auf den Arbeitsmarkt zu kommen, kann Personen ein Erwerbsleben lang verfolgen. Sie sind im Durchschnitt öfter arbeitslos. Sie landen in tieferen Lohnkategorien und haben es schwerer, aufzusteigen. (aargauerzeitung.ch)
Ökonometriker
Es kann nicht sein, dass die Arbeitnehmer via ALV für sich selber aufkommen müssen, die Kapitaleigner aber vom Bund und damit vom Steuerzahler voll finanziert werden. Hier müssen alle mithelfen.
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