Der Spengler Cup wurde abgesagt, nachdem sich fast die ganze Equipe von Gastgeber Davos mit der Virusvariante Omikron angesteckt hatte. Zuvor war Ambri-Piotta vom Tessiner Kantonsarzt in Quarantäne versetzt worden. In Deutschland wird teilweise wieder vor leeren Rängen Fussball gespielt.
Angesichts des beschleunigten Infektionsgeschehens in weiten Teilen der Welt werden wieder jene Stimmen laut, die schon im Sommer vor den Olympischen Spielen in Tokio Bedenken geäussert hatten. Sie fordern eine Absage oder zumindest eine Verschiebung der Winterspiele in Peking, die am 4. Februar beginnen sollen. Beides wird nicht eintreffen. Zu kurz ist die Vorlaufzeit und zu gross der drohende Kollateralschaden.
Weder Athletinnen, Sportverbände, Sponsoren, die TV-Anstalten, noch das Internationale Olympische Komitee IOC, geschweige denn das chinesische Regime haben ein echtes Interesse an einer Verschiebung oder Absage.
Für viele Sportler sind Olympische Spiele der Fixpunkt, wenn nicht der Höhepunkt ihrer Karriere. Sie arbeiten während Jahren auf dieses Ziel hin. Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass der Reiz des Anlasses verloren geht, weil sie erst kurz vor ihren Wettkämpfen anreisen dürfen, spätestens 48 Stunden danach das Land wieder verlassen müssen und Begegnungen mit Athleten aus anderen Ländern und Sportarten stark eingeschränkt sein werden. Der gesamte Olympia-Tross bewegt sich in einer Blase und wird regelmässig getestet. Das ist der Preis, den sie für ihren Traum bezahlen.
Finanziell massiv abhängig vom Anlass sind die Sportverbände und das IOC. Dieses generiert praktisch seine gesamten Einnahmen aus dem Verkauf der TV- und Sponsoringrechte. In der letzten Olympiade, die die Winterspiele 2014 in Sotschi und die Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro umfasste, löste es 5,16 Milliarden Dollar. 90 Prozent dieses Geldes fliesst an Organisatoren und Teilnehmer. Viele der 7 dem IOC angeschlossenen Wintersportverbände leben von Geldern, die das IOC an sie ausschüttet.
Davon ausgenommen ist nur der Internationale Eishockeyverband IIHF, für den Winterspiele kein Geschäft sind. Dass in Peking keine Spieler aus der NHL teilnehmen, ist zwar lamentabel, aber auch kein Novum.
Die weiteren internationalen Sportverbände – Biathlon, Bob und Skeleton, Curling, Eislauf und Rennrodeln – sind nicht nur zu klein, sondern auch zu bedeutungslos und zu abhängig von Winterspielen, um aufzubegehren.
Der grösste Wintersportverband ist die Fédération Internationale de Ski FIS, der internationale Ski-Verband. Unter dessen Dach vereinigen sich Ski (Freestyle, Alpin), Ski Nordisch (Langlauf, Skispringen, Kombination) und Snowboarden. 55 der 109 in Peking vergebenen Medaillensätze werden in von der FIS organisierten Sportarten vergeben.
Doch auch für die FIS sind die Einnahmen aus Olympischen Spielen existenziell wichtig. 44 Millionen Dollar wurden nach den letzten Winterspielen 2018 in Pyeongchang an die FIS ausgeschüttet. Geld, das über vier Jahre verteilt quartalsweise als Einnahmen verbucht wird und einen Drittel der Einkünfte ausmacht. Heisst: In Jahren ohne Olympische Spiele operiert die FIS defizitär.
Der internationale Ski-Verband und der im Sommer zum Präsidenten gewählte schwedisch-britische Unternehmer Johan Eliasch sehen in China einen Expansionsmarkt, wo lieber schon heute als morgen Weltcuprennen stattfinden sollen und auch der Tourismus massiv in die Infrastruktur investiert hat. Auch die Skiindustrie sieht in Asien mit seinen 4,5 Milliarden potenziellen Kunden, wovon mehr als ein Viertel auf China entfällt, den Schlüssel aus der Krise. Auch in der Schweiz, einem der wichtigsten Märkte, schrumpft der Skiabsatz: Mitte der Achtzigerjahre wurden eine halbe Million Paare pro Jahr verkauft, heute sind es nicht einmal 200'000.
Als Peking 2015 den Zuschlag erhielt, gab die Regierung das Versprechen ab, in China gebe es dereinst 120 Millionen Skifahrerinnen und Skifahrer, zwischenzeitlich fabulierte man gar von 300 Millionen. Doch bisher finden in Asien pro Jahr gerade einmal 300'000 Paar Ski einen Käufer.
Grösstes Interesse an der Durchführung hat auch China. Knapp zwei Jahre, nachdem die Coronapandemie mutmasslich in Wuhan ausgebrochen ist, will man der Weltgemeinschaft beweisen, dass man als einzige Nation zurück zur Normalität gefunden hat.
Dass der Virologe Christian Drosten jüngst verlauten liess, dass China im Zusammenhang mit Omikron sein grösstes Sorgenkind sei, weil der dort verwendete Impfstoff eine schlechte Wirksamkeit gegen diese Variante habe, interessiert das Regime nicht. Die Wettkämpfe finden statt, auch wenn man sich damit die Seuche holt.
Theoretisch kann nicht die chinesische Regierung, sondern nur das IOC die Spiele absagen. Gemäss dem sogenannten Host-City-Vertrag, der die Rahmenbedingungen regelt, hat nur das IOC, nicht aber der Gastgeber das Recht, die Spiele zu annullieren. Tut er das dennoch, hat das erhebliche Schadenersatzforderungen zur Folge. Sollte Chinas Regierung zum Schluss kommen, dass die Risiken überwiegen, wird sich das IOC nicht gegen die Annullierung sträuben können. Aber eben: In Chinas Wahrnehmung ist die Pandemie zumindest für das Reich der Mitte längst überwunden.
China verfolgt eine konsequente No-Covid-Strategie. Ins Land gelangt nur, wer geimpft ist. Positiv getestete Sportlerinnen, Trainer, Funktionäre und Journalisten werden isoliert. OK-Vizepräsidentin Han Zirong gestand ein, man stehe vor einer «gewaltigen Herausforderung». Dass es während der Olympischen Spiele zu Ansteckungen komme, sei höchstwahrscheinlich.
Das ist der Preis, den China bereit ist, zu zahlen, um im Schaufenster der Weltöffentlichkeit ein Pfauenrad schlagen zu können. Die Olympischen Spielen verkommen zur Bühne für Propagandisten, für Autokraten und die nationalistische Selbstdarstellung Chinas. Auch diplomatische Boykotte, das offenbart ein Blick in die Vergangenheit, ändern daran nichts.
Ein Horrorszenario existiert: Was, wenn sich im Januar der halbe Tross im Ski- oder im Langlauf-Weltcup ansteckt? Die Variante Omikron ist zwar leichter übertragbar, dennoch ist davon auszugehen, dass dieser Fall nicht eintrifft. Die Sportler verfolgen bereits im Alltag ein strenges Protokoll und werden vor den Wettkämpfen keine Risiken eingehen. Zwar ist die Lage fragiler als im Vorfeld der Sommerspiele in Tokio, doch auch dort gab es nur ganz wenige Infektionen, die Sportler von einer Teilnahme abhielten.
Und so gilt, was schon im Sommer in Tokio galt: eine Verschiebung oder eine Absage würde dem internationalen Sport mehr schaden, als dass er ihm dienen würde, weil er ihm das Fundament entziehen würde.
Das sind Argumente, die in der Debatte über Sinn und Unsinn der Spiele selten auf Gehör stossen. Man wäre gut beraten, zu benennen, um was es in Peking – wie schon in Tokio – aus globaler Sicht geht: Schadensbegrenzung. In China wird man sich diese Geschichte indes ganz anders erzählen. Sie wird mit viel Pathos ausgeschmückt sein und von Überlegenheit handeln.
Simon Probst
Boykott. Punkt.
Bob65