Der Radsport hegt und pflegt seine Traditionen. Eine davon betrifft den Rennkalender. So richtig beginnt die Saison spät im März mit «La Primavera», dem fast 300 Kilometer langen Mailand-Sanremo.
Es folgen die Kopfsteinpflaster-Klassiker. Am ersten Sonntag im April ist bei der Flandern-Rundfahrt der inoffizielle flämische Nationalfeiertag, eine Woche darauf folgt Paris-Roubaix, die «Königin der Klassiker». Den Frühling schliesst Lüttich-Bastogne-Lüttich in den Ardennen ab und mit der Lombardei-Rundfahrt, dem «Rennen der fallenden Blätter», endet im Oktober die Saison der grossen Wettkämpfe.
Alle Rennen gibt es seit weit über 100 Jahren. Nur drei Fahrern gelang es in dieser langen Geschichte, sämtliche fünf Monumente zu gewinnen. Alle kamen aus Belgien. Rik van Looy, Eddy Merckx und Roger de Vlaeminck holten ihre Siege zwischen 1958 und 1979. Merckx, der nimmersatte «Kannibale», schaffte es gar, sämtliche Monumente mindestens zwei Mal zu gewinnen.
Rund vier Jahrzehnte später stehen in diesem Frühling zwei andere Ausnahmekönner im Fokus. Mathieu van der Poel triumphierte bei Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix, dazwischen entschied Tadej Pogacar die Flandern-Rundfahrt für sich. Alle Erfolge kamen nach einer Soloflucht zustande.
Beide haben damit nun Siege bei jeweils drei Monumenten auf ihrem Konto. Beim Niederländer van der Poel kommt die Flandern-Rundfahrt dazu, der Slowene Pogacar gewann zuvor schon Lüttich-Bastogne-Lüttich und zwei Mal die Lombardei-Rundfahrt. Nach ihren beeindruckenden Vorstellungen in den vergangenen Wochen diskutiert die Rad-Welt nun aufgeregt, ob es einem der beiden gelingen kann, jeden einzelnen der fünf grossen Klassiker zu gewinnen. Und das in einer Zeit, in der die Spezialisierung fast so weit fortgeschritten ist wie im Skisport, wo ein Slalom-Ass keine Abfahrt gewinnen kann.
Aber wie im Schnee Marco Odermatt ein Ausnahmetalent ist, gibt es diese auch auf Asphalt. Pogacar, zweifacher Tour-de-France-Sieger, hat mit seinen 24 Jahren noch Zeit. Bei Mailand-Sanremo war er schon zwei Mal nahe dran, er wurde im Vorjahr Fünfter und heuer Vierter. Aber gerade weil das Rennen als einfachstes der fünf gilt, ist es so schwierig zu gewinnen – weil die Konkurrenz gross ist.
Bei Paris-Roubaix war Pogacar noch nie am Start. Kein Wunder angesichts seiner Postur. «Um dort zu gewinnen, muss ich wohl einige Kilos zunehmen», sagte der 66 Kilogramm schwere Bergspezialist nach seinem Sieg an der Flandern-Rundfahrt. Sein Trainer Iñigo San Millan meinte allerdings, er würde rein gar nichts ändern: «Er hat bereits bewiesen, dass er alles und überall gewinnen kann.»
Konkurrent van der Poel traut es Pogacar definitiv zu. Nach der Flandern-Rundfahrt verglich er ihn mit Eddy Merckx. «Was wir machen, ist eindrücklich. Aber was er macht, ist noch eindrücklicher. Pogacar ist auf dem Weg dazu, wie Merckx alles abzuräumen. Sofern er dies anstrebt, hat er die grösste Chance, alle fünf Monumente und alle drei Grand Tours zu gewinnen.» Er denke, er werde es schaffen, sagte van der Poel. Und mit einem Augenzwinkern fügte er noch hinzu: «Er ist ein sehr angenehmer Typ, aber natürlich will ich selber gewinnen. Er soll bei seinen Grand Tours bleiben.»
Dass es auch als feingliedriger Fahrer möglich ist, nach dem wilden Ritt durch den Wald von Arenberg auf der Rennbahn von Roubaix zu jubeln, bewies zuletzt Philippe Gilbert, der Sieger 2019. Der Belgier war ähnlich gross und schwer wie Pogacar. Gilbert ist aber zugleich der Beleg dafür, dass es kein Selbstläufer ist, alle fünf Monumente zu gewinnen. Er siegte bei vier – und verpasste den Erfolg bei Mailand-Sanremo, wo er zwei Mal Dritter wurde. Der einstige Weltmeister war auf der Via Roma in San Remo also sehr gut, aber nie der Beste.
Gilbert traut Pogacar alle fünf Siege zu, zögert aber bei Paris-Roubaix: «Nicht wegen seiner Fähigkeiten, sondern wegen des Risikos, das man eingehen muss, um dieses Rennen zu gewinnen.» Als Fahrer mit Tour-Ambitionen sei es fraglich, ob er für einen Roubaix-Sieg alles riskieren wolle.
Dass es noch knapper als bei Philippe Gilbert zu- und hergehen kann bei der Radsport-Antwort auf den Grand Slam im Tennis, zeigte Sean Kelly. Der Ire gewann zwischen 1983 und 1992 vier verschiedene Monumente insgesamt neun Mal – aber er wurde bei der Flandern-Rundfahrt drei Mal «nur» Zweiter. 1986 wurde Kelly dabei von einem gewissen Adrie van der Poel besiegt.
Dieser ist der Vater von Mathieu van der Poel, dem Abräumer dieses Frühlings. Der 28-Jährige scheint wie Pogacar dazu fähig zu sein, das so seltene Quintuple zu schaffen. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich mit seinen schier unendlich vielen Anstiegen könnte ihm am Ende womöglich die Spritzigkeit fehlen.
Andererseits belegte van der Poel bei der «Doyenne» im Jahr 2020 knapp hinter der Spitzengruppe Rang 6. Und wenn ein Fahrer explosiv sein kann, dann wohl der fünffache Weltmeister im Radquer, wo diese Fähigkeit gefragt ist. Als Beweis dafür gilt auch der fabelhafte Antritt, mit dem er 2021 zum Sieg bei Strade Bianche flog.
Van der Poel volgt Van Aert op en wint de Strade Bianche! pic.twitter.com/jSq0wWdk5c
— Sporza 🚴 (@sporza_koers) March 6, 2021
Das grosse Fragezeichen bei Mathieu van der Poel ist die Lombardei-Rundfahrt, bei der in der Regel ein starker Bergfahrer triumphiert. Mit seinen 1,84 m ist er vom Körperbau her nicht prädestiniert dazu. Und dennoch ist es ihm zuzutrauen, dass er es versuchen wird. Vielleicht in einem Jahr, in dem er zuvor das WM-Rennen als Formhöhepunkt bestimmt und anschliessend am Comersee noch einmal angreift. Vor drei Jahren wurde er nach 260 Kilometern mit fast 4000 Höhenmetern schon einmal Zehnter. Es war damals allerdings ein Rennen mit sehr grossen Abständen: Sieger Jakob Fuglsang überquerte die Ziellinie über sechs Minuten vor van der Poel.
Für Tadej Pogacar dürften in erster Linie weitere Gesamtsiege an der Tour de France – oder auch einmal am Giro d'Italia und der Vuelta – im Vordergrund stehen. Oder das Regenbogentrikot, das der Weltmeister tragen darf. Das Komplettieren der Monumente dürfte bei ihm derzeit zweite Priorität haben.
Etwas anders präsentiert sich die Situation für Mathieu van der Poel. Eine dreiwöchige Rundfahrt wird er nie gewinnen können. Für ihn könnte es deshalb eher zum grossen Ziel werden, sich alle fünf Highlights unter den Nagel zu reissen und damit seinen Platz im Rad-Olymp zu zementieren.
Oder gewinnt am Ende keiner dieser beiden, aber dafür ein anderer derzeit aktiver Profi alle fünf Monumente? Van der Poels ewiger Rivale Wout van Aert gewann zwar «erst» Mailand-Sanremo. Er stand aber in Flandern, Roubaix und Lüttich schon auf dem Podest. Der 28-jährige Belgier ist ein spektakulär fahrender Alleskönner, der auf jedem Terrain zuschlagen kann. Das spricht für van Aert, aber die Tatsache, dass er erst einen Sieg hat, spricht gegen ihn.
Der fünf Jahre jüngere Remco Evenepoel hat bislang einen Sieg in Lüttich auf dem Konto. Dem erwachsen gewordenen Wunderkind, aktueller Weltmeister und amtierender Vuelta-Sieger, ist alles zuzutrauen. Allerdings ist der Belgier noch kleiner und leichter als Pogacar: Gerade für Paris-Roubaix ist das ein schlechtes Vorzeichen.
Doch sollte Evenepoel einmal am Punkt sein, an dem ihm nur noch dieser Sieg fehlt, wird mit Sicherheit erneut darüber diskutiert werden, ob es einem Fahrer tatsächlich wieder einmal gelingt, alle fünf Monumente zu gewinnen. Egal, ob es immer noch nur ein Trio ist, das dies geschafft hat, oder ob daraus ein Quartett oder gar ein Quintett geworden ist.
Aber Stan hat es ja auch geschafft, in der Ära Djokovic/Nadal/Federer drei Grand Slams zu gewinnen. ;-)