Géraldine Fuchs war ein einnehmendes Wesen. Eine verspielte Erscheinung in einem abgewetzten Mantel, dessen Material im Büro schon etliche Male für Diskussionen gesorgt hatte. Die meisten stimmten für Krokodilleder, aber das war mehr Wunsch- beziehungsweise Hassdenken, das wünschte man ihr an den Hals, manche aus Neid, andere aus Enttäuschung. Wer Menschen so quälte, machte auch vor Tieren nicht Halt, das war die Gleichung, in die man Géraldine Fuchs hier setzte. Eine kleine Verzweiflungstat, denn im Grunde blieb sie für alle unlösbar, eine unbekannte, unberechenbare Grösse.
Ein X, mit viel Gold verziert. Es hing überall; an ihren Ohren, an ihrem Hals, an ihren Handgelenken und Fingern. Es war der Schmuck ihrer Vorfahrinnen, der bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreichte. Géraldine gefiel der Gedanke, das gesammelte Geschmeide ihrer toten Urgrossmütter in die Gegenwart zu tragen. Manches davon war sehr kostbar, anderes war nicht mehr als hübscher Tand, aber für sie machte das keinen Unterschied.
Wenn sie das Büro betrat, klimperten ihre Armreifen im Takt ihrer grossen Schritte. Überhaupt war bis auf die Füsse alles an ihr gross. Vielleicht war sie darum so grosszügig. Wenn man von allem genug hat, muss man nicht fürchten, dass einem etwas weggenommen wird. Géraldine war in dieser Hinsicht nicht nur furchtlos, sie war geradezu verschwenderisch. Lobte eine Kollegin ihren Pulli, lag er am nächsten Tag auf deren Tisch. Sie verschenkte nicht nur gern ihre Sachen, sondern auch sich selbst. Sie befand sich seit ihrer Geschlechtsreife quasi ununterbrochen in sexueller Spendierlaune. So jedenfalls sah es von aussen aus.
Jene Unbekümmertheit, diese schamlose Leichtigkeit, mit der sie durchs Leben zu spazieren schien, war ihrer Beliebtheit nicht gerade zuträglich. Das Leben hatte harzig zu sein, man musste ab und zu kleben bleiben oder zumindest in einen Hundehaufen treten, doch Géraldine Fuchs schwebte offenbar ein paar Zentimeter über dem Boden, über dem ganzen Dreck, der sich über die Jahre sonst so an den Schuhsohlen einer menschlichen Existenz ansammelt.
Die wenigsten verstanden, dass sie allem und jedem gleich wenig Gewicht beimass, damit ihr nichts zu schwer wurde. Nur einmal war die Waage ins Ungleichgewicht geraten, das wollte sie nicht mehr. Was sie hingegen immer einmal wollte, war, auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten. Doch bis jetzt hatte sie nur festen Boden unter sich gehabt und vor einer Woche dann auch Roger.
Er hatte ihr leid getan, wie er nach dem übereifrigen Konsum ihrer Zauberpilze unter der Plastikpalme sass und weinte. Wie die Tränen in zwei gewaltigen Sturzbächen seine Herzlisonnenbrille mitrissen, um sie dann achtlos irgendwo in seinem Gesicht liegenzulassen. Wie ihn die Anwesenden auslachten, als er nicht mehr als ein pochendes Herz war, das von seinem Schmerz erzählte.
Aber es war nicht nur das. Sie kannte diese masslose Selbsthingabe, den Wunsch, sich vollständig auszuradieren, aber nicht, um wie Roger in jemand anderem aufzugehen. Géraldine wollte dann ganz verschwinden. Und das auch ganz ohne Drogen.
Als sie gesehen hatte, wie er sich in einer Art Opferrausch seiner Kleider zu entledigen begann, zerriss sie kurzerhand ihr Fischflossen-Kostüm, in dem ihre Beine gefangen gewesen waren. Dann eilte sie zu ihm und führte ihn an der Hand vorbei an all den Stefans, die sie den ganzen Abend lang umringt hatten wie ein Rudel Schakale. Ungläubig starrten sie den beiden hinterher. Marco vom Sales spuckte wütend auf den Boden.
«Wohin bringst du mich, Krabbentier?», fragte Roger sie.
«In Sicherheit», antwortete sie ihm.
«Sicherheit brauch ich nicht mehr. Du hast mir schon alles genommen.»
«Habe ich?»
«Ja. Meinen Job, mein Herz, meine Knochen.»
«Das tut mir leid.»
«Muss es nicht. Es fühlt sich nicht nur schlecht an. Endlich bin ich meine Beckenschaufeln los.»
Géra lachte.
«Willst du meine Möwenimitation hören?»
«Ich will», sagte Géra und Roger machte die Möwe, wie er sie noch nie zuvor gemacht hatte. Seine Schreie klangen nach verzehrender Sehnsucht, wie die einer Möwe, der man das Meer weggenommen hatte. Elegisch und echt. Als Möwe, so schien es, gelang es Roger erst, seine ganze Wahrheit auszudrücken. So sehr, dass Géra weinte.
Doch als sie ihn küsste, wurde er ganz schnell wieder zu Roger. Als solcher erwiderte er ein wenig zu stürmisch ihre zarte Zuwendung. Seine Zunge, zur Spinne geworden, spulte Speichelfäden um die ihre, als wäre sie eine ins Netz gegangene Fliege, die es sofort gefangenzusetzen galt.
Der Möwen-Move hatte ihr zwar besser gefallen, aber Géra verstand. Wie soll man der unverhofften Verwirklichung eines Traumes auch anders begegnen als mit Angst, er könnte sich sogleich wieder in Luft auflösen?
Gemeinsam fuhren sie im Taxi durch die Nacht. Sie bemerkte, wie Rogers Finger ihre Hand suchten, doch plötzlich gaben sie auf und krochen beschämt zurück.
«Du bist kein Krabbentier», sagte er dann. «Du bist Géraldine. Die Frau aus Glas. Jeder denkt, er dürfe dich füllen mit irgendwas. So viel Mist haben wir in dich reingedrückt, du wirst noch einmal zerspringen davon.»
Die Drogen. Manche werden sehr philosophisch. Andere reden einwandfreien Quatsch. Géra war sich nicht ganz sicher, zu welcher Gruppe sie Roger zählen sollte, wusste aber, wo er sich selbst gerade sah.
Das Taxi hielt vor Rogers Haus. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ausstieg, lähmte ihn dann aber so sehr, dass er wie festgefroren durch die beiden offenen Wagentüren starrte, dorthin, wo sie nun stand, noch immer barfuss unter ihrem zerfetzten Meerjungfrauenschwanz. Der Taxifahrer gähnte, Géra schloss die Tür, Roger irgendwann auch.
Zaghaft. Allzu zaghaft. Wahrscheinlich, damit Glasgéra nicht auseinanderbricht.
Dabei hätte sie das sowieso nicht getan. Die Scherben stammten von seiner Herzlisonnenbrille, die er sich, in der Wohnung angekommen, von den Augen riss, endlich bereit, Géras Anwesenheit als reale Begebenheit anzuerkennen, und sie sich furchtlos einzuverleiben. Er schmiss die Brille zu Boden, zermalmte sie unter seinen taumelnden Schritten, ein Scherbentanz, in dessen Genuss auch Géra kam, die er für die nächsten Stunden nicht mehr loszulassen gedachte.
Als die Scherbe in ihr Fleisch drang, kam ein leises Stöhnen aus ihrem Mund, das in Rogers Ohr nach reinstem Lustschrei klang. Von nun an gab es kein Halten mehr.
Er schwankte zum Kleiderschrank und fing an, wild darin rumzuwühlen. Gera setzte sich derweil aufs Bett, entfernte die Scherbe aus ihrem Fuss und schaute ihm gespannt zu.
«Da!», schrie er fast, in der Hand seinen Tarnanzug vom Militär.
Sie lachte.
Er zog ihn an. Elegant war es nicht, wie er in die Hose stieg, aber das war Géra egal, sie fand es schön, wie er ihrer Vorliebe, wie auch immer er sie in Erfahrung gebracht hatte, gerecht zu werden versuchte. Beim Griff zum Gewehr winkte sie ab.
Er konnte auch so den Helden spielen. Sie retten vor den Bomben. Aufs Bett schmeissen und küssen.
Sie stieg auf ihn. Zog ihm die Hose wieder aus, das Kondom an und setzte sich drauf. Roger war bequem, dachte sie noch, dann war's vorbei.
Und auch das störte sie nicht. Sie hatte von ihm nicht den Sex ihres Lebens erwartet. Sie erwartete generell nicht allzu viel von den Menschen. Ein bisschen wie eine Untote, die bereits zwei bis drei Jahrhunderte auf der Erde zugebracht hatte. Die Verwunderung war aufgebraucht. Die meiste Zeit schaute sie einfach zu, manchmal, so wie heute, griff sie bei Ungerechtigkeiten noch korrigierend ein, aber mehr so automatisch, weil sie das immer so getan hatte, nicht, weil sie glaubte, dass es wirklich einen Unterschied machte.
Roger wusste von alledem nichts. Er hielt seine Géra fest und schlief erschöpft ein. Und als der Tag sich grell am Fenster zeigte, schlüpfte sie aus seinen Armen und fuhr nach Hause.
Anna! Unglaublich! Ich bin verliebt in deinen Sprachwitz!
@ Anna
Sehr schöner Text heute, Gratulation!🌸