In einer idealen Welt würde die Nati in diesen Tagen einen so goldenen Spätsommer erleben wie wir alle dank hohen Temperaturen und Sonne à discrétion. Eine Feier rund um Granit Xhaka, der am Sonntag Schweizer Rekordnationalspieler wird. Und die vorzeitige Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland.
Doch die Realität der Schweizer Fussballer sieht anders aus. Probleme an allen Ecken und Enden. Seit dem 1:6 im WM-Achtelfinal gegen Portugal im letzten Dezember ist das so. Nicht alles ist selbst verschuldet. Das Los, das die Nati in eine EM-Qualifikationsgruppe mit Weissrussland, Israel und dem Kosovo beförderte? Zufall. Dass die Nati nach Serbien reisen musste, um dort gegen Weissrussland anzutreten? Alleine das Versagen der UEFA.
Dass in Israel der Krieg ausgebrochen ist, die für gestern geplante Partie Israel – Schweiz nicht stattfinden konnte und einen stressigen November mit drei Spielen innert sieben Tagen nach sich zieht? Eine unglückliche Fügung.
Schwerwiegender aber sind die Probleme im eigenen Gebilde. Und es gibt gute Gründe, warum diese nicht so schnell verschwinden. Im Zentrum steht der Trainer und die Frage: Wie gut ist Murat Yakin wirklich? Yakin ist seit August 2021 Nationaltrainer. Der Nachfolger von Vladimir Petkovic hat die Schweiz an die WM 2022 und dort in den Achtelfinal geführt. Dieses Notenblatt ist aller Ehren wert. Was passiert wäre, wenn Italiens Jorginho in der WM-Qualifikation wenigstens einen seiner beiden Penaltys gegen die Nati verwertet hätte – man wird es nie erfahren.
Offensichtlich aber ist, was passiert, wenn Yakin das Glück nicht hold ist. Wenn er sich wie im WM-Achtelfinal mit Aufstellung und Personalentscheidungen verzockt. Wenn es späte Gegentore und Punktverluste hagelt wie bei den 2:2-Unentschieden gegen Rumänien und im Kosovo. Dann wirkt das Schweizer Gebilde plötzlich fragil. Dann sind auffallend viele negative Stimmen aus dem Herzen der Nati zu vernehmen.
Nach der WM in Katar konnte man dieses 1:6 gegen Portugal und die Wirren danach noch als Betriebsunfall abtun. Zumindest der SFV versuchte dies. Die Analyse: Mängel überall, aber nicht auf und direkt neben dem Rasen. Die Lösung: Neuer Koch. Neuer Arzt. Neuer Athletik-Trainer.
Spätestens seit diesem September aber und Granit Xhakas öffentlicher Kritik ist Yakin angezählt. So sehr, dass sich gar diese eine Frage aufdrängt: Hat Yakin als Nati-Trainer wirklich eine Zukunft? Es gibt Anzeichen dafür, dass sich auch einige Führungsspieler in der Nati mit genau dieser Frage beschäftigen. Dabei handelt es sich explizit nicht nur um Granit Xhaka.
Ist es wirklich nur Zufall, dass nun der Name von Lucien Favre als möglicher Nachfolger Yakins durch das Nati-Camp geistert? Natürlich nicht. Favres Akribie, ja Detailversessenheit hat sich über all die Jahre in vielen Spielerköpfen festgesetzt. Gut möglich, dass einige Spieler darum eher in Favre als in Yakin den Mann sehen, der die Nati an der EM 2024 zum vielleicht letzten grossen Tanz dieser Generation führen kann.
Als es um die Nachfolge von Petkovic ging, nahm sich Favre gleich selbst aus dem Rennen. Er hatte eben erst dem Premier-League-Verein Crystal Palace abgesagt und wollte sich nicht auf ein neues Dauer-Engagement einlassen. Gut möglich, dass sich der SFV andernfalls bereits im August 2021 für den 65-jährigen Vaudois entschieden hätte. Nun ist die Ausgangslage eine andere. Favre könnte – analog zu Julian Nagelsmann in Deutschland – mit dem «Projekt EM 2024» betraut werden.
Der Mann, der die Nati-Trainerfrage klären muss, heisst Pierluigi Tami. Am Mittwoch dementierte er, dass es bereits Gespräche mit Favre gegeben hat. Bedeuten muss das nichts, vielleicht hat er sie einfach nicht selbst geführt. Fakt ist: Es kommen komplizierte Tage auf Tami zu. Und sehr viele Einzelgespräche. Die Ausgangslage: Qualifiziert sich die Schweiz für die EM, gilt der Vertrag von Yakin bis und mit der Endrunde.
Doch es braucht noch vor dem Turnier einen klaren Plan für die Zukunft. Um die EM mit Yakin und in Ruhe bestreiten zu können, müsste der SFV Yakins Vertrag vorzeitig bis und mit der nächsten WM-Qualifikation verlängern. Fehlt diese Überzeugung, ist es sinnvoller, bereits in diesem Winter die Trennung zu vollziehen – auch wenn man damit Yakin um die EM-Endrunde brächte.
Und Yakin selbst? Das Spiel in Israel wäre für ihn die grosse Bewährungsprobe geworden. Nun kommt diese eben im November. Klar ist: Alleine die Qualifikation für die EM – dafür muss die Schweiz Erster oder Zweiter werden – reicht nicht aus als Bewerbung für eine Vertragsverlängerung. Dafür braucht es auch eine überzeugende Art und Weise. Es braucht die Überzeugung, dass die Führungsspieler hinter dem Trainer stehen. Und nicht zuletzt auch das Gefühl, dass Yakin die Nati entwickelt und wirklich besser macht.
Diesen Fehler wird man beim SFV ausbügeln müssen. Es braucht einen Trainer der modernen, offensiven, schnellen Fussball spielen lässt, ohne die Spieler zu überfordern - also in etwa das genaue Gegenteil von Yakin.