«Die Kehrtwende des Bundesrates ist widersinnig»
Es sind schockierende Zahlen: Etwa 844'000 Menschen in der Schweiz haben Mühe beim Lesen oder Rechnen. Mit einfachen Rechenaufgaben sind mehr als eine Million Erwachsene überfordert. Personen, die Mühe mit diesen Grundkompetenzen bekunden, verdienen weniger als die Gesamtbevölkerung, und sie sind seltener erwerbstätig. Sie beziehen häufiger Sozialleistungen und verrichten häufiger körperliche Arbeit.
Daher sind Weiterbildungsangebote für diese Menschen wichtig – wer besser lesen oder rechnen lernt, verbessert nicht nur grundlegende Kompetenzen und erhöht seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern kann sich auch persönlich weiterentwickeln und Selbstwertgefühl aufbauen. Auch der Bundesrat hat die Förderung der Weiterbildung als strategische Priorität festgelegt – jedenfalls bis vor Kurzem.
Nun aber will die Regierung plötzlich bei der Weiterbildung sparen. Im Entlastungspaket 27 sieht der Bundesrat massive Kürzungen vor. So will er die Bundesmittel für die Förderung von Grundkompetenzen Erwachsener sowie für die Leistungen der Organisationen im Bereich der Weiterbildung streichen. Tiana Moser, Präsidentin des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB), kritisiert diese Kehrtwendung scharf.
Der Bundesrat will bei der Weiterbildung massiv sparen – nachdem er deren Förderung zuerst noch als strategische Priorität festgelegt hatte. Warum will er ausgerechnet bei der Weiterbildung sparen? Ist es der Weg des geringsten Widerstands?
Tiana Moser: Ganz ehrlich: Wir verstehen diese Kehrtwende des Bundesrats auch nicht. Sie ist widersprüchlich und widersinnig. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich. Er wird aufgrund des Fachkräftemangels, des Drucks auf die Zuwanderung und des technologischen Wandels noch grösser. Zudem führen die Sparmassnahmen längerfristig zu höheren Kosten, wie auch eine Studie vom Büro Bass zeigt.
Laut dieser Studie verursachen fehlende Lesekompetenzen jährlich wirtschaftliche Kosten in der Höhe von mehr als 1,3 Milliarden Franken ...
Deshalb setzen wir uns mit aller Kraft gegen die Sparmassnahmen ein und haben dafür unter anderem eine Allianz aufgebaut. Partner der Allianz sind gewichtige nationale Organisationen wie digitalswitzerland, der Kaufmännische Verband oder CARITAS Schweiz.
Wenn wir davon ausgehen, dass der Bund tatsächlich sparen muss – warum dann NICHT bei der Weiterbildung?
Die Folgekosten wären hoch – volkswirtschaftlich wie sozial – und überstiegen das effektive Sparpotenzial. Es wäre die Demontage einer dringend nötigen und erfolgreichen Weiterbildungspolitik und würde vielen Menschen eine bessere berufliche und persönliche Zukunft verunmöglichen – und somit der Schweiz auch wirtschaftlich schaden.
Wie viel könnte der Bund mit seinem Sparprogramm bei der Weiterbildung denn einsparen?
Der Bund möchte bei der Weiterbildung rund 19 Millionen Franken pro Jahr einsparen. Zum Vergleich: Allein fehlende Lesekompetenzen verursachen jährliche Kosten von über 1,3 Milliarden Franken.
Besteht die Aussicht, dass die Kantone die Lücke füllen werden, die der Bund durch sein Sparprogramm hinterlässt?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Die Erziehungsdirektorenkonferenz hat in ihrer Stellungnahme zum Sparpaket darauf hingewiesen, dass die Kantone die wegfallenden Bundesmittel nicht kompensieren werden. Die Sparmassnahmen führen damit zu einem massiven Abbau von Kursangeboten im Bereich Grundkompetenzen.
Laut Bundesamt für Statistik (BfS) haben 844'000 Menschen in der Schweiz Mühe beim Lesen, Rechnen und Problemlösen ohne direkte Handlungsanweisung. Gemäss einer Studie der OECD sind es sogar 1,67 Millionen Menschen, die damit Schwierigkeiten haben. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Zahlen?
Die Publikationen des Bundesamts für Statistik und der OECD beziehen sich auf dieselben Daten. In der aktuellen Publikation des BFS «Leben mit geringen Lese-, Alltagsmathematik- und Problemlösekompetenzen» wurde auf jene Personen fokussiert, die in allen drei untersuchten Kompetenzfeldern Mühe haben (also höchstens die Stufe 1 erreichen). Die Zahl von 1,67 Millionen bezieht sich auf jene Erwachsenen, die in mindestens in einem der untersuchten Kompetenzbereiche über geringe Kompetenzen verfügen.
Angesichts solcher Zahlen leuchtet es ein, dass die betroffene Bevölkerungsgruppe durch Weiterbildung gefördert werden sollte. Wie sehen denn entsprechende Massnahmen aus?
Die Weiterbildungsangebote im Bereich der Grundkompetenzen sind sehr vielfältig. Sie reichen von Lese- und Schreibkursen, über massgeschneiderte Firmenangebote bis hin zu Walk-in-Angeboten wie Lernlounges, in welchen sehr informell gelernt wird.
Gemäss der OECD-Studie liegt die Schweiz zwar über dem OECD-Schnitt, aber deutlich hinter Ländern wie Finnland, Schweden, Japan oder den Niederlanden. Woran könnte das liegen?
Die Ursachen sind nicht eindeutig. Jedoch zeigen sich ähnliche Ergebnisse auch in den PISA-Erhebungen, die sich an 15-jährige Schülerinnen und Schüler richten. Ein Teil der Erklärung dürfte demnach im Schulsystem liegen, das früh selektioniert. Andere Faktoren liegen vermutlich in der demografischen Zusammensetzung der Bevölkerung. So haben in der Schweiz vergleichsweise mehr Personen nicht die Testsprache als Hauptsprache. Die Auswertungen haben gezeigt, dass eine solche Sprachinkongruenz im Durchschnitt mit tieferen Kompetenzwerten verbunden ist.
Aktuell schlägt gerade der «Blick» Alarm mit der Schlagzeile: «Jedes dritte Kind kann nicht richtig Deutsch!» Heisst das, dass die Zuwanderung das Problem verschärft? Lässt sich der Einfluss der Zuwanderung überhaupt isolieren?
Da die Schweiz erst einmal an den PIAAC-Erhebungen teilgenommen hat, lassen sich solche Effekte nicht nachweisen. Die Daten anderer Länder zeigen jedoch, dass die Einwanderung nur begrenzte Auswirkungen auf die durchschnittlichen Sprachkenntnisse hat. Wie sich die Kompetenzen von Einwanderern wiederum entwickeln, hängt von zwei Hauptfaktoren ab: dem Profil der zuwandernden Migranten und den Institutionen und politischen Massnahmen, die ihre Integration unterstützen.
Die Teilnahmequote an den Weiterbildungsangeboten ist gering. Warum ist das so?
Die Gründe sind sehr divers. Neben objektiven Gründen wie mangelnde Zeit oder Geld existieren auch zahlreiche subjektive Gründe wie negative Erfahrung mit Schul-Settings, verinnerlichte Defizitzuschreibungen oder auch ein gewisser Widerstand gegen normativ geprägte Erwartungen. Der SVEB hat diese Gründe in einer Studie untersucht und festgestellt, dass die Entscheidungen gegen Weiterbildung aus Sicht der Betroffenen durchaus sinnvoll und nachvollziehbar sind. Sie haben Strategien entwickelt, mit denen sie ihren Alltag trotz geringer Grundkompetenzen gut meistern. In prekären Lebenslagen kann eine Teilnahme auch eine grosse Zusatzbelastung darstellen. Aufgrund von negativen Erfahrungen in der Schule oder einem geringen Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit erscheint eine Teilnahme teilweise sogar als bedrohlich.
Wie könnte die Teilnahmequote gesteigert werden?
Die Teilnahmequote zu erhöhen, zählt zu den Kernaufgaben der Organisationen der Weiterbildung wie des SVEB. Umso unverständlicher ist es, dass genau diese Gelder gestrichen werden sollen. Die Weiterbildungsanbieter und Förderstrukturen haben in den letzten Jahren grosse Anstrengungen unternommen, ihr Angebot der Lebensrealität sowie den Bedürfnissen der potenziellen Teilnehmenden anzupassen. Um möglichst viele Personen zu erreichen, braucht es aber eine noch grössere Angebotsvielfalt, einfachere Zugänge und mehr Angebote, die einen lebenspraktischen Nutzen bieten. Zentral ist auch die Sensibilisierung und Enttabuisierung der Thematik.
Gibt es Studien, die den Erfolg der bisher verwirklichten Massnahmen zur Förderung der Weiterbildung quantifizieren?
Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung hat aufgezeigt, dass berufliche Weiterbildung in der Schweiz positive Effekte auf das Einkommen hat und das Risiko, arbeitslos zu werden, senkt. Im Bereich Grundkompetenzen zeigen ausserdem Berichte von Kursteilnehmenden im Rahmen der vom Bund getragenen Kampagne «Einfach besser!… am Arbeitsplatz» die Wirkungen der Kurse gut auf: etwa ein Buschauffeur, der seine Fahrgäste endlich besser versteht, oder ein angelernter Mitarbeiter, der dank verbesserter Lesefähigkeiten ein Fähigkeitszeugnis in Angriff nehmen kann.
