Wer will noch behaupten, Wahlen in der Schweiz seien langweilig? Im Kanton Zürich kam es am Sonntag zu Verschiebungen, die man für hiesige Verhältnisse als erdrutschartig bezeichnen kann. Minus 5 Prozent für die SVP, Gewinne in gleichem Umfang für GLP und Grüne: Dieses deutliche Ergebnis wird Signalwirkung für die nationalen Wahlen im Oktober haben.
Von Zürich aus hatte Christoph Blocher vor mehr als 40 Jahren begonnen, die SVP von einer biederen Bauern- und Gewerbepartei zur rechtsnationalen Kampftruppe zu transformieren. Nun wurde sie in ihrem Kerngebiet auf den Stand von 1995 zurückgestuft. Droht ihr im Herbst ein ähnliches Schicksal? Das sind die wichtigsten Erkenntnisse aus den Zürcher Wahlen:
Vor acht Jahren ergaben die Zürcher Wahlen ein ähnliches Bild wie heute: Kurz nach der Atomkatastrophe in Fukushima legten Grüne und Grünliberale stark zu, und die Grünen eroberten einen Sitz im Regierungsrat. Vier Jahre danach wurden diese Erfolge weitgehend ausradiert. Droht den Öko-Parteien nun ein ähnliches Schicksal? Wohl kaum, denn Fukushima war ein Ereignis und keine Bewegung.
#WahlCH19
— Claude Longchamp (@claudelongchamp) 24. März 2019
Mit der heutige Wahl im @KantonZuerich ist die #Klimawahl2019 um einiges wahrscheinlicher geworden. Gemeint ist damit die Richtung von Verschiebungen, nicht deren Ausmaße.#Trendwahl https://t.co/20mfWkeoK2
Der Klimawandel wird bleiben. Eine Trendwende bei den zunehmend extremen Wetterlagen ist nicht in Sicht. Deshalb spricht einiges dafür, dass die «grüne Welle» anhalten wird, auf nationaler Ebene wohl in geringerem Mass als in Zürich. Auch der Politologe Claude Longchamp, der zu Jahresbeginn skeptisch war, geht nun von einer «Klimawahl» im Oktober aus.
Ein Wermutstropfen bleibt: Während den Grünen mit dem beherzten Martin Neukom überraschend die Rückkehr in den Regierungsrat gelang, blieb GLP-Kandidat Jörg Mäder blass. Mit einem Zugpferd wie Nationalrätin Tiana Moser hätten die Grünliberalen vermutlich Natalie Rickli ausgebremst, und Zürich hätte nicht nur im Kantons-, sondern auch im Regierungsrat eine linksökologische Mehrheit.
Die Frauen hatten in der Schweizer Politik in den letzten Jahren nicht viel zu feiern. Ihre Vertretung in den Parlamenten und Regierungen war von Stagnation und Rückschritten geprägt. Im letzten Herbst bestand die Gefahr, dass es bald nur noch eine Bundesrätin geben könnte. Dann wurden Viola Amherd (CVP) und Karin Keller-Sutter (FDP) gewählt, und seither geht es aufwärts.
In der Waadt sitzen neu fünf Frauen und nur noch zwei Männer in der Kantonsregierung. Im ländlichen Appenzell Ausserrhoden stieg die Zahl der Frauen im Kantonsrat von 14 auf 22, was einem Anteil von 33 Prozent entspricht, ein nationaler Spitzenwert. In Zürich sind es seit Sonntag fast 40 Prozent, und die Mehrheit in der Kantonsregierung ist (wieder) weiblich.
Für das eigentliche Highlight sorgte Sarah Akanji, die Schwester von Dortmund- und Nati-Verteidiger Manuel Akanji. Die Winterthurerin profitierte vom Promi-Bonus und schaffte aus dem Nichts das beste Ergebnis aller SP-Kandidierenden im gesamten Kanton. Damit haben die Frauen politisch Rückenwind, bevor es am 14. Juni zur Neuauflage des nationalen Frauenstreiks kommt.
SVP und Grüne/GLP sind in hohem Masse Stimmungsparteien und abhängig von der politischen Grosswetterlage. Je nachdem mobilisieren sie besser oder schlechter. Klimawandel und Schülerstreiks haben eher passive Mitte-links-Wähler aufgeschreckt. Die SVP hingegen punktet am besten mit der Ausländer- und Asylpolitik, und dort herrscht im Moment Flaute.
«Es ist nicht so, dass unsere Wähler Grün gewählt haben, sie sind teilweise einfach zu Hause geblieben und haben gar nicht gewählt», sagte Parteipräsident Albert Rösti zu «20 Minuten» und traf damit ins Schwarze. Sein Problem: Falls sich die Grosswetterlage nicht ändert – was derzeit wahrscheinlich ist –, wird sich die SVP auch eidgenössisch auf Verluste einstellen müssen.
Positiv hat sich der Faktor Mobilisierung dagegen für die SP ausgewirkt. Sie wird durch die «grüne Welle» und interne Europa-Querelen erschüttert, dennoch kam sie im Zürcher Kantonsrat mit einem blauen Auge davon. Denn keine Partei hat eine professionellere Wahlkampfstruktur. Das zahlt sich vor allem bei einer geringen Beteiligung aus, wie sie bei kantonalen Wahlen üblich ist.
Die SVP hat im Wahlkampf vorwiegend auf das Rahmenabkommen mit der EU gesetzt, mit teils absurden Argumenten. So warnte sie vor einer Abschaffung der Zürcher Kantonalbank. Gebracht hat ihr dieser Alarmismus überhaupt nichts, im Gegenteil. Kein Wunder: Wie in der Ausländerpolitik ist die SVP bei ihrem zweiten Kernthema Europa auf eine gewisse Dringlichkeit angewiesen.
Diese ist beim institutionellen Abkommen nicht gegeben. Trotz grosser Medienpräsenz ist das Thema für das Durchschnitts-Wahlvolk (noch) weit weg, und die politische Kakofonie («Ja, aber», «Nein danke», «Wie bitte?») schreckt zusätzlich ab. Solange es beim Rahmenabkommen nicht um die Wurst geht, ist es kein Wahlschlager.
Damit dürfte die Strategie Auftrieb erhalten, den Entscheid des Bundesrats über das Abkommen möglichst bis Ende Jahr und damit bis nach den Wahlen im Oktober hinauszuschieben. Vielleicht spielt sogar die EU mit und gewährt der Schweiz eine zusätzliche Gnadenfrist. Für die SVP wäre dies eine weitere schlechte und für die in Sachen Europa zerstrittene SP eine gute Nachricht.
Die letzten Jahre waren von einer politischen Polarisierung geprägt. Damit dürfte es vorbei sein. Es ist so gut wie sicher, dass SVP und FDP ihre hauchdünne Mehrheit im Nationalrat verlieren werden. Damit erhalten die Mitteparteien mehr Gewicht. Im Kanton Zürich werden in den nächsten vier Jahren die Grünliberalen und die oft übersehene EVP als Mehrheitsbeschaffer agieren.
Die CVP kam nach dem letztjährigen Debakel in der Stadt Zürich mit dem Schrecken davon. Sie kann im Hinblick auf den Herbst zumindest hoffen. Bitter sieht es für die BDP aus. Sie könnte in absehbarer Zeit nur noch in ihren Stammlanden Bern, Glarus und Graubünden eine politisch relevante Kraft sein. Parteipräsident Martin Landolt gibt Durchhalteparolen aus.
Herzlichen Dank an die tollen Menschen der @bdp_zurich für den grossartigen Einsatz. Das Wahlsystem trifft uns hart. Durchatmen, aufstehen, weiterkämpfen. Denn Vernunft kann nicht ewig ignoriert werden. #vorwärts
— Martin Landolt (@LandoltMartin) 24. März 2019
Wie nachhaltig sind diese Trends im Hinblick auf den Wahlherbst? Ein erster Härtetest folgt schon am nächsten Sonntag, wenn in Baselland und Luzern gewählt wird. Spannend ist die Frage, ob die SP ihre vor vier Jahren verlorenen Sitze in den beiden Kantonsregierungen zurückholen kann. Im Baselbiet sind ihre Chancen gut, in Luzern kann sie es im optimalen Fall ebenfalls schaffen.
Sorgen muss man sich eher um die FDP machen. Irgendwie haben die kein Thema mehr um eine nennenswerte Anzahl von Wählern zu mobilisieren.
Sehe das Highlight nicht. Promi-Bonus = wegem dem Bruder gewählt. SP -1 = Niederlage.
Sarah hat weit mehr zu bieten, als einen bekannten Bruder. Darum wurde sie trotz - kleiner - SP-Niederlage gewählt.