Crack in Zürichs Familienpark: «Bei uns lagen schon Drogen auf dem Wickeltisch»
Wenn er morgens um 7 Uhr die Tür zum Restaurant aufschliesse, habe er ein mulmiges Gefühl, sagt der Mitarbeiter des Bistro Brot in der Bäckeranlage. Die Süchtigen, meist Männer zwischen 20 und 45 Jahren, seien unberechenbar. «Man weiss nie, was einen erwartet, ist es ein Kuss oder eine Faust.»
Der Zürcher Park unweit der Langstrasse ist eigentlich ein Ort für Familien. Es gibt hier Schaukeln, ein Klettergerüst, einen Brunnen, der im Sommer zum Spiel mit dem Wasser einlädt.
In den letzten Jahren aber sind die Süchtigen im Park immer sichtbarer geworden. Vor allem am Morgen und am Abend. «Tagsüber hat sich die Situation gebessert, seit die Polizei ihre Präsenz erhöht hat», sagt der Bistromitarbeiter. «Aber sobald es eindunkelt, übernehmen die Süchtigen den Park. Und bei uns lagen schon Drogen auf dem Wickeltisch.»
Neue Droge, neue Intensität
Zwischenzeitlich schien Zürich seinen Ruf als Drogenstadt abgelegt zu haben. Natürlich war Zürich nie clean, aber es wurde im Verborgenen konsumiert. Die Drogenpolitik mit ihren vier Säulen – Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression – trug ihren Teil dazu bei.
War es in den 80er-Jahren noch eine Heroinepidemie, die Zürich heimsuchte, gibt heute eine neue Droge den Takt vor: Crack. Die rauchbare Form von Kokain hat alles beschleunigt. Die Wirkung tritt in wenigen Sekunden ein und hält nur ein paar Minuten an. Der Rausch ist hart, und auch die Landung. Und die Droge ist vergleichsweise günstig.
Der Preis von Kokain und seiner Derivate ist in den letzten Jahren stark gefallen. Das hängt vor allem mit der Verfügbarkeit zusammen: Kokain gelangt in hohen Mengen nach Europa. Mittlerweile mischen immer mehr südamerikanische Banden im Geschäft mit, die Produktionsmenge steigt. Kokain hat einst den Ruf, eine Droge der Reichen zu sein, mittlerweile ist es zur Volksdroge geworden.
Beim Heroin ist die Entwicklung umgekehrt. Es war lange Zeit die prägende Substanz der offenen Drogenszene. Doch seit die Taliban wieder an der Macht sind, wurde in Afghanistan der Opiumanbau verboten. Es gelangt immer weniger Heroin nach Europa, die Preise explodieren. Crack ist die günstige Alternative für suchtkranke Menschen. Hauptsache Rausch.
Die Süchtigen seien so zugedröhnt, dass die nicht mehr wüssten, was sie machen, erzählt eine Mutter in der Bäckeranlage. Einmal sei einer nackt im Brunnen gelegen, neben den spielenden Kindern. Als sie ihn bat, sich wenigstens etwas anzuziehen, habe er sie massiv beschimpft.
Auch Mitarbeiterinnen der benachbarten Kita werden immer wieder zum Ziel von Aggressionen. Viele Bewerberinnen hätten ihr deshalb schon abgesagt, erzählte die Kita-Leiterin kürzlich der NZZ. Mit Anwohnern hat sie eine Initiative gegründet, sie schreiben Beschwerden und räumen Abfälle weg. Aber Crack mache es schwierig, etwas zu verbessern. «Im Vergleich dazu sind Heroinabhängige wie Teddybären.»
Eine neue Generation von Süchtigen
Unter den Süchtigen gibt es viele neue Gesichter. So erzählte es Florian Meyer, Leiter Kontakt- und Anlaufstellen Stadt Zürich dem SRF. In den letzten fünf Jahren habe die Zahl der Konsumenten um 250 auf etwa 1000 zugenommen, darunter viele Cracksüchtige.
Die neuen Konsumenten seien jünger, so Meyer. Das Durchschnittsalter sei von 52 auf 38 Jahre gesunken. Es gebe eine neue Generation von abhängigen Menschen, die in die öffentlichen Räume komme.
Gesicherte Zahlen zu der Anzahl an Crack-Konsumenten gibt es nicht, auch nicht auf nationaler Ebene. Es ist von einem «sprunghaften Anstieg» die Rede, oder von einer «starken Zunahme». Dabei muss aber auch berücksichtigt werden, dass Süchtige, die vorher andere Substanzen konsumiert haben, auf Crack umgestiegen sind. In den Konsumationsräumen wird mittlerweile vielerorts zu grössten Teilen Crack und Freebase geraucht, ebenfalls eine Form von Kokain.
Anders als bei früheren Suchtepidemien konzentriert sich das Phänomen nicht nur auf die grossen Städte. Auch in Chur, Brugg, Yverdon, Luzern und weiteren Orten haben sich offene Drogenszenen gebildet. Die Dealer sind mittlerweile mobiler, die Verteilung ist einfacher.
Vieles, was in den Konsumräumen verschwunden war, ist durch den Crack-Boom wieder sichtbar geworden. Die stetige Suche nach der nächsten Dosis treibt die Süchtigen in die Öffentlichkeit. Auch ist der Zerfall deutlich. Crack macht nicht nur aggressiv, auch die körperlichen Auswirkungen sind sichtbar.
Nicht dasselbe: auswärtige und einheimische Süchtige
Es sind veränderte Umstände. Zürich hat seine Drogenpolitik aber nicht grundlegend angepasst. Das international genutzte Viersäulenmodell bestimmt weiterhin das Vorgehen. Die Stadt hat jedoch ihre sozialen Begleitmassnahmen ausgeweitet. Sie wird im Oktober einen neuen Suchtraum eröffnen, der sich an Auswärtige richtet. Der Standort in der Enge scheint allerdings nicht optimal, ob die Süchtigen den Weg dahin finden, bleibt abzuwarten.
Die Trennung in Zürcher und Nicht-Zürcher entspricht dem Grundsatz, dass jede Gemeinden selbst für ihre randständigen Mitglieder sorgen soll. In der Enge werden Süchtige von ausserhalb registriert und an ihre Gemeinden verwiesen. Der Subtext aber ist klar: Zürich soll nicht noch einmal zur Drogenhauptstadt der Schweiz werden.
Die Menschen, die die Angebote der Stadt nutzen, sind laut Meyer in einem psychosozial guten Zustand. Auch Crack-Konsumierende könnten mit dem Angebot gut erreicht werden. Weil die bestehenden Suchträume gut ausgelastet sind, sucht die Stadt Zürich schon seit letztem Jahr nach einem zusätzlichen Standort.
Auch die nationale Politik sucht nach Lösungen. Mittlerweile fanden mehrere runde Tische statt. So einig sich alle über das Problem sind, so unterschiedlich sind die Lösungsansätze. Mal soll Repression helfen, mal setzen die Behörden auf Toleranz. Eine Gruppe des Schweizerischen Städteverbands hat einen Wegweiser zum Thema veröffentlicht. So resignativ es klingt: Eine gewisse Toleranz sei nötig. Es lohne sich nicht, jeden Kleindealer zu jagen. Die Suche nach den Hintermännern sei das Ziel.
Das bindet jedoch viele Ressourcen. So verfolgt die Kantonspolizei in Genf, wo die Situation wegen Crack 2023 als erste Schweizer Stadt eskalierte, ein klares Ziel: 35'000 Stunden pro Jahr werden für die Drogenrepression aufgewendet, über die Hälfte davon spezifisch gegen Crack. Umgerechnet sind pro Tag also mindestens sechs Polizisten Vollzeit für die Crackrepression im Einsatz. Die Erhöhung der Polizeiressourcen ist Teil eines dreijährigen Aktionsplans à sechs Millionen Franken, der die Situation in der Calvinstadt beruhigen soll. Ebenso wie die Erweiterung des Drogenkonsumraums am Bahnhof, der erst seit diesem Sommer wieder Crack-Konsumierende aufnimmt.
In Luzern haben Stadt und Kanton kürzlich die neu erarbeitete Crack-Strategie präsentiert. Zu den Massnahmen gehören die Schaffung eines Ortes in der Stadt, wo die Szene unter Auflagen akzeptiert wird, und der Aufbau eines aufsuchenden medizinischen Angebots für Konsumierende. Als erste Reaktion auf den gestiegenen Konsum wurden unter anderem die Öffnungszeiten der Kontakt- und Anlaufstelle sowie der Gassenküche ausgeweitet und die Polizei hat ihre Präsenz in der Stadt punktuell verstärkt.
Zunehmende Kontraste
Doch zurück in die Bäckeranlage in Zürich. Hier nehmen mit dem Elend auch die Kontraste zu. Die Umgebung der Langstrasse wertet sich unaufhaltsam auf. Der Städtebau, die vollen Staatskassen, die internationalen Konzerne treiben die Gentrifizierung voran.
In den letzten sechs Jahren hätten überall schicke Cafés eröffnet, Strassen wurden verkehrsberuhigt und Wohnungen saniert und teuer vermietet, sagt die Inhaberin eines Möbelgeschäfts. Gleichzeitig habe das Drogenproblem eher noch zugenommen. «Ich finde es krass, wie das nebeneinander geht, diese Gentrifizierung, und dass es überall so grusig ist. Das funktioniert wohl nur, weil das hier noch ein Ausgangsviertel ist.»
Auch eine Anwohnerin der Bäckeranlage beobachtet zunehmende Gegensätze. Sie sei in Basel aufgewachsen, mit dem Bewusstsein, dass es in der Stadt immer solche Szenen gebe, die sich auch nicht vertreiben liessen. Es sei eine Frage der Ideologie, ob man akzeptiere, dass es in einer Gesellschaft verschiedene Biografien gebe, auch gescheiterte. «Die Herausforderung ist, in gentrifizierten Gebieten ein Nebeneinander zu finden.»
Allerdings sieht sie auch Handlungsbedarf. «Die Drogen sind heute andere, der Rausch ist kurz und deshalb die Dringlichkeit für neuen Stoff erhöht, das macht die Süchtigen aggressiver. Ich hoffe, dass sich die Situation verbessert, wenn es mehr Suchträume gibt.»