Angesichts der anziehenden Inflation aber auch des Fachkräftemangels dürfte das Lohnwachstum in der Schweiz in der kommenden Lohnrunde wieder grösser ausfallen als in den vergangenen Jahren. Die Unternehmen erwarten derzeit auf Jahressicht ein Wachstum der Löhne um durchschnittlich 1,6 Prozent, wie eine Umfrage der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich ergibt.
Die Unterschiede zwischen den Betrieben hinsichtlich der erwarteten Lohnanpassungen seien allerdings beträchtlich, heisst es in der am Freitag im «KOF Bulletin» veröffentlichten Umfrage. So rechneten mehr als 40 Prozent der befragten Betriebe mit einem Lohnwachstum bis in zwölf Monaten von 2 Prozent oder mehr, heisst es. Rund ein Viertel erwarteten dagegen ein Lohnwachstum von 0,5 Prozent oder weniger. An der KOF-Umfrage von Ende März beteiligten sich 1550 Unternehmen.
Bei den verschiedenen Branchen sind es vor allem die Finanzdienstleistungs-Branche, aber auch die Branchen Informationsdienstleistungen und Informationstechnologie, bei denen Lohnanstiege bis in einem Jahr von über 2 Prozent erwartet werden. Aber auch die von der Corona-Pandemie betroffene Gastgewerbe-Branche, die zuletzt über den Mangel an Fachkräften klagte, erwartet einen Zuwachs der Löhne in ähnlichem Ausmass.
Etwas geringere Lohnzuwächse um 1,5 Prozent erwarten dagegen die Betriebe der Architekturbranche, des Grosshandels oder der Chemiebranche. Rund 1 Prozent Lohnanstieg prognostizieren die Betriebe etwa im Gesundheitswesen oder in der Erziehungswesen. Nur ein schwaches oder gar kein Lohnwachstum erwarten dagegen die Druckbranche oder das Grundstückwesen.
Rund 90 Prozent der Schweizer Unternehmen passen ihre Löhne nur einmal im Jahr an, wie die Umfrage weiter ergab. Bei der grossen Mehrheit erfolgt die Lohnanpassung im Januar (66 Prozent), ein kleinerer Teil der Betriebe erhöht oder senkt die Löhne im Dezember (9 Prozent) oder im März und April (15 Prozent).
Dieser Rhythmus der Nominallohn-Anpassungen habe auch zur Folge, dass die Lohnentwicklung der konjunkturellen Entwicklung meist deutlich hinterherhinke, stellt die KOF fest. So hätten konjunkturelle Wendepunkte zum Beginn eines Kalenderjahres eine weniger unmittelbare Auswirkung auf die Lohnentwicklung – etwa auch der «Frankenschock» im Januar 2015 oder der Beginn der Coronapandemie im März 2020.
Entsprechend dürften die Nominallöhne 2022 noch kaum auf den Ukraine-Krieg und die dadurch ausgelösten Preissteigerungen reagieren. «Der Krieg wird erst die nächste Lohnrunde beeinflussen – und damit die Löhne im Jahr 2023», so die KOF-Ökonomen.
In der kommenden Lohnrunde dürften die Arbeitnehmenden den Ausgleich der aufgrund des Kriegs gestiegenen Konsumentenpreise verlangen. Die Firmen wiederum dürften die Forderungen mit Verweis auf die gestiegene wirtschaftliche Unsicherheit, Kostensteigerungen und möglicherweise einen Rückgang der Exportnachfrage kontern. Welcher Effekt überwiege, sei schwer vorauszusagen.
In ihrer letzten Konjunkturprognose war die KOF von einem Anstieg der Nominallöhne im laufenden Jahr 2022 um nur 0,8 Prozent ausgegangen. Das reiche nicht aus, um die erwartete Teuerung zu kompensieren, so die KOF-Ökonomen: Entsprechend dürften die Reallöhne im laufenden Jahr um fast 1 Prozent sinken. Für 2023 erwartet die KOF aber wieder einen Reallohnanstieg von 1,1 Prozent. (sda/awp)