Kürzlich gab die Stadt Zürich bekannt, dass ein neuer Rekord an Einwohnern erreicht wurde. 440'180 Zürcherinnen und Zürcher sind in der grössten Stadt der Schweiz registriert. Die alte Bestmarke datierte von 1962.
Doch wie haben sich andere Schweizer Städte entwickelt und was sind die Gründe für die offensichtlichen Unterschiede?
Damit wir die zehn grössten Städte miteinander vergleichen können, greifen wir auf die Daten des Bundesamtes für Statistik zurück (siehe auch Infobox unten). Hier sind Zahlen bis 2019 publiziert, sie weichen zum Teil deutlich von den Daten der Städte ab. Grund dafür ist, dass beispielsweise die Stadt Zürich den wirtschaftlichen und nicht den zivilrechtlichen Wohnsitzbegriff anwendet und damit auch Wochenaufenthalter zur Wohnbevölkerung zählt. Die Trends bleiben aber die gleichen.
Nach der Rekordbevölkerung in den 1960er-Jahren nahm die Einwohnerzahl bis 1989 auf unter 356'000 Personen ab. Seit dem Jahr 2000 zieht Zürich als Wohnstadt wieder mehr Personen an. Vor allem in den 2010er-Jahren wuchs die Stadt stark. Jetzt wurde der Rekord geknackt. Was sind die Gründe dafür?
Martin Schuler, Honorarprofessor der EPF Lausanne ist profunder Kenner der Bevölkerungsentwicklung der Schweiz, er ordnet die Entwicklung für watson ein.
Doch wie kam es dann zur Umkehr der Bevölkerungszahlen? Lange wurde in Zürich wenig Wohnraum gebaut. Seit Ende des 20. Jahrhundert wechselte dies und es wurde vermehrt auf verdichtetes Wohnen gesetzt. In den letzten rund 20 Jahren kamen in Zürich 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner dazu.
Der Umschwung ging jedoch viel tiefer, in dem städtisches Leben wieder als attraktiv empfunden wurde und die Städte viel zur Verbesserung der Wohn- und Arbeitsbedingungen beitrugen, vor allem auch im Bereich des öffentlichen Verkehrs, der Kultur und der Freizeitbedingungen.
Neue planerische Massnahmen erlaubten eine höhere Dichte und die Umwandlung von Industriezonen zu Mischzonen. Der Wohnraum nimmt deshalb durch die Bautätigkeiten seit Jahren deutlich zu. Zudem wurde die Überalterung der Stadtbewohner kleiner und deren Sozialstruktur veränderte sich. Städtische Genossenschaften bevorzugten bei den Wohnungsvergaben vermehrt Familien. Schuler sieht da aber ein Abschwächen des Trends in Sicht: «Die interessantesten Reserven für Wohnraum in Zürich sind praktisch aufgebraucht; die weitere Entwicklung geht wieder in die Agglomerationsgemeinden.»
Wie sieht das in den anderen der zehn grössten Schweizer Städten aus? Wir haben den Überblick:
Genf erlebte eine ähnliche Bevölkerungsentwicklung wie Zürich. Allerdings nahm die Einwohnerzahl rund 20 Jahre früher wieder zu und hatte den Höchstwert aus den 1960er Jahren schon um das Jahr 2000 übertroffen.
Schuler nennt hier als Gründe: «Zum einen war der Einbruch in Genf kleiner als in Zürich. Zum anderen lag der Druck auf Wohnraum in der Kernstadt schon immer höher. Die Agglomeration in Genf ist die mit Abstand am dichtesten besiedelte der Schweiz und die Politik im Kanton gab weniger Platz für neue Siedlungsgebiete frei. So musste man früher verdichtet bauen. Die weniger verdichteten Agglomerationsgemeinden befinden sich zum Teil in Frankreich.»
Aktuell sieht man in Genf auch eine Überbelegung der Haushalte. Insbesondere Immigrantenfamilien leben oft mit mehreren Kindern in kleineren Wohnungen oder Wohnungen werden auch noch untervermietet.
Im Gegensatz zu den zwei grössten Schweizer Städten hat sich die drittgrösste vom Bevölkerungsschwund nach 1970 kaum erholt. «Die Wirtschaft in und um Basel war deutlich weniger dynamisch als in Zürich oder Genf, wodurch der Druck auf Wohnraum in der Stadt und in der Agglomeration auch kleiner blieb», erklärt Schuler. Auch aktuell wächst die dominante Industrie in Basel (Pharma) weniger schnell als die oft tertiären Unternehmen in Zürich. Die Stadt Basel zählt heute noch rund 36‘000 Einwohnerinnen und Einwohner weniger als 1970.
Weitere Gründe sind: Basel ist mit rund 25 km2 flächenmässig deutlich kleiner als Zürich (90 km2). Die Kernstadt Basel ist also schon länger «voll», weil es einfach weniger Platz gab. Zudem haben viele Quartiere in Basel eine grosse Wohnqualität, sodass der Widerstand gegen eine Verdichtung gross ist.
Als letzter Punkt kommen die Grenzgänger dazu. Ihre Anzahl wird in den letzten Jahren immer grösser. Viele, die in Basel arbeiten, wohnen im benachbarten Frankreich und in Deutschland.
Lausanne ist – sieht man von den Wäldern ab – flächenmässig eine kleine Stadt, hat aber eine grosse Agglomeration. Seit 2000 wuchs der Ort stark an und erreichte um 2015 wieder den Höchststand aus dem Jahr 1970. «Da steckt die Politik dahinter», sagt Schuler, «man investiert massiv in neue Quartiere und durch die Bewilligung der 3. Metrolinie werden die Verbindungen besser und Wohnlagen attraktiver.»
Als Satelliten-Stadt von Lausanne entwickelte sich in den letzten Jahren Yverdon. Schuler sagt der Stadt am Südende des Neuenburgersees eine ähnliche Entwicklung wie Winterthur voraus (siehe unten).
Ähnlich wie in Basel entwickelte sich die Situation in Bern. Lange wuchs die Stadt, aber auch der Kanton bevölkerungsmässig im Gegensatz zum Wirtschaftsmotor in Zürich wenig. In den letzten zehn Jahren hat sich der Trend aber umgekehrt. Die Hauptstadt wird attraktiver und dürfte in den nächsten Jahren noch zunehmen. Doch liegt die Bevölkerungszahl heute um nahezu 30‘000 Personen unter dem Höchststand von 1960.
Winterthur kann in den letzten Jahren als «Boomstadt» bezeichnet werden. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Flächenmässig hat es in Winti noch gut Platz für neue Wohngebiete, die Nähe zu Zürich macht die Stadt attraktiv.
Winterthur entwickelte sich zuletzt von einer Industrie- zur Wohnstadt. «Winterthur hat nicht nur Freiräume für Wohnungen, sondern auch divers Industriebrachen, welche umgenutzt werden. So entstehen auch an zentraler Lage Wohngebiete», so Schuler.
Luzern hinkt Entwicklungen wie in Zürich etwas hinterher. Allerdings dürfte auch sie die Rekordwerte von 1970 bald erreichen.
Die Stadtfläche war lange klein und eingeengt. 2009 wurde Littau eingemeindet, wodurch wieder Raum für Wohnungen entstand.
Eine besondere Entwicklung der Bevölkerungszahlen machte St.Gallen durch. Im Gegensatz zu Zürich und anderen grossen Schweizer Städten gab es hier 1910 einen ersten Peak: «Das war das Maximum der Strickerei-Industrie, diese brach danach aber total zusammen», erklärt Schuler. Die wirtschaftliche Situation spielt bei Bevölkerungsentwicklung oft eine entscheidende Rolle.
So sind in St.Gallen, früher eine typische Industriestadt, Schwankungen grundsätzlich grösser als in tertiär ausgerichteten Orten wie beispielsweise Zürich. Was im Raum St.Gallen dazu kommt, dass die Stadt nicht schnell wächst, ist gemäss Schuler: «Es passiert viel im Raum St.Gallen. In Gossau oder dem Rheintal entstehen Arbeitsplätze, was den Druck auf die Kernstadt nimmt.»
Im Vergleich zu den anderen zehn grössten Städten der Schweiz ist auch die Entwicklung von Lugano aussergewöhnlich.
Auffallend ist hier insbesondere, dass der «Knick» erst in den 1980er Jahren erfolgte und schwach ausfiel. «Lugano war keine Industriestadt, als Mitte der 1970er-Jahren viele der ausländischen Arbeitskräfte zurück nach Italien kehrten, war Lugano wenig davon betroffen.»
Eingemeindungen sind auch heute im Tessin verbreiteter als in anderen Gebieten der Schweiz. So gehören mittlerweile auch sehr ländliche Orte, wie das Val Colla, zur Stadt.
Und woher kommt der Bevölkerungsrückgang in den letzten Jahren? «Das natürliche Wachstum (Geburten minus Todesfälle) ist negativ und der Kanton litt ab 2017 unter einer wirtschaftlichen Krise. Das zeigt sich sowohl in den Städten wie auch – seit langem – in den Tälern wie der Leventina, die sich immer mehr entvölkern, erklärt Schuler.
Bleibt noch die zehntgrösste Schweizer Stadt: Biel. Kaum eine Stadt litt so unter der Stadtflucht in den 1970er Jahren wie die damalige Industriestadt, welche in der Uhrenindustrie und anderen Branchen viele Arbeitsplätze verlor.
Doch in den letzten Jahren kehrten auch hier die Menschen in die Kernstadt zurück – und es könnte gemäss Schuler so weiter gehen: «Biel hat neue Betriebe angezogen und entwickelt sich in Bezug auf Bern langsam zu dem, was Winterthur für Zürich ist: erschwinglicher Wohnraum in der Nähe einer grösseren Stadt.»
Bleibt der Blick in die Zukunft. Werden die Städte einfach immer weiter wachsen? 2021 lag der Geburtenüberschuss in der Schweiz bei rund 18'000 Personen. Ohne Einwanderung wird in den nächsten Jahren die Bevölkerung der Schweiz nur wenig wachsen oder gar abnehmen.
Die Frage ist also auch, wie viele und wer in den nächsten Jahren einwandern. Die Schweiz dürfte als Einwanderungsland attraktiv bleiben.
Eine weitere Frage ist: Wie nachhaltig hat die Coronapandemie das Berufsleben beeinflusst? «Zuletzt nahm die Bevölkerung in Bergkantonen stärker zu als in städtischen Gegenden. Setzt sich Homeoffice weiter durch, könnte dies das Wachstum der Städte bremsen», sagt Schuler. Zudem sind auf dem Land die Reserven für Wohnraum deutlich grösser. «Es ist also nicht unbedingt davon auszugehen, dass die Wachstumsraten wie etwa in Zürich oder Genf so weitergehen.»