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Zug, Tram, Bus: ÖV in der Schweiz trotz Kritik immer beliebter

Eine Uebersicht auf ein Perron mit angekommenen Zugsreisenden am Bahnhof Luzern am Donnerstag, 15. Juni 2023 in Luzern. (KEYSTONE/Urs Flueeler).
Der öffentliche Verkehr gewinnt an Beliebtheit.Bild: KEYSTONE

Warum der öffentliche Verkehr zurzeit trotz Kritik so erfolgreich ist wie nie

Der Marktanteil von Eisenbahn, Tram und Bus steigt stark an, während das Velo- und Autofahren nur schwach zulegen oder stagnieren. Das liegt an neuen Billetten und Stau – aber nicht nur.
01.11.2025, 13:0801.11.2025, 13:08
Stefan Ehrbar / ch media

Das Tessin wird bald im S-Bahn-Takt bedient: Ab dem Fahrplanwechsel am 14. Dezember verlassen an Wochenenden 30 Direktzüge pro Tag den Zürcher Hauptbahnhof in Richtung Süden. Auch in Richtung Graubünden und zwischen Basel und Biel werden mehr Züge verkehren. Der Ausbau ist nötig, denn der öffentliche Verkehr wird so viel genutzt wie noch nie. Er gewinnt seit der Pandemie überraschend schnell Marktanteile. Das zeigen neue Daten.

Im Jahr 2023 wurden gemäss Daten des Bundes 22,5 Prozent der zu Lande bewältigten Kilometer mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt. Das Zufussgehen und das Velofahren sind in diesen Zahlen nicht enthalten. Berechnungen von CH Media zeigen: 2024 dürfte der Anteil des ÖV weiter auf etwa 22,9 Prozent gestiegen sein, dieses Jahr könnte er auf etwa 23,3 Prozent klettern. Das Wachstum hat sich zuletzt beschleunigt. Im dritten Quartal wurden gemäss dem Informationsdienst Litra 4,5 Prozent mehr Kilometer in Zügen zurückgelegt als im Vorjahresquartal.

Die sogenannte Verkehrsleistung des privaten, motorisierten Strassenverkehrs nahm zuletzt hingegen nur noch schwach zu. 2024 wurden mit Personenwagen 1 Prozent mehr Kilometer zurückgelegt als im Jahr zuvor. Das Velo stagnierte.

Junge fahren weniger Velo
Fast drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner fahren laut Zahlen des Bundes mindestens gelegentlich Velo. Doch beim Nachwuchs gibt es ein Problem. Zwischen 2000 und 2021 hat sich die Velonutzung von 6- bis 17-Jährigen halbiert. Die Zahlen von 2021 sind von der Coronakrise beeinflusst, doch der Rückgang ist auch in anderen Erhebungen sichtbar.

Die Gründe sind vielfältig. Laut einer 2023 publizierten Studie der Universität Lausanne bringen etwa immer mehr Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule. Studien deuten darauf hin, dass auch der Ausbau des öffentlichen Verkehrs zur Entwicklung beiträgt. Jugendliche bevorzugen ihn oft, weil sie dort Zeit in der Gruppe verbringen können. Gelegentlich wird auch die Möglichkeit erwähnt, Social Media nutzen zu können.

Eine Studie der Stadt Zürich von 2018 zeigt, dass neben der sozialen Dynamik – das Velo hat bei vielen Jüngeren ein negatives Image – auch die Sicherheit und die Infrastruktur eine Rolle spielen, und zwar weniger bei den Jugendlichen als bei den Eltern, die über das Verkehrsmittel entscheiden. Auch neue Angebote wie E-Trottinette könnten dem Velo schaden. (ehs)
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Bild: KEYSTONE

Anstieg nach Coronakrise

Dabei hatte es lange Zeit schlecht ausgesehen für den öffentlichen Verkehr. Zwischen 2000 und 2007 stieg sein Anteil zwar um 3,4 Prozentpunkte auf 20,6 Prozent, auch dank des Ausbauprogramms Bahn 2000. Darauf folgten aber Jahre der Stagnation und solche mit einem leichten Rückgang.

Während der Coronakrise sackte der Marktanteil des ÖV auf 17,6 Prozent im Jahr 2020 ab. Seither zeigte sein Anteil wieder rasch nach oben: Seit 2020 resultierte ein Plus von etwa 5,3 Prozentpunkten, im Vergleich zu 2019 steht ein Plus von 2,2 Prozentpunkten in den Büchern. Dabei war die Kritik an der ÖV-Branche zuletzt gross, etwa wegen des vermeintlichen Aus des Halbtax, den Problemen mit den FV-Dosto-Zügen der SBB oder hohen Preisen.

Mehr Angebote und Attraktivität

Diese gestiegene Beliebtheit des öffentlichen Verkehrs hat mehrere Gründe. Dazu gehören:

  • Neue Billette: Die Branchenorganisation Alliance Swisspass hat neue Abos und Tickets eingeführt. Das Halbtax Plus, eine Art Prepaid-Guthaben mit Rabatt, hat die Erwartungen deutlich übertroffen. Zwischen Ende 2023 und Ende 2024 wurden über 200'000 Halbtax Plus verkauft, viermal mehr als erwartet. Ebenfalls neu eingeführt wurde das GA Night, das Jugendlichen bis zum 25. Lebensjahr die freie Fahrt ab 19 Uhr bis Betriebsschluss und am Wochenende bis 7 Uhr morgens erlaubt. Von ihm wurden per Ende 2024 über 100'000 Stück abgesetzt. Ebenfalls beliebt ist die neue Friends-Tageskarte, mit der Jugendliche günstig miteinander den ÖV nutzen können.
  • Attraktivität im Vergleich zur Strasse: Auf den Strassen steigen die Staus und damit die Zeitverluste stark an. Vergangenes Jahr zählte der Bund über 55'000 Staustunden auf dem Nationalstrassennetz. Das sind 13,9 Prozent mehr als im Vorjahr. In stark betroffenen Regionen wie im Grossraum Zürich oder am Gotthard dürfte dies Autofahrerinnen und Autofahrer verleiten, auf den öffentlichen Verkehr zu wechseln.
  • Ausbau des Angebots: Auf vielen Strecken wurden in den vergangenen Jahren neue Fahrten von Zügen, Bussen und Trams eingeführt. Im Fokus standen oft Verbindungen, die in der Freizeit genutzt werden. Denn im Freizeitverkehr hat der öffentliche Verkehr einen geringeren Marktanteil als bei den Pendlern. Dort liegt mehr Potenzial brach. Beispiele für solche neuen Angebote sind die «Wanderzüge» der BLS von Biel ins Berner Oberland und nach Brig an Wochenenden oder Direktzüge der SBB von Zürich nach Einsiedeln während der Langlauf-Saison. Dieser Ausbau geht weiter: Ab dem Fahrplanwechsel am 14. Dezember werden etwa Züge der Zürcher S-Bahn-Linie 15 an Wochenenden bis Chur verlängert, um Skisportler aus dem Zürcher Oberland direkt nach Graubünden zu bringen.

Vom Pendler- hin zum Freizeitverkehr

Der Fokus auf den Freizeitverkehr hat viel mit Umwälzungen zu tun, die sich seit der Coronakrise ergeben haben. Seither hat sich in vielen Firmen das Homeoffice etabliert. Dies hat dem öffentlichen Verkehr auf Pendelstrecken geschadet. In Städten wie Zürich, Bern oder Basel mit vielen Büro-Arbeitsplätzen waren vergangenes Jahr noch immer weniger Menschen im öffentlichen Verkehr unterwegs als 2019.

Diese Verschiebung der ÖV-Nutzung in die Freizeit lässt sich mit Daten belegen. Die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) stellen Passagierzahlen sämtlicher Tram- und Buslinien zur Verfügung, und zwar für jeden Kurs und jeden Abschnitt. CH Media hat exemplarisch einen Abschnitt zwischen dem Stadtkreis 6 und dem Hauptbahnhof der Tramlinie 11 untersucht, eine der meistgenutzten der Schweiz.

Zwei VBZ Flexity-Trams der Linie 11, links und Mitte, und ein VBZ Cobra-Tram der Linie 10 verkehren auf der Bahnhofstrasse am Paradeplatz, fotografiert am 20. November 2020 in Zuerich. (KEYSTONE/Gaeta ...
Ein Tram der Linie 11 in Zürich.Bild: KEYSTONE

Der Vergleich der Jahre 2019 und 2024 zeigt: Unter der Woche hat sich an der durchschnittlichen Besetzung der Trams und der zeitlichen Verteilung der Passagierzahlen praktisch nichts geändert, obwohl die Einwohnerzahl der Stadt seither um 3,4 Prozent und die Zahl der Beschäftigten um 9,9 Prozent gestiegen ist. Nur am späteren Abend sind die Trams spürbar besser besetzt als noch 2019 – ein Beleg für die gestiegene Freizeit-Nutzung.

Anders sieht es an Wochenenden aus. An Samstagen und Sonntagen verzeichnete ein 11er-Tram auf diesem Abschnitt vergangenes Jahr deutlich mehr Passagiere als 2019. Im Freizeitverkehr wird diese Tramlinie also öfter genutzt, zum Pendeln aber nicht. Zwar lässt sich dieses Beispiel nicht verallgemeinern, doch Aussagen von Vertretern anderer Verkehrsbetriebe deuten darauf hin, dass sich ein ähnliches Muster überall zeigt.

ÖV-Zukunft hängt von Sparmassnahmen ab

Ob Bus, Tram und Zug auch in den nächsten Jahren so stark zulegen können wie zuletzt, dürfte einerseits von bisherigen Erfolgsfaktoren wie Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sicherheit abhängen.

Branchen-Vertreter befürchten aber, dass die Aufholjagd des öffentlichen Verkehrs von den Sparbemühungen des Bundes ausgebremst werden könnte. Dieser will etwa die Kostendeckung im regionalen Personenverkehr erhöhen, was zu Preiserhöhungen oder einem Abbau des Angebots führen könnte. Dabei zeigt die Erfahrung der 2010er-Jahre: Ohne eine stetige Verbesserung des öffentlichen Verkehrs gewinnt dieser auch keine Marktanteile. (aargauerzeitung.ch)

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132 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gianni48
01.11.2025 13:52registriert Oktober 2015
Welche Kritik? Die von nicht ÖV-Nutzern?
Seit 1978 verzichten wir auf ein Auto und sind nur im ÖV unterwegs. Wir sind jeden Tag begeistert vom ÖV in der Schweiz, der zuverlässig und pünktlich funktioniert. Ich jenne eigentlich nur zufriedene ÖV-Nutzer. Nur Autofahrer, die ständig Hupen, kritisieren den ÖV, weil sie Mühe haben mit dem ausgezeichneten ÖV (EGO-Verlust).
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j0ach1m
01.11.2025 13:51registriert März 2015
Ich glaube der Öv ist so beliebt weil er so zuverlässig funktioniet ind der Schweiz. Die Strasse mit Stau ist viel unvorhersehbarer als ein Zug.
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The Barbarian
01.11.2025 13:43registriert Oktober 2025
Ich würde am liebsten 1km vom Arbeitsort entfernt wohnen und zu Fuss zur Arbeit gehen, jedoch ist dies nicht möglich, da eine 50qm Wohnung dort CHF 3'500 kostet, sofern man überhaupt eine Wohnung in der Nähe erhält. Der private Wohnungsbau versagt komplett, weil Rendite im Zentrum steht und nicht das Wohnen. So bin ich auf den ÖV angewiesen, hasse aber jede Minute, die ich in einem überfüllten Zug oder Bus verbringen muss. ÖV ist toll, wenn es freie Plätze gibt und dies ist leider immer seltener der Fall. Aber wie in Indien ist es zum Glück noch nicht.
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