Acht Köpfe von jungen geschminkten Frauen schauen im Hallenbad auf dem Campus Sursee zum Wasser hinaus. Zackig und mit viel Energie strecken sie gleichzeitig ihre Arme. Sie springen nach oben und man sieht das farbige Badekleid. Innert kürzester Zeit tauchen sie ab und schon schauen 16 Beine zum Wasser heraus.
Anders als die Mädchen trägt einer eine Badehose und kein Make-up. Francesco Cosentino ist der erste männliche Athlet in einem Schweizer Nationalkader im Artistic Swimming. «Mir gefällt es, sich so im Wasser zu bewegen, wie es an Land nicht möglich ist», beschreibt der 17-Jährige seine Leidenschaft.
Tanzende Frauen im Wasser, mit Glitzer-Badekleidern und Make-up: So stellen sich die meisten Menschen Artistic Swimming, das früher Synchronschwimmen hiess, vor. Ein Mann ist dabei nur selten zusehen. Erst 2015 führte der internationale Schwimmverband die Kategorie «Mixed-Duett» ein, in welcher eine Frau mit einem Mann zusammen schwimmt. Seither sind männliche Athleten im Sport zu sehen.
Dennoch: Die Frauen sind deutlich in der Überzahl. Der Verband, Swiss Aquatics Artistic Swimming, vergleicht die Situation mit dem Fussball: «Lange war Fussball eine reine Männer-Sportart. Dort gab es auch einen Wandel», sagt Vanessa Nadège Ducoloné, Sportdirektorin. Beim Artistic Swimming ist die Entwicklung zwar lange noch nicht so weit wie beim Fussball. Dennoch weiter als beispielsweise Rhythmische Sportgymnastik, die schon immer eine reine Frauendisziplin ist und weiterhin bleibt.
Heute können die männlichen Athleten nebst dem «Mixed-Duett» ebenfalls in den Team-Disziplinen (in einer Gruppe von acht Personen) sowohl auch in der Solo-Kategorie, also allein, antreten. An den Olympischen Spielen 2024 in Paris wäre es in der Team-Kategorie erstmals möglich gewesen, dass Männer in der Sportart teilnehmen. Jedoch hat keine Nation einen männlichen Athleten nominiert.
Ein Grund dafür ist, dass die Verbände sich für lange Zeit auf das «Mixed-Duett» fokussiert haben. Erst 2022 wurde bekannt, dass es die «Mixed-Team-Kategorie» an Olympia geben wird. «In zwei Jahren das Konzept zu ändern, ist natürlich herausfordernd», sagt Michelle Nydegger, Chefin Leistungssport und Nachwuchs. «Und am Ende sind es die Olympischen Spiele. Da steckt so viel Planung dahinter. Noch einen kurzfristigen Wechsel zu machen, ist sehr anspruchsvoll.»
Eine andere Meinung hat Susanne De Angelis. Die Italienerin ist die Trainerin von Cosentino beim Schwimmverein beider Basel. «Die Nationen hätten in Paris die Möglichkeit gehabt, Geschichte zu schreiben. Sie haben sich aber dafür entschieden, dem Üblichen zu folgen und nur Frauen zu nominieren. Es hätte sicher viel mediale Aufmerksamkeit erhalten, wenn erstmals ein Mann teilgenommen hätte. Diese Chance ging damit verloren.»
Doch kommen wir zurück zu Francesco Cosentino. Vor zwei Jahren entschied sich der gebürtige Italiener, in die Schweiz zu kommen. «Am Anfang war es schon komisch», meint Cosentino. «Aber man gewöhnte sich daran und die Mädchen haben mich aufgenommen.» In seiner Heimat war er nicht der einzige männliche Athlet – es war also normal, dass ein Junge ins Hallenbad kommt.
Grund, weshalb Cosentino in die Schweiz gekommen ist, ist seine Trainerin. «Seine Energie fiel mir gleich zu Beginn auf», sagt De Angelis. Die ersten technischen Fähigkeiten hat er beim Klub in Bologna erlernt. «Seine Stärke ist die Höhe», sagt die 59-Jährige. Heisst, wenn die Beine aus dem Wasser schauen, kommt er sehr hoch aus dem Wasser hinaus.
Woran er noch arbeiten muss, sei der artistische Ausdruck. «Ich bin noch zu wenig präsent im Wasser und muss lernen, meine Emotionen noch mehr zu zeigen», meint Cosentino. «Es gibt nicht eine Übung, um das zu verbessern. Das kommt mit Erfahrung», sagt Cosentino. Das bestätigt auch Trainerin De Angelis: «Ich arbeite mit ihm daran, dass er sich selbst ausdrücken kann und seinen Körper fühlt. Er muss aber noch eine Art von Kreativität finden». Gerade als Solist, wenn er allein im Wasser ist, ist es wichtig, die eigene Art zu schwimmen zu finden.
Wie viele andere Sportlerinnen und Sportler träumt Cosentino von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen. Doch auch für die Schweiz? «Ich hoffe, dass ich die Schweiz an Olympia vertreten darf», sagt er.
Was dem jungen Talent auf dem Weg dahin noch fehlt, ist der Schweizer Pass. Doch auch ohne kann Cosentino an internationalen Wettkämpfen für die Schweiz an den Start gehen. An einem Grossanlass (EM, WM und Olympia) zu schwimmen, ist aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. «Es ist besser als nichts. Ich habe die Möglichkeit, mich international zu präsentieren. In Italien gaben sie mir die Chance nicht», sagt er. «Natürlich ist es mein Ziel, den Schweizer Pass zu bekommen.» Wie lange dieser Prozess geht, ist unklar.
An der Schweizer Meisterschaft war Cosentino noch Vorschwimmer in der «Female Solo»-Kategorie. Heisst, er wird von den Richterinnen bewertet wie die anderen auch, ist aber nicht in der Rangliste aufgeführt. Grund dafür ist, dass ausländische Athleten erst nach zwei Jahren in der Schweiz an nationalen Wettkämpfen in der Solo-Kategorie teilnehmen dürfen.
Das störte ihn aber nicht. «Ich bin der einzige männliche Schwimmer am Start. Wenn ich dann als Vorschwimmer starte, achte ich auf meine Punkte und nicht auf den Rang, welchen ich hätte haben können. Um gegen andere männliche Schwimmer zu starten, gehe ich jeweils nach Italien an die Wettkämpfe.»
Ganz alleine ist Cosentino in der Schweiz nicht. «Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt um die zehn männlichen Athleten schweizweit», sagt Vanessa Nadège Ducoloné, Sportdirektorin. Nicht alle seien aber lizenziert. Insgesamt wurden in der Saison 2023/24 910 Lizenzen ausgestellt. Die Repräsentation im Nationalkader fehlte aber bisher. «Ich denke, für alle ist es eine bereichernde Erfahrung», sagt Michelle Nydegger, Chefin Leistungssport und Nachwuchs. «Für die Athletinnen ist es spannend, wenn plötzlich ein Mann dabei ist.»
Auch der Verband wurde vor neue Herausforderungen gestellt. «Neben den Badekleidern mussten wir plötzlich eine Badehose bestellen», sagt sie lachend. «Er trägt dazu bei, dass es in der Schweiz sichtbar ist, dass auch Männer den Sport ausüben», sagt Nydegger. Das sei nicht zu unterschätzen.
Oftmals wird Artistic Swimming als Frauensportart bezeichnet und die Bewegungen im Wasser als feminin beschrieben. Das spürte auch Susanne De Angelis. Ihr Sohn hat in Italien geschwommen. Und das ist kein anderer als Giorgio Minisini – Weltmeister und Europameister im Artistic Swimming – eine Legende auch für Schwimmerinnen. Viele Menschen im Umfeld von De Angelis empfanden es als komisch, dass ihr Sohn einen Sport ausübt, welcher sonst nur Frauen machen. «Wenn ein Junge mit Artistic Swimming beginnen möchte, sind es vielfach die Eltern, welche sagen, nein, das ist keine Sportart für Jungs».
Gerade dort möchte De Angelis Veränderung schaffen und den Menschen zeigen, wie vielfältig der Sport ist und dass eben auch eine «männliche Seite» gibt. «Gerade, wenn man die Küren von Giorgio oder auch von Francesco sieht, da gibt es nichts Feminines». Diese Meinung unterstütze auch Nydegger: «Sie schwimmen auf ihre eigene Weise und schauen nicht den Frauen ab.»
Wie in vielen anderen Randsportarten auch fehlt es an medialer Präsenz. «In anderen Ländern sieht man die Sportart auch im Fernsehen. Hier passiert eigentlich nichts», sagt Cosentino. Inspiriert wurde er damals von Girorgio Minisini. Vor dem Fernseh sitzend, schaute er seinem heutigen Idol zu wie er an den Weltmeisterschaften schwamm. «Ich bin auch nicht eines Tages aufgestanden und habe gesagt: ‹Jetzt mache ich Artistic Swimming›», sagt er lachend.
«Ich hoffe, dass es irgendeinmal ein Team geben wird, mit vier Männern und vier Frauen», sagt Cosentino. «Bevor wir an solche Sachen denken, müssen wir der Allgemeinheit zeigen, dass Artistic Swimming nicht nur eine Sportart für Frauen ist.» Die Entwicklung im Sport geht also weiter. Vielleicht wird 2028 in Los Angeles Geschichte geschrieben, mit dem ersten Mann an Olympischen Spielen in Artistic Swimming. (riz/aargauerzeitung.ch)