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Zwischen Tod und Wahnsinn: Rogers desaströse Identitätssuche

Teaser Projet Roger Staffel 2
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Projet Roger

Zwischen Tod und Wahnsinn: Rogers desaströse Identitätssuche in voller Länge

Hier kannst du nachlesen, wie unser fiktive Bürogummi Roger zusammenhängend durch die zweite Staffel seines Lebens stolpert.
14.09.2025, 18:1614.09.2025, 18:16
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Projet Roger - Staffel 2!
Sei willkommen zur zweiten Staffel unserer völlig fiktiven Serie! In «Projet Roger» geht es um den stets etwas verbissenen Bürogummi Roger Fässler, der neben einer steilen Karriere auch die Liebe sucht, beide aber nicht unbedingt ihn. Zumindest war das in der ersten Staffel so. Jetzt aber winkt ein neuer Titel. Und Rita! Doch der Tod funkt ihm dazwischen, und Roger Fässler muss sich stattdessen mit nichts Geringerem als dem Sinn und Zweck seines Daseins beschäftigen. Und inmitten dieser Grübelei wird ihm klar: Auch die gelungensten Firmenwerte bügeln die Fehler einer Mutter nicht aus.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

>> Hier kannst du die komplette erste Staffel nachlesen.
Pfeife Teaserbild für Projet Roger
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Der Vater im Sarg gibt Rätsel auf

Als er so vor Roger lag, sah er nicht ganz vollständig aus. Irgendwas fehlte. Er starrte in den Sarg hinein und murmelte verwirrt: «Nein, das ist nicht mein Vater.»

Seine Mutter strich ihm mit der Hand über den Rücken. Ein Weilchen noch standen sie da, vor dem aufgebahrten Toten. «Die Pfeife! Wo ist seine Pfeife?», fragte er aufgebracht.

Seit Roger denken kann, hatte Josef Fässler eine Pfeife im Mund. Und aus der Pfeife kam Rauch, hinter dem sein Vater verschwand. Ihn jetzt so unvermittelt zu sehen, wie er ihn zu Lebzeiten nie gesehen hatte, befremdete ihn.

Und selbst wenn der Rauch sich nun für immer verzogen hatte, ein klares Bild würde sich für Roger niemals ergeben. Im Grunde hatte er seinen Vater gar nicht gekannt, obwohl er in seiner Kindheit immer da gewesen war, rauchend und Kreuzworträtsel lösend in seinem Eames Lounge Chair. Und was er dabei in Händen hielt, war nicht irgendein Rätsel. Josef Fässler beschäftigte sich allein mit dem kryptischen von Eckstein aus dem «ZEITmagazin», das mit Wörtern, Silben und Buchstaben spielt, kleine, mit viel hinterlistiger Psychologie und trickreichem Sprachwitz gemachte Meisterwerke für den Mann, der um die Ecke denkt.

Irgendwann rief er dann: «Geschafft!», und warf das Magazin schwungvoll auf den Glastisch, der auf seinen steinernen Stehlen wie ein geheimnisvolles Megalithengebilde das Zentrum des Wohnzimmers zu markieren schien. Kein Wunder hatte Roger in jener urmystischen Atmosphäre das Gefühl bekommen, sein Vater würde nächstens auch das Rätsel um Stonehenge knacken.

Einmal aber verfehlte Josef den Tisch und als Roger das Magazin vom Boden aufhob, sah er, dass sein Vater überhaupt nichts reingeschrieben hatte. Erst hielt er es für ein Versehen, vielleicht war es dieses Mal einfach zu knifflig gewesen, selbst für Josef Fässler.

Aber das war es nicht. Roger entdeckte bald, dass die Felder immer leer blieben. Jede Woche, wenn seine Mutter zu Tisch rief und sein Vater aufgestanden war, warf er einen verstohlenen Blick auf die letzte Seite des Magazins und fand dort das unangetastete Rätsel. Nur einmal hatte er etwas an den Rand gekritzelt, das Roger als «Gurke» entzifferte. Gefolgt von einem Fragezeichen.

«Wir haben uns das mit der Pfeife lange überlegt, dein Bruder und ich», sagte Esther Fässler jetzt. Sie standen noch immer vor Josef, dessen matt gepudertes Gesicht in dem hochglänzenden Mahagoni-Sarg noch fahler wirkte. Seitlich ins Holz graviert zog der Mäanderfries an ihnen vorbei, eine Kette aus eckig eingerollten Schlangen, die sich, immer schon ihren Nachkommen in sich tragend, weiterwanden bis in alle Ewigkeit.

Der Kreislauf des immerwährenden Kosmos.

Aber wie sollte sich Josef Fässler nun in diese Ewigkeit einreihen – so ganz ohne Pfeife?

Roger antwortete nicht, seine Augen folgten den Windungen der Schlangen.

«Roger», sagte seine Mutter mit ernster Miene. «Du hättest mitbestimmen können, aber du bist ja nicht gekommen. An keine der Besprechungen mit dem Bestatter.»

Als er den Anruf von Esther erhielt, stand er vor Ritas Kabäuschen, einem winzigen Glaskasten am Haupteingang seines Büros. Seit das mit Géraldine ins Wasser gefallen war, kam er gute zehn Minuten früher ins Büro, um mit Rita zu plaudern. Erst übers HR. Dann über ihr Ferienhaus im Tessin. An diesem Tag aber hatten sie bereits schüchtern das Thema Zukunft berührt, nicht dass da ausserhalb von Rogers Vorstellung schon eine gemeinsame am Horizont aufgeflackert wäre, aber er fragte Rita doch immerhin schon nach ihrer Meinung in Bezug auf THE ROGER Pro 2, den neuen On-Schuh in knalligem Gelb mit pinken Elementen, den es ihm gestern so unverhofft in seine Instagram-Timeline gespült hatte. Und als sie sich aus ihrem Kabäuschen heraus über sein Handy beugte, um den Sneaker zu begutachten, klingelte es.

«Oh, das ist meine Mutter», sagte Roger entschuldigend und wurde ein bisschen rot. Und nachdem er aufgelegt hatte, war jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen. «Was ist los?», fragte Rita so leise, als würde sie am liebsten gar nicht gehört werden.

«Mein Vater ist tot», erwiderte Roger.

Dann schaute er auf sein Handy, wo statt Esther wieder THE ROGER Pro 2 erschienen war. Er wählte seine Grösse und legte die Schuhe in den Warenkorb. Er ging zur Kasse und bezahlte die 260.00 CHF.

Rita kam aus ihrem Kabäuschen heraus. Sie stellte sich vor Roger und schaute ihn eindringlich an. Sie suchte sein Inneres, das irgendwo hinter seinen Augen verloren gegangen war.

Und weil sie es nicht wiederfand, blieb sie bei ihm. Sie konnte ihn jetzt nicht allein lassen, nicht, nachdem der Tod genauso unverhofft wie der Sneaker auf der Bildfläche aufgetaucht war.

Der Algorithmus des Lebens. Irgendwann erreicht er jeden. Und dann ist es gut, wenn man eine Rita hat, die an diesem unerbittlichen Ende steht und einen auffängt.

Roger schaute seine Mutter leer an, er hatte den in ihren Worten mitschwingenden Vorwurf nicht bemerkt, er war nicht empfänglich dafür, momentan war er das für gar nichts. Seit der Nachricht vom Ableben seines Vaters tappte er wie ein Schlafwandler durch den Rauch, den Josef Fässler in seinen 74 Lebensjahren ausgestossen hatte. Die dichten Schwaden krochen in seine Körperöffnungen und betäubten ihn.

Rita sass in der zweithintersten Reihe in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid, über ihr im Kuppelgewölbe hingen in aschigen Wolken Engel und Heilige, Könige und Kaiserinnen, Päpste und Märtyrerinnen in erhabenen Posen, Gottes Ankunft mit offenen Armen erwartend.

Die mittleren Bankreihen vor ihr waren leer geblieben und schienen sich schier endlos zu wiederholen, bis sie endlich, von einigen Dutzend Trauergästen besetzt, innehielten vor dem weissen Volksaltar. Daneben stand der Sarg, umringt von ebenso weissen Blumenkränzen. Dahinter, durch ein Eisengitter getrennt, im sakralsten aller sakralen Bereiche jenes monumentalen Kirchenbaus, ragten seitlich zwei in rotem Stuckmarmor gefasste Chorpfeiler-Altäre auf, auf dem einen starb Jesus seinen Kreuzestod, auf dem anderen lag er als glorienscheiniges Kind in den Armen seiner Mutter. In der Mitte erhob sich der Hauptaltar als ein in die Wand eingebauter Tempel, umsäumt von schwarzweissen Marmorsäulen fuhr Maria in wallendem Gewande gen Himmel. Der Barock hing in schweren Putten von der Decke, sodass Rita für einen Moment fürchtete, von einer erschlagen zu werden.

Alles war so gewaltig und übermächtig, und in dieser ganzen Riesenhaftigkeit wirkte der Tote in seinem Särglein so winzig.

Als ginge es hier gar nicht um ihn. Und vielleicht war das auch so. Josef Fässer wurde gerade in einen grösseren Zusammenhang eingebettet, in ein alles erklärendes Ganzes – mit einem klaren Oben und Unten.

Den Auftakt machten die schnaufenden Pfeifenklänge der Orgel, die von einer in jeden Ton hineinlehnenden Organistin ausgeschickt wurden. Auf ihre träge, blasige Weise verteilte sich die Musik im Raum, zerfiel dabei in tausend Teile, die alle für sich allein ein Plätzchen suchten, um sich dort am eigenen Widerhall zu ergötzen. Und in dieser verschwimmenden Klangsuppe, die jegliche Grenzen aufzuheben schien, kam Roger wieder zu sich.

In diesem von ihm stets nur besuchten Ritual ergab der Tod plötzlich einen Sinn. Hier und nirgendwo anders gehörte er hin. Hier konnte Roger seinen Vater endlich sterben lassen, zu den Klängen der Orgel, die für ihn bereits den Tod seiner Grosseltern, seiner Tanten und den von Onkel Peter eingeläutet hatten. Wie ein fast vergessener Bekannter wurde Roger vom Tod umarmt und plötzlich umgab ihn das seltsam tröstende Gefühl, dass schon alles seine Richtigkeit besass.

Jetzt rief der Himmel.

Obwohl.

«Wir haben ihm die Pfeife nicht mitgegeben», setzte Rogers Mutter nun zur Verteidigung an. Inzwischen hatten sie in der ersten Reihe Platz genommen. «Mein Gott, sind wir denn hier im Alten Ägypten?», zischte sie wütend. «Willst du ihm gleich noch seine Bücher, ein Tupperware voll mit Risi Bisi und seine gesammelten Kreuzworträtsel mit ins Grab legen?»

«Er würde sie auch dort nicht lösen», sagte Roger trocken. Esther starrte ihren Sohn an. Ihr Gesicht verriet Erstaunen, aber keine Spur von Empörung. Seine Äusserung schien sie nicht zu schockieren, was nur bedeuten konnte, dass sie die Wahrheit bereits kannte. Sie wusste ganz genau, dass die Rätselei ihres Mannes die reinste Farce gewesen war. Sie war nur von der Tatsache überrumpelt worden, dass auch Roger darüber im Bilde war.

Dieser starrte nun zurück zu seiner Mutter. Wenn sie beide das Spiel durchschaut hatten, dann hatte sein Vater das Theater allein für sich selbst aufgeführt.

Eine über die Jahre hinweg sorgsam inszenierte Selbsttäuschung, nichts anderes war es gewesen! Eine Täuschung, die ihn zwei Stunden seiner täglichen Lebenszeit kostete. Das ergibt, von Rogers Geburt bis zu Josefs Tod, die Schaltjahre mit berücksichtigt, insgesamt 30'697 Stunden. Das sind 1'278 Tage, was wiederum ungefähr 3,5 Jahren entspricht.

«Ab wie vielen Stunden Täuschung ist ein Leben eine Lüge?», fragte sich Roger, während der Pfarrer die Stationen von Josefs Biographie durchging. Seine feste Stimme türmte die Jahre seines Vaters wie Bauklötze aufeinander. Doch als er damit fertig war, sah Roger, wie der Turm schwankte und auseinanderzufallen drohte. Ohne die tragende Stimme des Pfarrers, die ihn wie ein Gerüst stützte, war es nur ein wahllos aufeinander gestapeltes Leben ohne Zusammenhang. Und sein Zweck war ebenso wenig ersichtlich.

Worüber wollte sein Vater bloss hinwegtäuschen?

Zu Bachs Orgelstück «Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide» schloss Esther Fässler den oberen Deckelteil des Sarges. Josefs älterer Sohn Marcel stand neben ihr, gefasst und bereit, seinen Vater zu seiner letzten Ruhestätte zu tragen. Roger sass noch immer auf der Bank, durch die auffordernden Blicke seines Bruders hindurchsehend, als plötzlich Rita neben ihm auftauchte.

«Komm», sagte sie, und hielt ihm ihre Hand hin.
Roger griff danach und stand auf.
«Er ist tot», sagte er.
«Ja», sagte Rita.

Teaser für Projet Roger
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Eine Eibe für die Ewigkeit

Roger packte nur ein paar wenige Sachen zusammen, lange wollte er nicht bei seiner Mutter bleiben. Eigentlich wollte er überhaupt nicht zu ihr, aber sein Bruder hatte ihn quasi dazu genötigt. Schliesslich habe Roger sie während der ganzen Beerdigungssause nicht unterstützt, alles habe Marcel organisieren und regeln müssen, und jetzt, wo es vorbei war, müsse er schleunigst mit seiner Familie zurück nach Hause fahren.

Roger hatte keine Familie, mit der er zurückfahren konnte. Da war nur Esther, und an ihrer Tür klingelte er nun.

Sie erschien in ihrem geblümten Morgenmantel, den sie immer trug, wenn sie nicht vorhatte, das Haus zu verlassen. Die Ärmelbündchen verrieten sein hohes Alter, da war er vom vielen Tragen ganz dünn geschabt worden. Und seine einst roten und pinken Rosen schrien nicht mehr, müde und abgeblasst zogen sie sich über den lumpig gewordenen Stoff, dem einzig der Bindegürtel noch ein bisschen Form zu geben vermochte.
«Hallo», sagte Roger, «da bin ich.»
«Das sehe ich», erwiderte seine Mutter und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.
«Und ich sehe deinen Morgenmantel.»
«Das ist jetzt mein Trauermantel», meinte sie, hob ihn dabei mit beiden Händen ein wenig an und machte einen Knicks.
«Aha», meinte Roger und dachte daran, wie sehr sein Vater diesen Mantel verabscheut hatte.

«Man ehrt die Toten am besten, indem man sein Leben exakt so weiterlebt wie davor.»
Roger nickte. Er war es sich gewohnt, dass seine Mutter seine Gedanken beantwortete.

Durch die ermutigenden Blicke, mit denen sie ihn auf dem Weg ins Wohnzimmer immer wieder bedachte, fühlte er sich übertrieben bevormundet, schliesslich war er kein Fremder in diesem Haus, der sich darin hätte verirren können.

Doch als Roger angekommen war, blieb er abrupt stehen. Irgendwas hatte sich tatsächlich verändert. Er grub seine Zehen in den grünen Berberteppich, als wollte er den vertrauten Herzschlag des Hauses spüren. Er fand ihn nicht. Alles schien wie immer, das bis zur Decke reichende Bücherregal, das den Schwedenofen zu beiden Seiten einrahmte, der Fernseher, wacklig thronend auf seinem Rollmöbel, und davor Josefs Sessel mit dem dazugehörigen Ottomanen, dessen Kauf Esther für so lange Zeit zu verhindern wusste. Sie hatte seinen Vorträgen über korrekte vs. rückenschädigende Sitzpositionen lange standgehalten. Doch der allabendliche rhetorische Einwurf: «Wohin bloss mit meinen Füssen?», den er danach immer noch in Lateinisch, seiner Lieblingssprache, zu wiederholen pflegte – «Ubi pedes meos ponerem?» –, höhlte mit jedem Mal ihren Widerstand weiter aus, bis ihr Nein keine Kraft mehr hatte und schliesslich einem stummen Nicken wich. Das war es nicht wert. Lieber 2000 Franken für den Frieden zahlen. Für die lateinfreien Abende, die da noch kommen mochten.

Irgendwas war anders. Im Untergrund. Unter all den gewohnten Dingen, die ihn umgaben.

«Setz dich», sagte Esther. Und da war es.

Ein neuer Ton. Ein herrischer Ton. Einer, der sagte: «Jetzt bin ich hier die Chefin. Und das ist mein Reich.»

Es stimmte. Auch das Haus hatte seinen einstigen Besitzer verloren, gehörte jetzt ganz Rogers Mutter. Und selbst wenn Josefs gesamte Habe noch immer drin stand, war es nicht mehr das Haus, in dem er gross geworden war.

Esther stellte das Tablett mit den Kaffeetassen auf den Glastisch. Dann ging sie hinüber zum Bücherregal. Und wieder kam sie in diesen Führungsmodus, als befänden sie sich in einem Museum, wo sie die Gegenstände ihres verstorbenen Mannes einem interessierten Publikum vorstellte.

«Hier ist das gute Stück», sagte sie und ihre Hand flog in Richtung Pfeife, vollführte währenddessen eine halbe Drehung, sodass sie mit der Innenfläche gegen oben vor dem Objekt zum Stillstand kam. Ein Weilchen hing sie noch da, präsentierend, abwartend. Doch weil Rogers Begeisterung ausblieb, schwand der anfängliche Enthusiasmus und die Hand stürzte in die Tiefe, um dann enttäuscht an einem erschlafften Arm herunterzubaumeln.

Die Pfeife stand, wo sie immer gestanden hatte, wenn sie nicht aus Josef Fässlers Mund ragte: in ihrem schlichten, elegant geschwungenen Ständer aus Palisanderholz.
«Ich wollte sie behalten», sagte Esther jetzt und klang nicht mehr wütend wie an der Beerdigung. «Als Andenken», fügte sie fast entschuldigend hinzu. Roger nickte.

Er verstand seine Mutter. Und wo die Pfeife am Ende besser aufgehoben wäre, ob in Josefs Grab oder im Museum von Esther, konnte er selbst nicht genau sagen.

Er nahm sie vom Regal und hielt sie sich unter die Nase. Es roch abgestanden. Er betrachtete sie ein wenig genauer, dann sah er, dass sich im Pfeifenkopf noch Reste verbrannten Tabaks befanden. Warum hatte Josef sie nicht geputzt? Er war doch immer so gründlich, was die Pfeifenhygiene betraf.
«Da hat's noch Tabak drin», sagte er und hielt die Pfeife seiner Mutter hin.
«Ja», begann sie zögernd, «ich konnte sie noch nicht reinigen.»
«Warum du?», hakte Roger verwirrt nach.
«Weil ...» Sie sprach nicht weiter.
Roger sah sie an. «Ist er ...?»
«Ja», antwortete sie, den Blick auf die Pfeife gerichtet, die Roger ihr noch immer hinhielt.
«Wo genau?»

Sie zeigte auf den Lounge Chair. «Er fühlte sich nicht gut an dem Tag», erzählte Esther. «Ich hab ihm Risi Bisi gemacht, aber es half nicht. Das Herz. Du weisst ja, wie schwach es war.»
«Ja», sagte Roger.
«Ihm war schwindelig, dennoch wollte er auf seine Pfeife nicht verzichten. Trotzig füllte er sie mit Tabak und steckte sie an. Und dann auf einmal sackte er nach hinten, die Pfeife fiel auf den Teppich und ...» Esther hielt inne.

Roger fand den Brandfleck, der sich nur ein kleines Stück vom Sessel entfernt in die Schafwolle gefressen hatte. Er kniete nieder und strich mit den Fingern über die versengte Stelle. Dieses kleine braune Löchlein war also das Letzte, was sein Vater hier auf Erden hinterlassen hatte.

«Der schöne Berber», sagte seine Mutter traurig. Dann ging sie hinaus in den Garten.

Rogers Kaffee war inzwischen kalt geworden. Und als er ihn in den Ausguss kippte, sah er vom Küchenfenster aus, wie Esther mit dem Spaten versuchte, ein kleines Bäumchen auszugraben. Sie schien Mühe zu haben, also ging er raus, um ihr zu helfen.

«Gib mir das Ding mal», sagte er, hinter ihr stehend. Esther zuckte zusammen. Sie hatte ihren Sohn nicht kommen hören.
«Ich schaff das schon», meinte sie, ohne sich umzudrehen.
«Was machst du da eigentlich?»
«Das siehst du doch, ich grabe die Eibe aus.»
«Warum?»
«Weil sie der Schutzbaum der Toten ist. Die Germanen wussten das. Damit wehrt man böse Geister und Dämonen ab und erlangt Ewigkeit. Ich werde sie auf Josefs Grab pflanzen.»

Esther, des Grabens müde, ging nun dazu über, ächzend am Stamm zu zerren, so lange, bis die Eibe schliesslich nachgab und sie selbst ruckartig ins Beet plumpste. Die Derbheit, die sie dabei hatte walten lassen, hatte das Wurzelwerk zu grossen Teilen zerstört. Wie zur Nutzlosigkeit verstümmelte Stümpfe ragten die zertrennten Lebensadern aus der Erde und Roger fragte sich, ob dieses Bäumchen wohl noch imstande war, böse Geister und Dämonen abzuwehren, geschweige denn, Ewigkeit zu spenden.

«So», sagte seine Mutter, nachdem sie sich wieder aufgerichtet und die zerzauste Eibe neben sich auf den Rasen gelegt hatte, «nachher gehen wir aufs Grab.» Sie verschwand im Haus. Abermals durchs Küchenfenster sah er, wie sie vor dem Spülbecken auftauchte. Sie drehte den Wasserhahn auf und begann, sich die Hände zu waschen. Es war ein seltsamer Anblick, denn Esther Fässler war keine Frau, die sich im Händewaschen hervortat. Sie dreckig zu machen, das war mehr ihr Ding. Unter ihren Fingernägeln sammelten sich für gewöhnlich die Reste ihres Tagwerks, schwarzrandige Beweise für ihr geschäftiges Tun, Teig kneten, Unkraut jäten, Hüte filzen. Sie war immer stolz auf ihre zerfurchten Arbeiterinnenhände gewesen, nun zu sehen, wie seine Mutter sie unter dem Wasserstrahl regelrecht reinbürstete, war neu für Roger.

Es lag etwas Eckiges, fast Roboterhaftes in ihren Bewegungen, und als sie zu ihm hochsah, wirkte selbst ihr Grinsen künstlich.

«Die Eibe ist hochgiftig, da muss man aufpassen», beantwortete sie einmal mehr die Gedanken ihres Sohnes, als dieser sich wieder ins Wohnzimmer gesetzt hatte. «Die Pferde sind früher reihenweise gestorben, weil sie daran geknabbert haben.»

«Und warum willst ...», fing Roger an, aber seine Mutter führte ihren Vortrag unbeirrt fort: «Ihr Holz war sehr begehrt. Man hat daraus Bögen gefertigt, selbst Ötzi, du weisst schon, der Gletschertyp, hat so einen gehabt. Nicht umsonst wurde die Eibe der ‹Baum des Todes› genannt.»

«Schön ... Und so was willst du jetzt Vater aufs Grab pflanzen?»
«Ach, Roger, wann verstehst du es endlich. Der Tod ist nicht das Ende. Er ist die Voraussetzung für die Ewigkeit.»

Roger gab auf. Den Glaubenssätzen seiner Mutter war nicht beizukommen. Sie hatte sie sich vor langer Zeit in die Seele geritzt, so wie die Germanen ihre Runen in Stein. Er wusste nicht genau, welcher Religion sie anhing, es war ein Flickwerk aus verschiedenen Weltanschauungen, es war Kräuterwissen gepaart mit Spiritismus und der Suche nach Erleuchtung, etwas wie Druiden-Esoterik, die sich grundsätzlich zur Natur bekannte und nicht in Linien, sondern allein in Kreisen dachte. Jegliche Arten von Kreisen schienen dabei wesentlich, magische Steinkreise im Garten, Energiekreise im Körper, Kreise in Form von antiken Knochenamuletten sowie Sand-Mandalas. Und nun wohl auch Todesbäume, die jenen ewigen Kreislauf des Lebens symbolisierten.

«Vater war katholisch», meinte Roger.
«Stimmt, aber da gibt's die Ewigkeit nur für die Guten», antwortete seine Mutter.
«Du denkst, es reicht ihm nicht für den Himmel?»
«Wer weiss. Doppelt hält auf jeden Fall besser», sagte sie bestimmt und lud die Eibe ins Auto. Roger setzte sich auf den Beifahrersitz und sie fuhren wortlos zum Friedhof.

PINOT – oder der identitätsspendende Quell neuer Firmenwerte

Teaser Roger
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«Endlich, du bist wieder da!», sagte Nicole, als Roger sich neben sie ans Pult setzte.
«Ja», sagte er knapp.
«Das mit deinem Vater tut mir so leid, Roger. Und dass ich in den Ferien war, auch. Das Leben timet die Dinge anscheinend am liebsten so, dass die Figuren im wichtigsten Moment aneinander vorbeiziehen.»
«Es war eher der Tod», sagte Roger.
«Stimmt. Wie geht's dir?»
«Na ja, ich wohne grad bei meiner Mutter.»
«Oh, auch das tut mir leid.»
«Geht schon», winkte er ihr Mitleid ab. Mit der Hand, die Nicole vor fünf Jahren zum ersten Mal geschüttelt hatte und die so schwitzig gewesen war, dass sie von der ihren abrutschte und erst im letzten Moment noch an ihren Fingern Halt fand. Jetzt aber schien jegliche Kraft daraus entwichen zu sein.

«Ich muss auch schon wieder», sagte er und stand auf.
«Wohin?», fragte Nicole.
«Meeting mit HR-Hugo.»
«Wegen der neuen Unternehmenskultur?»
«Wahrscheinlich, in der Einladung stand nur: ‹Pierce the future!›»

Nicoles Augenbrauen hoben sich. «Ja, das ist der Slogan, unter dem wir jetzt arbeiten. Einer mit ‹visionärer Strahlkraft›, wie es im Townhall-Meeting geheissen hat. Mich erinnert's eher an einen riesigen, bohrenden Penis. Dem allerdings 75 Leute im Wege gestanden haben müssen.»
«Ja, ich hab von den Entlassungen gehört», sagte Roger tonlos und schlurfte in Richtung der Aufzüge davon.

Wie verloren er aussah.

Und wie verloren er war.

Der Aufenthalt im Hause seiner Mutter hatte diesen Umstand nicht unbedingt gelindert. Es fühlte sich seltsam an, wieder bei ihr zu sein, im selben Bett zu schlafen, in dem er schon als Teenager geschlafen hatte. Auch das Zimmer war noch immer so, wie er es einst verlassen hatte. An der Wand hing das Poster von Alf, schräg aufgehängt, weil das extrem cool war. Und Roger wollte extrem cool sein.

Stattdessen fühlte er sich dort jetzt wie ein Anachronismus im eigenen Leben. Wie sollte er so den Tod von Josef verarbeiten? Alles in diesem Haus schrie nach ihm, schrie laut und leer nach diesem Mann, der sein Vater gewesen war und von dem er nichts wusste. Alles war beherrscht von diesem einen Bild, Josef Fässler, rauchend und betrügend in seinem blöden Designer-Sessel. Es besetzte Rogers ganzen Kopf und legte sich über die anderen Erinnerungen, erstickte sie, bevor sie ihre Geschichte erzählen konnten.

Weh tat es trotzdem. Jedes Mal, wenn er ins Haus trat. Und jedes Mal, wenn er es wieder verliess. Dazwischen auch. Es war, als steckte sein Herz in einer Presszange und immer, wenn ihm das Ableben seines Vaters in den Sinn kam, drückte irgendwer die Schenkel zusammen. Der Verlust war echt, egal wie lügnerisch das Leben gewesen war, das verloren gegangen war.

Die neue Unternehmenskultur kam also wie gerufen. Sie versprach Authentizität auf allen Ebenen. Transparenz und Offenheit obendrauf. Ein Fragezeichen mehr würde Roger auch nicht ertragen.

«Du bist immer der Engagierteste im ganzen Team gewesen», meinte HR-Hugo gewichtig, nachdem Roger in seinem Büro Platz genommen hatte. Dann machte er eine Pause und genoss die Verwirrung seines Gegenübers.

«Die Geschäftsleitung hat dich zum Values Ambassador ernannt!», eröffnete ihm HR-Hugo. Dann öffnete sich sein Mund, dem nun ein enthemmtes «Ahhhh!» entwich, während seine Hände wie die eines überdrehten Fan-Boys in der Luft herumwuselten.

Das war etwas viel Emotion im Verhältnis zum dürftigen Kenntnisstand, über den Roger aktuell verfügte. HR-Hugo bemerkte die Diskrepanz und fügte hinzu: «Die Geschäftsleitung hat fünf neue Werte lanciert. Sie sind der Kompass, nach dem wir unser Denken und Handeln ausrichten, sie verkörpern unsere ganze Philosophie. Deine Aufgabe wird es sein, sie an die Belegschaft weiterzugeben – als ihr Botschafter.»

Und er würde dies zusammen mit Rita tun, ihres Zeichens die neue Assistant Values Ambassador.
Roger wurde rot. «Rita vom HR?», fragte er unsinnigerweise nach.
«Rita vom HR», bestätigte HR-Hugo.

Eben hatte sie ihm in der Kirche noch ihre Hand gereicht und nun sassen sie gemeinsam im Besprechungszimmer und sprachen über PINOT. PINOT, das stand akronymisch für die fünf Values, die es zu verinnerlichen galt: P für Positivity, I für Inspovation, N für Need, O für Ownership und T für Tolerance. PINOT solle in den Mitarbeitenden reifen wie im französischen Eichenfass, hatte Rita gesagt.

Und auch in Rogers leergeräumtem Ich fand er unverzüglich ein Zuhause: PINOT war der Wertekatalog, nach dem er künftig seine gesamte Inneneinrichtung gestaltete.

Umso mehr, nachdem er von Rita erfahren hatte, dass Inspovation den Magic Moment meine, in dem Inspiration und Innovation zusammenprallen und bäm, ein neuer Weg entstünde.

Es klang so verführerisch, und er sah sich bereits, wie er auf diesem wundersamen Pfad aus seinem alten Leben hinaus spazierte. Hand in Hand mit Rita, trunken vom PINOT, vom Laben an ebenjenem identitätsspendenden Quell drangen sie nicht nur in die Zukunft vor, sondern gestalteten diese gleich selbst. Eigenverantwortlich legten sie leuchtende Fliesen unter ihre Füsse, sich gegenseitig immer zu waghalsigeren Farben inspirierend, lustwandelten sie auf ihrem selbst verlegten Regenbogen ins Glück.

Ja, es ging Roger deutlich besser nach diesem Meeting. Er verspürte endlich wieder die Lust, etwas zu reissen. Die nächsten Tage bereitete er in gewohnt verbissener Weise den interaktiven Values-Workshop für die Mitarbeitenden vor. Die Mail dafür hatte er bereits verfasst; mit minimaler Hilfe von ChatGPT.

«Nicole», sagte er am Freitag kurz vor Feierabend, «ich glaub, ich hab's.»
«Was hast du?»
«Den Satz meines Lebens.»
«Oh, wow, raus damit!»

«In unserer Unternehmenskultur ist Toleranz nicht nur Akzeptanz, sondern gelebter Respekt.»
Das Lachen, das nun aus Nicole herausplatzte, war laut, aber nicht von allzu langer Dauer. Als sie sah, was es in Rogers Gesicht anrichtete, verstummte sie sofort.
«Roger, das ...»
«Du hast nichts verstanden, Nicole. T wie Tolerance. Wo ist deine?»
«... auf Mallorca geblieben?»
Roger schaute sie an und schüttelte den Kopf. «Wenigstens von dir hätte ich mir einen echten Dialog erhofft.»
Nicoles Augen begannen zu funkeln: «Echt?! Roger, du erkennst Echtheit nicht einmal, wenn sie nackt vor dir steht.»

Sie stand auf. «Ich brauch eine Zigarette. Eine echte», fügte sie hinzu, und bereute es sofort. Den Zynismus hätte sie sich sparen können. Aber sie war zu wütend. Wütend, dass sie nicht da gewesen war für Roger. Und dass statt ihrer Rita da gewesen war.

«Du bist doch nur eifersüchtig! Wärst wohl selber gern Values Ambassador geworden! Tja ...!» rief Roger Nicole hinterher, in ihre trüben Gedanken hinein. Dann griff er zur Nippon-Packung.

Rita hegte keinerlei schlechte Absichten, da war sich Nicole ganz sicher. Sie war nur ein Mensch ohne viel eigene Aussagekraft. Ein Mensch, der sich Dinge wie Firmenwerte in gewünschter Weise einzuverleiben verstand. N für Need. Was aber, wenn man seine eigenen Bedürfnisse missverstand? Roger war ein Meister darin. Sobald er ein Loch in seinem Wesen witterte, stopfte er es mit egal was. Mit Dämmwolle, mit Trends, mit corporate values. Und Nicole musste das unzulängliche Material dann wieder mühselig aus ihm herauspulen. Die Frage war bloss, was sie ihm stattdessen anbieten konnte. Dieses Mal hatte sie es mit der gigantischen Lücke zu tun, die der Tod des Vaters in ihrem Freund hinterlassen hatte.

Roger ging nicht zum obligaten Bier im Toro Loco gleich nebenan. Er wollte Nicole nicht noch einmal begegnen. Er wollte überhaupt niemandem mehr begegnen und am wenigsten seiner eigenen, abgezehrten Visage, die ihm im Spiegel des Männerklos entgegenstarrte. «Shape up!», befahl er ihr, doch sie shapte nicht up. Verdammte Nicole! Seine ganze Positivity, seinen frisch gewonnenen Lebensmut derart gnadenlos einzustampfen. «Welcher Mensch tut sowas?», fragte sich Roger. «Nimmt einem Trauernden das eine Taschentuch weg, das seine Tränen hätte trocknen können. Na warte nur, ich werd es mir zurückholen! O wie Ownership!», schrie er nun in den Spiegel, der sich nach wie vor weigerte, diesen sprühenden Kampfgeist angemessen auf sein Gesicht zu übertragen. Auch das Backenrütteln, das Roger nun anwendete, half wenig.

Und so verliess er das Klo und dann das Büro und machte sich auf den Weg zu seiner Mutter, die ihn bereits hinter einem dampfenden Fleischkügeliberg erwartete.

Mitten in der Nacht wachte er auf. Er schaute auf die Uhr, es war halb drei. Er stand auf, um einen Schluck Wasser zu trinken, aber als er in den Gang trat, hörte er ein leises Murmeln. Vorsichtig schlich er sich nach vorne zur Galerie, von wo aus er das gesamte Wohnzimmer überblicken konnte. Er sah einen Kreis aus Kerzen, sie waren um den väterlichen Teppich-Brandfleck herum arrangiert worden. Seine Mutter stand in dessen Mitte und liess den Raum mit ihren flatternden Bewegungen erzittern. Sie hatte die Fledermaus-Ärmel ihres Morgenmantels über die Flammen gebreitet, tanzte auf blossen Füssen, hielt sie über die Feuerzungen und stampfte dann eine nach der anderen aus. Dabei flüsterte sie noch immer etwas, Roger lehnte sich übers Geländer in der Hoffnung, so besser hören zu können. Aber erst als der Raum ganz im Dunkeln lag, verstand er ihre Worte, die nun wie ein Echo ihrem vorangegangenem Tun hinterher hallten.

«Ubi pedes meos ponerem?», flüsterte Esther Fässler durch die vom Wachsdampf erfüllte Luft. «Ubi, ubi, ubi.» Dann war alles still.

Date im Delfinarium

Projet Roger Delfinarium
Bild: watson

«Kaffee?», fragte Esther am Morgen, während die Bialetti in ihrer rechten Hand bereits eine eindeutige Schräglage angenommen hatte. Ein Nein lag längst nicht mehr drin. Alles war also wie immer und wieso sollte es auch nicht so sein? Vielleicht gehörten selbst sonderbare Rituale wie jenes, von dem Roger Zeuge geworden war, zu den allnächtlichen Gepflogenheiten seiner Mutter. Wer konnte das schon so genau wissen. Roger jedenfalls nicht. Was aber auch daran lag, dass er es nicht so genau wissen wollte. Etwas daran hatte ihn nämlich durchaus verstört, und jene Verstörung wiederum vertrug er so schlecht, dass sein Gehirn besagte Merkwürdigkeit sofort in Normalität verwandelte. Immerhin mit dem Einwand, dass das, was im Falle von Esther Fässler als normal galt, noch lange nicht einfach so auf den Rest der Menschheit ausgedehnt werden konnte.

«Danke» sagte er, nachdem sie ihm den Kaffee in die bereitstehende Tasse eingegossen hatte.
«Was steht heute an?», fragte Esther.
«Ich fahr mit Rita ins Delfinarium nach Schlesgau, da gleich hinter der Grenze.»
«Oh! Aber du magst doch gar keine Delfine. Weisst du noch, als wir auf den Galapagosinseln waren und einer sich so verdächtig an deinem Bein gerieben hat?»
«Wie könnte ich es vergessen, Mutter.»
«Und trotzdem willst du dahin?», fragte Esther nach.
«Ich geh ja nicht mit ihnen schwimmen. Ich geh Rita zuliebe. Schliesslich hat sie mich zu Vaters Beerdigung begleitet, da kann ich auch mit ihr ins Haus der Tümmler.»
Esther nickte zustimmend.

Draussen herrschte ein unentschiedenes Wetter, eines, dem man keinesfalls vertrauen konnte. «Ein richtiges Steppgilet-Wetter», schloss Roger – und schlang sich gleich noch seinen Schal um den Hals.

«So ganz sicher nicht», meinte Esther, die ihren Sohn vor dem Hinausgehen gern eingängig musterte. Roger seinerseits hatte sich in den letzten Tagen schon wieder derart daran gewöhnt, dass er keinen Schritt mehr vor die Tür wagte, bevor sie ihm nicht ihr Okay gegeben hatte.

«Das sieht ja aus, als baumelte eine tote Boa von deinem Hals herab. Wenn Rita deine Freundin werden soll, musst du das schon ein wenig eleganter lösen», meinte sie, griff nach dem losen Ende des Schals und warf es schwungvoll über Rogers Schulter. Dann trat sie ein paar Schritte zurück, um ihr Werk ganzheitlich zu betrachten. «Hmm», machte sie, packte nun einen Ticken energischer das soeben hinter die Schulter bugsierte Schlussstück, schlang es einmal um seinen Nacken und verknotete die beiden Enden. Ihre rauen Arbeiterinnenhände zogen und nestelten, bis ihr Gesicht verriet, dass sie nun endlich Perfektion herbeidrapiert hatte.

«Ich ersticke», sagte Roger. «Besser als schlecht auszusehen», gab seine Mutter zurück. «Bis später», sagte er und verliess das Haus.

Rita wartete vor ihrem Wohnblock. Sie trug ein langes geblümtes Kleid und darüber eine Jeansjacke. Als sie ihn heranfahren sah, winkte sie lächelnd.

Die Fahrt dauerte eine gute Stunde, die sie grösstenteils mit Gesprächen über den anstehenden Values-Workshop zubrachten. Gelegentlich griff sich Roger an den Schal und versuchte, ihn etwas zu lockern. Aber seine Mutter hatte ganze Arbeit geleistet.

Am Eingang zum Delfinarium hatte sich eine kleine Menschentruppe mit Schildern versammelt. Auf dem einen stand «Freedom for the Dolphins», auf dem anderen war «Kein Eintritt für Tierquälerei» zu lesen. In einem knallig orangen Planschbecken tummelten sich zwei junge Frauen in silbernen Overalls und Delfinmasken. Rita wurde blass und blieb stehen, den Blick auf den Pool gerichtet, wo die Hände und Beine der Aktivistinnen in Ketten lagen.

Sie klammerte sich an Roger. «Aber ... die haben es doch gut hier?», fragte sie ihn flüsternd.
«Sicher», beschwichtigte Roger, und führte sie schnell an den Protestierenden vorbei zur Kasse.
«Viel Spass im Delfinfriedhof!», rief ihnen eine Männerstimme hinterher.

Vorsichtig schaute er zu Rita hinüber, die ganz still auf ihrem Platz sass und ins leere blaue Bassin vor ihnen starrte. Dahinter war das Meer aufgemalt, dazu ein Strand mit Palmen. An den Seiten ragten riesige Plastikfelswände aus dem Wasser bis hinauf zur weissbalkigen Decke.

Ritas Augen glänzten. Doch als die ersten Delfine durch die Luft flogen, glaubte Roger zu sehen, wie sich ihr Gesicht allmählich aufhellte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie sich mit der Situation versöhnt hatte. Die Sprünge verhiessen schliesslich pure Freude.

Alles Kinderkreischen, das Klatschen und Platschen, so schien es ihm, verschmolz bald zu einem dumpfen, verzerrten Klangball, der zwischen den Delfinschnauzen hin- und hergeworfen wurde.

«Ich glaube, mein Vater hat für den Geheimdienst gearbeitet.»

Erleuchtungen überfallen Menschen immer und überall und manchmal sogar im Delfinarium. Jedenfalls überfielen sie da Roger. Es war, als hätte er den Klangball direkt an den Kopf gekriegt.

Rita schaute ihn eindringlich an: «Wie kommst du darauf?»
«Niemand kann ein Leben lang ohne Grund dermassen unfassbar sein. Ich war sein Sohn und ich weiss nichts über ihn zu erzählen.» Rogers Stimme klang gepresst.
Rita knotete ihm den Schal auf und nickte. Dann wandte sie sich wieder den Delfinen zu.
«Tat er vielleicht mal was Geheimnisvolles?», fragte sie, den Blick noch immer aufs Becken gerichtet.
«Hmm, eigentlich nicht», meinte Roger zögerlich. «Er gab jahrelang vor, Kreuzworträtsel zu lösen. Das ist doch seltsam, oder findest du nicht?»
«Ja, schon. Aber macht ihn das gleich zum Agenten?»
«Vielleicht trainierte er damit seine Täuschungsfähigkeit. Oder er heckte währenddessen geheime Pläne aus. Oder gleich beides zusammen, Spione sind doch sicher Multitasking-Profis! Aber was weiss ich schon. Nichts. Rein gar nichts! Das ist ja das Problem.»

Roger fasste sich an die Stirn und schaute auf seine neuen On-Schuhe. Alles fühlte sich so sinnlos an.

Als Rita aus dem Wagen stieg, war es bereits dunkel geworden. Sie hatten noch zusammen im Dolph-In gegessen, aber die Stimmung blieb getrübt, erst die Tierschützerinnen und dann die Geheimagentensache, es war alles zu viel Ballast für eine so frische Bekanntschaft. Von allem Anfang an hatte sich der Tod an sie drangehängt wie ein übergewichtiger Trittbrettfahrer, der ihr kleines, papierenes Liebesschiffchen in die Tiefen des unergründlichen Meeres herabzog.

«Danke», sagte Rita, «bis am Montag im Büro», dann schlug sie die Wagentür zu. Beim Hauseingang drehte sie sich noch einmal um und winkte.

Als Roger ins Haus trat, roch er den Rauch sofort. Kein Licht brannte, also tastete er nach dem Schalter und als er ihn fand, schrak er auf. Esther sass in Josefs Sessel und zog genüsslich an dessen Pfeife. Den Rauch entliess sie in groben Stössen aus ihrem Mund.
«Was zur Hölle tust du da?», fragte Roger aufgebracht.
«Das siehst du doch, ich rauche.»
«Warum? Du hast den Geruch immer gehasst.»
«Nicht den Geruch.»
«Und warum sitzt du im Dunkeln?»
«So viele Fragen, Roger. Setz dich zu mir.» Sie deutete aufs Sofa, doch Roger blieb stehen.
«Das ist Vaters Sessel. Und Vaters Pfeife!»
Esther lachte. Es war ein böses Lachen. Eines, das sie überhaupt noch nie gelacht hatte. Dann hörte sie abrupt damit auf. «Darf ich in meinem eigenen Haus nicht trauern, wie ich will?», schrie sie ihn an.
«Morgen bin ich weg», sagte er und ging.

Im Gang blieb er vor der Tür von Josefs Arbeitszimmer stehen. Er hielt die Türklinke für eine ganze Weile in der Hand, traute sich aber nicht, sie runterzudrücken. Irgendwann tat er es dann doch. Schwer und bedrohlich baute sich der viktorianische Schreibtisch in der Mitte des Raumes auf. Roger knipste die Banker-Lampe an. Im gedämpften Licht wirkte das Ungetüm schon etwas freundlicher. Drei Schubladen auf der linken Seite und ein Schrank auf der rechten umsäumten die Mahagoni-Platte. Darin befand sich der Tresor. Immer, bevor die Fässlers in die Ferien fuhren, hatte Esther ihren Goldschmuck da reingelegt. Aber was mochte sein Vater darin aufbewahrt haben?

Roger setzte sich auf den Boden vor die Schranktür. Dann öffnete er sie langsam. Der Tresor besass einen Drehknopf mit den Zahlen 0 bis 99. Als kleiner Junge hatte er seinen Vater jeweils dabei beobachtet, wie er nach den Ferien daran herumhantierte. Aber die Zahlenkombination kannte er nicht. Er wusste bloss, dass es ein sechsstelliger Code war. Er brauchte also nicht mehr als drei zweistellige Zahlen und dennoch ergaben sich daraus eine Million verschiedener Möglichkeiten.

Das waren eine Million Fragezeichen mehr. Kaum hatte er einen neuen Brotkrümel gefunden, zerbröselte er schon wieder in seiner Hand, wurde selbst wieder zu einer Million neuer Krümel. Alles zerfiel in immer kleinere Stückchen, anstatt sich zu einem Ganzen zusammenzufügen. Zu einem Bild oder zumindest zu einer Ahnung, zu irgendwas.

In seiner Verzweiflung spielte Roger einfach ein bisschen am Schloss herum. Es war eine «Mission Impossible», aber leider war er nicht Tom Cruise. Und ein Stethoskop lag hier auch nirgendwo rum.

Nicht einmal den Geburtstag seines Vaters kannte er. Seine Mutter hatte ihn jedes Jahr daran erinnern müssen. Irgendwann im Herbst. Also nahm er die Zahl 08, weil das H der achte Buchstabe im Alphabet war. 05 für E, dann folgte mit R die 18. Damit hatte er bereits alle sechs Ziffern vergeudet und mit 08-05-18 quasi nur «Her» geschrieben. Das Schloss zeigte sich ob dieser Halbpatzigkeit gänzlich unbeeindruckt. Mit 85-18-21 kam er zwar ein wenig weiter, aber auch damit liess sich das Riegelwerk nicht öffnen.

In Ermangelung des väterlichen Geburtstages probierte Roger es nun mit seinem eigenen. Er drehte vier Runden im Gegenuhrzeigersinn bis zur 19. Dann drei in entgegengesetzter Richtung bis zur 01. Dann wieder zwei Umdrehungen nach links bis zur 78. Weil in seinem Büro auch so ein stählernes Ding stand, kannte er sich mit dessen Mechanik aus. Zuletzt musste man nach rechts drehen bis zum Anschlag.

Klick.

Dinosaurier im Tresor

Teaser Projet Roger
Bild: watson

Roger starrte in den geöffneten Tresor, aber ohne wirklich etwas zu sehen. Die Verblüffung hatte ihn für den Moment völlig blind gemacht. Und als das Augenlicht allmählich wieder zurückkehrte, erkannte er im oberen Fach des Tresors eine kleine Holzschatulle. Vorsichtig nahm er sie heraus. Auf dem Deckel stand in krakeliger Kinderschrift «Roger».

Er wusste schon jetzt, was sich darin befand. Der Schatz einer ganzen Woche Klopfarbeit. Roger musste etwa acht Jahre alt gewesen sein in jenem Sommer. Sein Bruder Marcel war im Unihockey-Trainingslager. Und seine Mutter war auch weg: In einer Spezialklinik, weil etwas mit ihrem Kopf nicht stimmte, wie Josef ihm erklärt hatte. Sie musste dort eine ganze Weile geblieben sein, denn in jener Zeit war seine Oma oft da, um zu kochen und zu bügeln.

Jeden Tag stand sein Vater in aller Frühe auf und machte die Eingeklemmten. Er schmierte das aufgeschnittene Weggli mit Mayo voll, legte ein dickes Stück Fleischkäse auf den Weggli-Boden und garnierte es mit einem «Alibi-Gürkli». Damit da auch noch was Gesundes drin sei, meinte er, bevor er es mit dem Weggli-Deckel zudeckte und das Ganze in Frischhaltefolie einwickelte. Zusammen mit einer Flasche Elmer Citro wanderten die Brötchen in den Rucksack, in dem bereits Hammer und Meissel steckten. Dann fuhren sie mit dem Zug über zwei Stunden lang nach Frick auf den Klopfplatz.

Es ist der Ort, an dem man bis heute die versteinerten Überreste von Plateosauriern finden kann, die dort vor über 200 Millionen Jahren an den Schachtelhalmen und Farnbäumen geknabbert hatten. Genau genommen riss der Saurier die Blätter einfach ab und schluckte sie dann runter; kauen war nichts für ihn. Er frass lieber Steine, die im Magen sein Versäumnis wettzumachen hatten und die bis dahin unversehrt gebliebene Nahrung in mühseliger Zusatzarbeit zermahlen mussten. Wer in Sachen Verdauung eine solche Ineffizienz an den Tag legt, braucht sich also auch sehr lange vor der modernen Leistungsgesellschaft nicht zu wundern, wenn er ausstirbt. Wenn die Siesta zu lange dauert, ist das fürs Überleben in der späten Trias genauso schädlich wie fürs Bruttoinlandprodukt im Anthropozän. Besonders, wenn daneben noch ein Vulkan ausbricht.

Und so verschwanden die Plateosaurier von der Erde.

Einzig ihre Knochen blieben da, blieben so lange, bis sie zu Stein wurden und, ein paar Millionen Jahre später, der riesige Urozean Tethys über das Juragebiet schwappte. Dabei hinterliess er ein warmes Flachmeer, wo sich nun jede Menge Ammoniten mit ihren hübschen Spiralhäuschen, Seeigel, Fische und die Urahnen der Kalamare im seichten Wasser zu tummeln begannen.

Abermals vergingen Abermillionen von Jahren, während denen sich Afrika jährlich zwei bis drei Zentimeter nach Norden zubewegte und schliesslich mit der eurasischen Platte zusammenstiess; und nun hob sich der Boden, türmte sich auf und zerklüftete sich, da wurden Schichten gestaucht, über- und untereinandergeschoben, sodass am Ende dieses innigen und selbst wieder Millionen von Jahren andauernden Gewurstels die Alpen herauskamen. Der dabei übriggebliebene Schwung aber reiste weiter nach Norden, wo er, wieder ein paar Millionen Jahre später, auch noch das Juragebirge zurechtfaltete. Das war vor gut 5 bis 10 Millionen Jahren.

Damit war das, was einmal unten in jenem flachen, uralten Meer lag, an die Oberfläche gekommen. Und da stand nun, 200 Millionen Jahre später, ein kleiner Junge neben seinem Vater und klopfte einen Plateosaurier-Zahn aus einem Gesteinsbrocken. Meisselte eine millionenschwere Vergangenheit mit ein paar zielgerichteten Hieben heraus.

Und 200 Millionen und 39 Jahre später sass ein 47-jähriger Mann vor dem Tresor seines Vaters und weinte.

Er hielt die kleine Schatulle noch immer ungeöffnet in seinen Händen. Er wusste, dass sich darin kein Dinozahn befand, er ahnte es schon damals, als er das Fossil aus dem Stein herausgehauen hatte, doch sein Vater bestärkte ihn im Glauben, etwas Besonderes gefunden zu haben. Etwas Grösseres und Selteneres als ein Stücklein eines gemeinen Kopffüssers, der sich gefühlt in jedem zweiten Felsblock jenes Klopfplatzes verewigt hatte.

Es war ihr eigener, kleiner Vater-Sohn-Mythos. Es ging nicht darum, was da wirklich zum Vorschein gekommen war. Allein die Geschichte gab ihm seine Bedeutung. Am Ende geht es immer nur um die Geschichte.

«Roger?», hörte er die Stimme seiner Mutter. «Komm, ich hab dir Kaffee gemacht.» Es war schon Morgen, die Sonne fiel in Josefs Arbeitszimmer, auf dessen Boden er sich wiederfand. Auf seiner linken Backe zeichnete sich die fein eingravierte Linie vom Holzkästchen ab, auf dem er eingeschlafen sein musste. Roger wischte sich den Mund und erhob sich. Sein Körper machte dabei vielfältige Geräusche und alle klangen sie nach verlorener Jugend.

Ja, er hatte verstanden. Das Leben ist zerbrechlich. Selbst wenn es die Natur in einem gewaltigen Fossilierungsakt zuweilen zu konservieren verstand.

«Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?,» fragte seine Mutter, als er in die Küche getreten war.
Roger nickte und schaute auf die Schatulle in seiner Hand.
«Gut», meinte sie. «Soll ich dir heute Abend die Karten legen?»
Er stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch. «Okay», sagte er. Nicht, weil er scharf auf Tarot war, sondern weil er wusste, dass es die einzige Aussicht auf Versöhnung mit seiner Mutter war, die stets nur in ihrer Welt, unter ihrem transzendentalen Palmblätterdach möglich war.

Dann ging er duschen. Roger musste schleunigst in den Arbeitsmodus kommen. Schliesslich war heute der Tag, dem er seit Wochen entgegengefiebert hatte. Der Tag, an dem er brillieren wollte. Er hielt sein Gesicht in den Wasserstrahl und versuchte, alle Gedanken abzuwaschen, die nichts mit dem Values-Workshop zu tun hatten, der in zwei Stunden anstand.

Es gelang ihm nicht sonderlich gut. Dinosaurier waren riesig und dementsprechend schwer aus dem Kopf zu kriegen. Da hatten selbst die besten Firmenwerte keine Chance. Zum Glück hatte er alles in seiner Power-Präsi drin. Mit tollen Beispielen fürs aktive Gestalten des Arbeitsalltags im Geiste von PINOT. Er würde sich einfach daran entlanghangeln.

Als er das Büro in seinem himmelblauen Anzug betrat, fühlte er sich wie verkleidet. Er trug den Anzug nicht, der Anzug trug ihn. Er versuchte noch, sich mit ihm zu verbinden, machte seine festen grossen Schritte, auf dass sie eine Einheit würden, ein stimmiges Bild abgäben, eins, wo man sagt, doch moll, der Typ hat's im Griff.

Aber Roger hatte es nicht im Griff. Er war nicht fokussiert, dafür hatte sich viel zu viel Vergangenheit in seinem Gehirn festgesetzt.

Es war nicht so, dass er an einem Tag ohne solch existenzerschütternde Entdeckungen vor Selbstbewusstsein gestrotzt hätte. Im Gegenteil, er schien für ein menschenkennendes Auge sogar stets ein wenig verkleidet. Das Bild war noch niemals stimmig gewesen, ob jetzt im himmelblauen Anzug oder in seinen Tennisshorts. Nur war Roger üblicherweise erfolgreicher darin, es sich selbst vorzuspielen. Schliesslich hatte er es ein Leben lang geübt.

Und als er dergestalt an den Damentoiletten vorbeistapfte, sah er beiläufig zur Tür, die gerade halb offen stand. Augenblicklich wendete er seinen Blick ab, weil man ja doch eher nicht in geöffnete Frauen-WCs schauen sollte, aber es war schon zu spät. Er hatte sie gesehen.

Géra, wie sie am Waschbecken stand und ihren Stiefel darin ausleerte.

War das wirklich Géra, die er zum letzten Mal auf dem Tanzschiff gesehen hatte? Und kam da wirklich Wasser aus ihrem Schuh? Was zum ...

Plötzlich wurde alles schwarz. Es war zu viel. Zu viele Geister, die ihn verfolgten. Der Boden, auf dem er eben noch gestanden hatte, bekam Risse und begann auseinanderzubrechen. Schicht um Schicht löste er sich auf und Roger fiel in ein dunkles Loch, fiel tiefer und tiefer, fiel bis zum Erdkern, wo er schliesslich irgendwo aufkam.

Weh tat es nicht, er schien kein Eigengewicht mehr zu haben, er hatte während des Fluges bereits allen Ballast abgeworfen und war schwerelos zum Grund hinabgesegelt. Aber als er die Augen wieder öffnete, war die Schwere sofort wieder da. Nicole kniete neben ihm und tätschelte seine Wangen, während Rita besorgt seinen Namen hauchte.

«Du warst fast fünf Minuten weg,» sagte Nicole, «alles okay?»
«Ich glaube schon», meinte Roger und sah sich um. Hinter den beiden Frauen stand Marco vom Sales und schaute ernst auf ihn herunter. Alle anderen hatten sich aus weiterer Entfernung zu ihm umgedreht und glotzten durch die gläsernen Wände auf den Gang, wo er noch immer lag. Roger winkte ihnen kurz zu, woraufhin sich die meisten wieder ihren Bildschirmen zuwandten.

Géra war nirgends zu sehen.

«Ich werde sofort Hugo informieren, den Workshop machen wir ein anderes Mal», meinte Rita und stand auf. Nicole reichte Roger eine Wasserflasche.

Er trank, noch immer auf dem rauen Teppich sitzend, einen Schluck. Irgendwie war ihm nicht danach aufzustehen. Er schien dem Boden nicht zu trauen, zu Recht, schliesslich war er von ihm verschluckt worden.
«Willst du nicht nach Hause gehen?», fragte Nicole nach einer Weile, in der er keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich fortzubewegen.
«Nein. Ich bleibe lieber hier.»
Nicole nickte und blieb auch. Solange, bis plötzlich Esther Fässler auftauchte – mit einem Tupperware voll mit Ghackets und Hörnli.

«Du musst etwas essen», befahl sie und half Roger vom Boden auf. Wortlos ging er seiner Mutter hinterher, die sich in seinem Büro bewegte, als wäre sie zuhause. Sie schob das Essen in die Mikrowelle und deutete auf einen Stuhl am grossen Tisch. Roger setzte sich.

«Das Apfelmus ist schon drauf», sagte sie, als sie das Tupperware vor ihm hinstellte. Und Roger ass. Er ass mit einem solchen Appetit, dass man meinen konnte, da müsse sich jemand ganz schnell zurück ins Leben futtern.

Die Tarot-Täterin

Projet Roger Teaser
Bild: watson

Esther räucherte das Wohnzimmer aus. Dafür hatte sie ein Palo-Santo-Scheit angezündet und bewegte sich nun im Uhrzeigersinn durch den Raum. Sie wedelte damit in alle Ecken und in jede Schublade, rauschte an der Bibliothek vorbei, um dann mehrmals den Lounge Chair ihres verblichenen Gatten in immer enger werdenden Zirkeln zu umkreisen. Er erhielt die intensivste Behandlung, hier bückte sie sich und fächelte ganz ungestüm den Rauch unter das Drehkreuz, in dem sich raue Mengen an schlechter Energie verfangen zu haben schienen.

Nach getaner Arbeit legte sie das glühende Holzstück in eine mit Sand gefüllte Schale, wo es nun, mittig platziert auf dem Glastisch, bis zur vollständigen Selbstvernichtung vor sich hin qualmte. Dann öffnete sie die Fenster. «Adieu», sagte sie und entliess allen nun gelösten, feinstofflichen Ballast in die Freiheit.

«Du kannst dich jetzt zu mir setzen», rief sie mit fast singender Stimme Roger zu, der in der Küche wartete. «Hier», präzisierte sie und deutete auf das Makramee-Sitzkissen, das sie selbst aus naturfarbenem Jutegarn geknüpft hatte, wie sie bei jeder Gelegenheit betonte. Heute allerdings nicht. Sie war ganz in die Vorbereitungen der Tarot-Sitzung vertieft. Sie zündete die «Seelenkerze» an, ein langes, unförmiges Wachslicht, das während seiner Produktion durch Esther Fässler beim weihnachtlichen Kerzenziehen mit allzu vielen Farbschichten konfrontiert worden war, sodass es aus dem letzten Bad in einer Art abgespanntem Braun wieder zum Vorschein gekommen war.

Da knieten sie nun um den Megalithen-Glastisch herum, während Esther die Karten mischte. «Schliess deine Augen, atme drei Mal tief ein und aus, während du deine Frage verinnerlichst, dann öffne sie wieder und zieh drei Karten aus dem Deck», wies sie Roger nun in viel ruhigerem Ton an. Und während dieser die Augen schloss und Luft holte, merkte er, wie schwer seine Lider waren. Er wollte überhaupt nicht hier sein. Er wollte keine Karten ziehen und auch überhaupt nichts wissen, weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft, und was die Gegenwart anging, in dieser wollte er einfach nur schlafen. Alles wegschlafen, den toten Vater, die vom Tod verunstaltete Liebe, Nicoles Lacher, Géras Wasserstiefel und die blöden Tarot-Karten sowieso.

Aber die Müdigkeit war so bleiern, dass er keine Kraft hatte, sich aus dem Gefüge herauszulösen, das seine Mutter um ihn herum gebaut hatte. Er sass fest in ihrem Bannkreis. Und nachdem sie die Karten fächerförmig vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet hatte, streckte er automatisch die Hand nach ihnen aus, als würde sie an einem unsichtbaren Faden hängen. Esther Fässler gab ihm einen Klaps auf die Finger. «Doch nicht mit rechts!», kreischte sie, und Roger zog sie erschrocken zurück. Zögerlich nahm die andere Hand einen zweiten Anlauf, tastete sich übers Mittelfeld, schwang dann ein wenig nach links, bis sie schliesslich den Mittelfinger ausfuhr und drei Karten herauszog.

«Gut», kommentierte sie sein Tun. «Wie lautet deine Frage?»
«Ich habe keine», sagte Roger.
«Roger!», stöhnte Esther.
Und Roger überlegte eine Weile.
«Eigentlich hab ich zu viele. Hinter meinem gesamten Leben steht ein riesiges Fragezeichen. Wann geht es endlich weg?»
«Damit kann ich arbeiten», sagte sie und legte eifrig Rogers Karten der Reihe nach vor ihn hin. Dann deckte sie die erste auf.

«Neun der Schwerter. Plagen dich Geister der Vergangenheit in der Nacht? Ich sehe, dass deine Seele von etwas gequält wurde und vielleicht noch immer gequält wird. Böse Träume, böse Erinnerungen, böse Energien ...»

«Die Karte steht auf dem Kopf, genau genommen zeigt sie auf dich», unterbrach Roger seine Mutter.

Esther schaute auf die Karte und sagte lange nichts mehr.

«Wo warst du, als ich klein war? Als Oma immer herkam und für uns kochte?»
«Weg», sagte sie. «Mir ging es nicht gut. Ich konnte nicht für euch sorgen, ich war ... verwirrt.»
«Wie verwirrt?», hakte Roger nach.
«Ich sah die Welt nicht mehr, wie sie wirklich war.» Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, entschied sich dann jedoch dagegen. «So, genug von mir», meinte sie mit jener ihm gut bekannten Stimme, an deren Endgültigkeit noch nie zu rütteln gewesen war.

Sie deckte die zweite Karte auf. «Die Welt. Roger, du sehnst dich nach Ganzheitlichkeit. Alle Bereiche deines Lebens und alle Aspekte deiner Persönlichkeit sollen in harmonischer Vollständigkeit zueinanderfinden.»
«Ist das jemals jemandem gelungen?», fragte Roger.
Seine Mutter lächelte. «Wahrscheinlich nicht. Aber es ist ein fundamentales Bedürfnis jedes Menschen, sich zu vervollständigen. Seinen Platz im grossen Ganzen zu erkennen und sich mit der Natur und dem Universum zu verbinden.»
«Ich will mich nicht mit dem Universum verbinden. Ich will nur das Gefühl haben, nicht auseinanderzufallen.»

«Das scheint mir für den Anfang vernünftig», meinte sie und notierte etwas in ihrem Buch der Erleuchtung. So nannte sie das dicke Notizheft, in das sie kritzelte, seit Roger denken konnte.

«Wollen wir uns die Zukunft ansehen?», fragte sie.
«Eigentlich nicht», hörte sich Roger sagen.
«Willst du lieber morgen fortfahren?», fragte seine Mutter, der Rogers Erschöpfung nicht entgangen war. Roger nickte, sichtlich erleichtert darüber, dass das Morgen auch wirklich erst morgen beginnen würde.

«Na dann, gute Nacht», verabschiedete sich Esther und blies die Seelenkerze aus. Roger wünschte ihr selbiges, blieb aber noch sitzen. Seine Füsse waren eingeschlafen, er konnte sowieso nicht aufstehen, bevor die fiesen Nadeln nicht aufgehört hatten, in seine Sohlen zu stechen. Er versuchte, die Füsse zu bewegen, aber es fühlte sich falsch an. Wieso verbrachte er eigentlich die letzte Zeit ständig auf dem Boden? Sein Körper war dafür nicht gemacht. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine etwas in die Höhe, es half wenig.

Roger schwante, dass die Erlösung auf sich warten liesse. Blöd nur, lag sein Handy noch immer in der Küche, weil Esther es wegen dem Elektrosmog und störender Schwingungen streng im «Raum der Erkenntnis» verbot, den sie während einer Tarot-Sitzung aufzutun pflegte. Und auch die vielfältigen Zerstreuungsmöglichkeiten der Bibliothek waren nicht in Reichweite. Nur das Buch der Erleuchtung lag noch immer vor ihm auf dem Tisch. Und so kam Roger in Versuchung, darin herumzustöbern. Es fühlte sich ebenso falsch an wie das Bewegen seiner tauben Füsse eben, aber vielleicht liess sich ja Falsches mit Falschem vergelten.

Das Buch der Erleuchtung

Projet Roger
Bild: watson

Auf den Deckel hatte Esther ein Bild einer zweiköpfigen Gestalt gemalt, ein Mann und eine Frau in einem Körper. In ihren Händen geheimnisvolle Messinstrumente haltend, standen sie auf einem feuerspeienden Drachen, der wiederum die Erde mit seinen Pranken umkrallt hielt. All das war in ein Oval gefasst und von Monden und Sternen erfüllt.

Esther Fässler konnte gut zeichnen, sehr gut sogar. Ein Talent, das sie für sich behielt, zumindest hatte Roger sie nie beim Ausüben desselben gesehen. Sie tat oft Dinge, in denen sie nicht besonders gut war – und es auch nicht wurde.

Er blätterte weiter. Und sah, wohin ihre ganze Begabung geflossen war: Jede einzelne Seite war bis zum äussersten Rand vollgekritzelt. Kleine Kunstwerke aus Symbolen und Zitaten, einzelne Wörter, die unter Skizzen von Menschen standen, für die Esther einmal die Karten gelegt hatte. Roger wurde in ein irres Gewirr aus Zeichen und Zeichnungen hineingesogen, es war jene mystische Welt, in der seine Mutter zuhause war und die er nie verstanden hatte. Er verstand sie auch jetzt nicht, aber er bekam ein Gefühl dafür, für all die gefühlten Zusammenhänge, mit der sie das Leben wahrnehmen musste. Alles hier war Ahnung, war Empfindung und Eingebung, träumerisch und assoziativ malte sie sich im Schatten des Denkens von Blatt zu Blatt. Bis zur Seite 22. Hier folgte plötzlich ein Kapitel, das sich mit Pflanzen beschäftigte, auf wissenschaftliche Weise. Das liessen jedenfalls die lateinischen Namen und die botanischen Illustrationen darin vermuten.

Mandragora officinarum las er, darunter war die Zeichnung eines unheilvollen Wurzelmännchens mit einem tiefgrünen Blätterfächer auf dem Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen und es schien so fürchterlich zu schreien, dass Roger sich unversehens die Ohren zuhielt.

Unter dem Namen Conium maculatum tauchte eine Pflanze auf, die nach etwas aussah, was auf einer gemeinen Wildwiese wächst. Weisse kleine Blüten, in Dolden angeordnet. Darunter hatte Esther einen Kelch gemalt und SOKRATES geschrieben.

Dann kam die Taxus baccata. Und die erkannte Roger sofort. Es war die Eibe. Das Bäumchen, das seine Mutter so rabiat ausgegraben und auf Josefs Grab gepflanzt hatte – für die Ewigkeit.

Aber Roger fand hier keine Ewigkeit, sondern den Satz: «Ich habe ihn satt.»

Plötzlich ergriff ihn die Angst. Und er rannte auf seinen wiedererwachten Füssen aus dem Haus. Sein Körper hatte etwas begriffen, er war den verschlungenen Pfaden seiner Mutter in eine tiefe Dunkelheit gefolgt, die sein Kopf noch nicht durchdrungen hatte. Er war nun ganz Instinkt. Und dergestalt hastete er ins Auto und fuhr los.

Die Nacht lag schwarz über dem Friedhof. Das grosse Tor war verschlossen, aber beim Nebeneingang hatte sich niemand die Mühe gemacht, nächtlichen Besuchern den Zutritt zu verwehren. Roger ging durchs lottrige Gatter, er war inzwischen wieder so weit gefasst, dass er nicht mehr zitterte. Allerdings wusste er noch immer nicht, was genau er hier eigentlich wollte.

Das Grab seines Vaters lag direkt hinter der Steinskulptur einer auf dem Sterbebett liegenden Frau und ihres trauernden Gatten.

Roger hatte sie bei jedem Friedhofsbesuch betrachtet, stets leicht verstohlen, als würde es ihm nicht zustehen, dem Paar bei diesem intimsten aller Momente beizuwohnen.

Das Moos hatte sich über ihr ganzes Gesicht gelegt, es war nicht zu sehen, wie sie dem Unumgänglichen begegnete. Roger sah nur ihn, den Mann, der neben ihr stand und ihre Hand hielt. Er war der Spiegel, in dem sich ihr Hinscheiden ausdrückte. Und darin war kein Klammern zu erkennen, nicht in seinen Augen und auch nicht in seiner Geste; die Hand wollte die Geliebte nicht zurückhalten, nur begleiten.

Doch jetzt, wo er die zwei in der Finsternis wieder traf, war er sich dessen nicht mehr so sicher.

Er leuchtete mit der Handy-Taschenlampe mitten ins Gesicht des Mannes, suchte nach Anzeichen des Unbehagens, fand sie aber nicht. Dann ging er zur Sterbenden über. Was, wenn unter all dem Moos der Schrecken des Todes lauerte? Was, wenn der Mann nicht nur ihr Geliebter war, sondern ebenso ihr Mörder, der mit Genugtuung dem Erlöschen seines Opfers zusah?

Roger fing an, die grünen Polster vom steinernen Frauengesicht zu kratzen. Doch bevor sich ihm irgendetwas offenbaren konnte, hielt er inne und starrte in die Nacht.

Hinter der Skulptur wiegten sich die Äste der Eibe schaurig im Wind. Wie eine zerzauste Vogelscheuche baute sie sich vor Josefs Grabstein auf. Ihre Äste schienen ihm seltsam verkrümmt. Und als er zum Baum hintrat und sie anfasste, fielen die Nadeln zu Boden.

Die Eibe war tot. Sein Vater war tot. Und die Ewigkeit war eine Lüge.

Als er ins Auto stieg, war auch Roger ein anderer. Die Angst war weg, das klamme Bangen, die dumpfen Befürchtungen, er hatte von allem genug, hatte sich daran gestählt, und war nun bereit für den Schlag der Wahrheit.

Leise öffnete er die Tür und trat ins Haus. Er lauschte – alles war still. Er schlich durch den Gang ins Wohnzimmer, zum Glastisch.

Doch das Buch der Erleuchtung war verschwunden.

Roger horchte noch einmal in den Raum.
Wieder nichts.
Dann setzte er sich aufs Makramee-Kissen und deckte seine Zukunft auf: der Narr. Das Tarot-Pendant zur Inspovation, dachte er. Der Archetyp des Suchenden, der sich mutig und offen ins Leben stürzt.

Roger packte die Karte ein und brach auf.

Aus der Krankenakte von E. Fässler

Projet Roger Krankenakte
Bild: watson

Patientenstammdaten

Name: Esther Fässler
Geschlecht: weiblich
Geburtsdatum: 13.06.1952
Wohnort: Rorschach (SG)
AHV-Nummer: 756.6641.5988.34
Aufnahmedatum: 06.09.2025

Aufnahmebefund

Einweisungsumstände: Meldet sich als Walk-In Patientin auf der zentralen Aufnahme und bittet um stationäre Aufnahme aufgrund eines wiederkehrenden Derealisationserlebens.

Aufnahmegespräch: Die Patientin gibt an, der Nebel sei seit dem Tag, an dem ihr Mann starb, wieder da. Die Welt erscheine ihr unecht und wie eine Kulisse, Zustand ist ihr bekannt, Selbsteinweisung aus denselben Gründen 1986 ins Psychiatrische Zentrum St. Kolumban (PZSK, damals noch Heil- und Pflegeanstalt Sankt Kolumban).

Anamnese

Substanzanamnese: Konsum von Cannabis, LSD, Psilocybin-Pilzen in ihren 20ern, aktuell ein Glas Wein pro Tag

Psychiatrische Anamnese: Erstmaliger stationärer Aufenthalt 1986 aufgrund einer Derealisationsstörung (gemäss ICD-10: F60.31). Die vom PZSK diagnostizierte, zugrunde liegende Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (gemäss ICD-10: F48.1) wurde aufgrund fehlender Krankheitseinsicht der Patientin nicht weiter behandelt, Entlassung erfolgte auf eigenen Wunsch und entgegen psychiatrischer Empfehlung ohne weiterführende Therapie.

Medikamentenanamnese: Während ihres Aufenthalts im PZSK Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva.

Psychiatrischer Befund bei Aufnahme: Patientin ist wach und orientiert, ist sich ihrer Wahrnehmungsverzerrung bewusst, beschreibt Derealisationserleben, wirkt erschöpft, aber nicht ängstlich, Gedächtnis und Kognition unauffällig, Fremd- oder Selbstgefährdung liegt nicht vor.

Somatischer Befund bei Aufnahme: keine Auffälligkeiten, Allgemeinzustand gut, EZ normal, keine Anzeichen für eine neurologische Erkrankung, Intoxikation, Infektion oder organische Auslöser der Derealisation.

Soziale Situation bei Aufnahme: Patientin wohnt seit dem Tod ihres Ehemannes allein im Haus und lebt von ihrer Witwenrente.

Angaben von Familienangehörigen: Sohn M. Fässler gibt an, sich ausser einer mehrwöchigen Abwesenheit seiner Mutter in der Kindheit an keine besonderen Vorkommnisse zu erinnern, sie habe trotz ihrer Esoterik eigentlich immer gut funktioniert, manchmal vielleicht etwas hysterisch, aber welche Frau sei das nicht, Kontaktaufnahme zu R. Fässler bisher erfolglos, Ehemann kürzlich an Herzversagen verstorben.

Eintrittsdiagnose (gemäss ICD-10):

  • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ F48.1
  • Isoliertes Derealisationssyndrom ohne Depersonalisationserleben F60.31

Eintrittsmedikation: Sertralin 25–50 mg

Procedere

  • Aufbau von Störungsverständnis und Therapiemotivation, Erarbeitung eines gemeinsamen Therapieauftrags
  • Exploration des Auslösers der Derealisation (Tod des Ehemanns? Vergl. mit früheren Auslösern, traumabezogene Dissoziation, Panikmechanismen)
  • Psychotherapeutische Einzelgespräche (Fokus: Realitätsprüfung, Ich-Stärkung)
  • Körper- und Wahrnehmungstherapie, achtsamkeitsbasierte Verfahren
  • Dialektisch-behaviorale Therapie bei BPS
  • Ev. medikamentöse Behandlung mit niedrig dosiertem Antidepressivum zur Stabilisierung angezeigt (SSRI)

Gesprächsprotokoll, Sitzung 1

Patientin: Esther Fässler
Geführt von: Dr. med. Z. Kaczmarek
Datum: 07.09.2025
Ort: Haus B, Station 2 für affektive und dissoziative Störungen, Raum 3

Ärztin: Können Sie mir beschreiben, wie sie sich gerade fühlen?
Patientin: Ich könnte, aber ich hab keine grosse Lust dazu.
Ärztin: Und wozu hätten sie Lust?
Patientin: Das ist das Problem. Ich weiss es nicht. Ich dachte, ich wüsste es, jetzt, nachdem Josef weg ist.
Ärztin: Wie meinen Sie das?
Patientin: Er war der unlebendigste Teil meines Lebens. Ich bin mir nicht sicher, ob er je echt war.
Ärztin: Sie meinen, weil er ihnen durch ihre Wahrnehmungsstörung als unwirklich erschienen war?
Patientin: Nein. Ich meine, dass er unwirklich war. Er sagte, was jeder hätte sagen können. Er tat, was jeder hätte tun können. Er war so dermassen inhaltsleer.
Ärztin: Sie meinen, sie fanden ihren Mann nicht besonders interessant?
Patientin: Nein, das meine ich nicht. Er war nicht nicht interessant. Er war gar nicht.
Ärztin: Aber sie wohnten doch fast über fünfzig Ehejahre hinweg mit ihm zusammen unter einem Dach?
Patientin: schweigt.
Ärztin: Woran ist Josef Fässler gestorben?
Patientin: Herzversagen.
Ärztin: Können Sie sich an den Tag erinnern, an dem es passiert ist?
Patientin: Nicht gut, es war der Tag, an dem der Nebel wiederkam.
Ärztin: Mit Nebel meinen sie die verzerrte Wahrnehmung, ihr Derealisationserleben?
Patientin: Ja.
Ärztin: Wie äusserte sich das?
Patientin: Josef sass in seinem Lounge Chair. Da sass er immer. Aber an diesem Tag war er noch farbloser als sonst.
Ärztin: Farblos?
Patientin: Ja. Wie aus einer Zeitung ausgeschnitten und auf den Sessel geklebt. Das ganze Wohnzimmer wirkte wie eine schlecht gemachte Collage. Und seine Stimme, sie kam auch von weit her. Sie sagte, dass ihm schwindelig sei. (Pause) Mein Risi Bisi bekam ihm nicht.
Ärztin: Sie haben vorher für ihn gekocht?
Patientin: Ich wollte, dass der Zeitungsmann verschwindet.
Ärztin: Mit Zeitungsmann meinen sie Josef Fässler?
Patientin: Ja.
Ärztin: Und verschwand er?
Patientin: Im Nebel. Im Rauch seiner Pfeife. Im Nichts.
Ärztin: Sie meinen damit, dass er starb?
Patientin: Stirbt etwas, was nie wirklich war? (Pause)
Sein Herz war aus Papier, zu schwach. Es hat mich nicht ertragen.
Ärztin: Wie meinen Sie das?
Patientin: Wie nennt man es, wenn ein Niemand verschwindet?
Ärztin: Verraten Sie es mir.
Patientin: Nicht Mord. (Pause) Wussten Sie, dass die Eibe der Baum der Ewigkeit ist?
Ärztin: Das wusste ich nicht.
Patientin: Es ist gut zu wissen.

Klinische Einschätzung

Verdacht auf ein Tötungsdelikt (mit Gift?), Patientin hat kein klares Geständnis abgegeben, ihren Ehemann ermordet zu haben, jedoch ein grundsätzliches Bedürfnis bezeugt, über das Geschehen reden zu wollen. Auslöser scheint ein komplexes Zusammenspiel von ehelichem Überdruss (er ist «dermassen inhaltsleer») und einem intensiven Derealisationserleben (er scheint unecht, «Zeitungsmann») zum Zeitpunkt der mutmasslichen Tat gewesen zu sein, das es weiter zu untersuchen gilt. Auch wird im Falle eines eindeutigen Geständnisses die Schuldfähigkeit der Patientin zu überprüfen sein: E. Fässler war gemäss der Diagnose F48.1 nicht wahnhaft, sondern lediglich wahrnehmungsgestört, sie war sich also bewusst, dass Josef Fässler echt war, auch wenn sie es aufgrund seiner angeblichen charakterlichen Formatlosigkeit und ihrer Derealisationsstörung nicht so empfand.

Zum aktuellen Zeitpunkt besteht weder akute Fremd- noch Selbstgefährdung. Weiteres Vorgehen in Prüfung.

Patientin zur weiteren Abklärung auf die Forensisch-psychiatrische Station überwiesen.

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