Es war keine Karibik-Kreuzfahrt, auf die er Géra einlud, dafür aber aufs Tanzschiff – ab Romanshorn. Mit DJ Many an Bord, der Mann für die Bombenstimmung.
Das schien Géra zu überzeugen. Überhaupt reizte sie das ganze Setting, da hatte Roger schon ganz richtig gelegen. Eine gewisse Verwandtschaft zum Kreuzfahrt-Feeling war nicht von der Hand zu weisen, ganz egal, wie gross nun das Schiff oder das Gewässer war, auf dem man zu tanzen gedachte.
Am Bug des Schiffes stehend, schaute man am Ende auf dieselbe Sonne, die im selben Himmel zuhause war. Und an diesem Abend war ihr Untergang hier vielleicht sogar der spektakulärste überhaupt. Das kann man natürlich nicht verallgemeinern, manche mögen dieses eingängige Orange mehr, aber Roger, der kein Mass kannte, fand es natürlich gut, wenn übertrieben wurde, auch am Himmel. Und so schaute er hinauf in diesen Zuckerwatten-Putz, wo die Abermillionen schwangeren Wolkenbäuche bei jedem Windstoss eine neue Farbe gebaren, eine neue Nuance einfügten in dieses gewaltige purpurne Dachmosaik. Und als wär das nicht schon genug, wiederholte sich die Show auf dem See, dort hopste das Licht wie ein glitzernder Schieferstein über die zarten Wellen hinweg, immer nur den obersten Punkt des Wassers streifend, als fürchte er sich vor den dunklen Ecken darunter.
Zufrieden nickte Roger dem Universum zu, das einzig für ihn performte, ihm die adäquate Kulisse lieferte für sein Drama, zu dem sein Leben in den letzten Tagen geworden war. Für einmal strafte es ihn nicht mit roten Ampeln, sondern feierte ihn mit Farben, die das Repertoire jeglicher Verkehrssignale um ein Vielfaches überstiegen.
Fast wären die beiden aus Versehen auf dem Line-Dance-Schiff gelandet, das nebenan angelegt hatte. Doch als Roger die Cowboystiefel sah, die da einer nach dem anderen vor ihm ins Schiffsinnere stapften, blieb er erschrocken stehen. Hatte er beim Ticketkauf überlesen, dass es einen Dresscode gab? Géra lachte bloss, sie hätte auch einen Abend lang auf einer Linie getanzt.
«Wie kann man nur so offen sein für alles!», dachte sich Roger voller Bewunderung, als er sie an der Hand den Steg hinauf zurückführte, zum richtigen Schiff.
Danach hatten sie gut gegessen und sich noch besser unterhalten. Roger hatte ihr von seiner Jugend erzählt, von seinem Bruder, der Maschinenbau studiert hatte, dem klugen ETH-Bruder, der irgendwann die Welt mit Geothermie retten würde, während Roger das nicht tat. Und Géra verstand. «Wenn man sich selbst durchs Leben bringt, ist das auch schon was», sagte sie mit dieser ewig belegten Stimme, die für ihn Prophezeiung und Porno in einem war, sowas wie der verhängnisvolle weibliche Widerspruch, dem man spätestens seit der Bibel mit zwei Figuren begegnete, um wieder klare Verhältnisse zu schaffen.
Nur war Roger kein Mann der Bibel, also konnten ihn weder Eva noch Maria aus seiner Misere retten, er war heillos verliebt in dieses Wesen, das er für Géraldine Fuchs hielt. Er hatte ihr bereits so viel von sich gezeigt, und sie war noch immer da. Und mit jedem Wort, das sie an ihn richtete, schien sie auf magische Weise seine Seelenwunden zu verschliessen. Mit ihr fühlte er sich ganz.
DJ Many legte DJ Bobo auf, der nun zu Roger und Géra nach draussen auf den Bug drang. Das Schiff glitt mühelos durch den gleissenden Wasserteppich. «Somebody Dance With Me», sangen sie vergnügt, und Roger wickelte Géra in seine Arme, aber sie wickelte sich zu seinem Erstaunen sofort wieder daraus heraus. Er versuchte es noch einmal, so, als wäre es ein Irrtum gewesen, als hätte sie sich bloss in der Richtung vertan, doch auch beim zweiten Mal wollte sie nicht bei ihm bleiben. Sie hielt sich stattdessen an der Reling fest und schaute auf den See.
Roger stand hinter ihr, verwirrt und verzweifelt, und kämpfte gegen den Drang, sie festzuhalten. Er wollte nicht, dass sie wieder verschwindet. Dass sie ins Wasser springt und davonschwimmt. Sie war doch jetzt seine Meerjungfrau, sie hatte doch ihre Schwanzflosse zerrissen, um ihn zu retten. Sie musste doch bleiben.
Er fand keine Worte, bloss einen Möwenschrei, den er übers Wasser schickte.
«Die Möwe hat mir besser gefallen, als sie das Meer noch vermisst hat», sagte Géra. «Jetzt denkt sie, es gehöre ihr.»
Noch ein letztes Mal wurde Roger ganz Möwe, er schloss die Augen und reihte einen Schrei an den anderen, dehnte sie lang, holte Luft und begann von vorn. Doch den alten Sehnsuchtsgrad, jenen von der Drogennacht mit Géra, würde er nie mehr erreichen. Was er hier tat, war der Versuch einer Nachahmung der Nachahmung, und er war jämmerlich.
Als er die Augen öffnete, war sie weg. Eine Weile noch starrte er in die Wellen, dann ging er an die Bar und bestellte einen Single Malt. Mit einem Zug leerte er ihn, dann starrte er ins Glas.
Vielleicht hatte er recht damit gehabt, dass sie Glasgéra war. Roger und auch alle anderen im Büro füllten sie mit ihren Sehnsüchten, ihren Wünschen, ihrem Neid. Und dann sahen sie all das durchs Glas hindurch und erkannten es doch nicht als ihr eigenes.
Roger bestellte noch einen. Was war passiert? Warum hatte sie mit ihm geschlafen, Marco vom Sales von seiner Meisterleistung erzählt, wenn sie ihn jetzt wegstiess? Ihr Verhalten erschien ihm so lange verworren, bis der neue Whisky für Aufklärung sorgte: Die Frau brauchte Action. Géra wollte spielen.
Er stand auf und näherte sich der Tanzfläche, wo er sie plötzlich erblickte. Tanzend mit einem alten Mann. Einem alten Lüstling! Und dann auch noch zu ABBA. Widerlich. «Aber gut», dachte er sich. «Sie will mich eifersüchtig machen. Sie will, dass ich um sie kämpfe. Girl, I'm ready to rumble!»
Roger ging hin zu dem Pärchen und erst als er ganz nah bei ihm stand, merkte er, dass auch die Frau viel älter war. Ihre Bewegungen hatten ihn getäuscht, sie wirkte so schwungvoll und frisch, wie sie da über die Tanzfläche schwebte, so wie Géra jeweils über das Büroparkett.
Aber sie war es nicht. Und so ging Roger zurück an die Bar und bestellte sich einen dritten Single Malt. Dieses Mal gleich einen doppelten.
Sie konnte doch nicht wirklich gesprungen sein?
Als er sein viertes Glas bekam, legte das Schiff in Romanshorn an und er ging von Bord. Géra hatte er nirgendwo gesehen, er wollte sie auch gar nicht mehr sehen. Er stieg ins Taxi und fuhr nach Hause.
Nach einer traumlosen, dunklen Nacht betrat Roger am nächsten Morgen den Haupteingang zu seinem Büro und da war sie. Sie lächelte leicht verschlafen wie immer, in der Hand ihre Diddl-Tasse.
Seit fünf Jahren sass sie in jenem Kabäuschen, warum nur war sie ihm nie aufgefallen?
«Rita vom HR. Die ist schon auch noch geil. Und wie die mich immer ansmilet. Moment!», dachte er sich. «War sie nicht die Allererste, die mein neues Profilbild auf LinkedIn geliket hat? Sofort nachdem ich es reingestellt hatte, tauchte ihr blauer Daumen darunter auf. Gott, Rita. Lovely Rita. When are you free to take some tea with me?»
Nun gut, für Roger mache ich eine Ausnahme!