Zehn Spiele, zwölf Tore. Das ist die unfassbare Ausbeute von Julius Nättinen. Der finnische Stürmer musste grosse Erwartungen erfüllen und hat diese aber bereits übertroffen. Nachdem er den Saisonstart wegen einer leichten Blessur noch verpasst hatte, schiesst er nun mehr als ein Tor pro Spiel.
Wie ist das möglich? Dieser Frage wollen wir auf den Grund gehen. Dafür ziehen wir einerseits Statistiken zu Rate, sprechen aber auch mit Leuten, die Nättinen schon gut kennen: einem Scout, einem Teamkollegen, seinem Trainer und natürlich auch mit Julius Nättinen selbst.
Julius Nättinen wird gerne mit Dominik Kubalik verglichen. Das macht Sinn, spielen sie doch die praktisch gleiche Rolle im praktisch gleichen Team. Nättinen wie Kubalik kommen am linken Flügel zum Einsatz. Nättinen wie Kubalik bilden mit Dominic Zwerger ein geniales Duo.
Es gibt aber auch Unterschiede. Kubaliks Spiel war etwas besser abgerundet. Der Tscheche hat noch grössere Spielmacherqualitäten, während der Finne Nättinen offenbar über den noch besseren Schuss verfügt. Um einschätzen zu können, wohin Nättinens Weg noch geht, wollen wir ihn hier mit Kubaliks Saison in Ambri vor zwei Jahren vergleichen.
Wer Tore erzielen will, muss natürlich schiessen. Und je mehr Schüsse und je besser die Position, von der die Abschlüsse kommen, desto besser. Der Blick auf den Shottracker von nlicedata.com zeigt dabei Interessantes.
So schiesst Nättinen zwar etwas weniger als Kubalik (22,81 Schussversuche pro 60 Minuten Eiszeit gegenüber 24 von Kubalik). Der Finne kommt aber ebenfalls oft von der rechten Seite, allerdings etwas weiter vorne zum Abschluss als sein Vorgänger. Ebenfalls höchst spannend: Nättinen bringt bislang 70,31 Prozent seiner Schussversuche aufs Tor (57,56 % bei Kubalik), was bei seinem Schussvolumen ein sehr guter Wert ist.
Für Tore braucht es nicht nur viele Schüsse aus guter Position, die Schüsse müssen auch noch gut genug sein, um einen Torhüter zu bezwingen. Und es scheint, als wäre Nättinens Schuss beinahe unhaltbar. Aktuell liegt seine Schusseffizienz bei 26,09 Prozent. Dieser Wert wird im Verlauf der Saison wohl noch sinken. Zum Vergleich: Kubaliks Schusseffizienz war 11,87 Prozent.
Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Nättinen ein überdurchschnittlicher Schütze ist, besser noch als Kubalik. In seiner letzten Saison in Finnland gingen nämlich 16 Prozent seiner Schüsse auch ins Tor. Da dort defensiv noch einmal kompakter und disziplinierter gespielt wird als in der Schweiz, ist es möglich, dass Nättinen hier noch auf eine bessere Durchschnittseffizienz kommt.
Nlicedata.com bietet zudem ein anderes interessantes Tool zur Beurteilung der Torgefährlichkeit eines Spielers an: die «individual expected goals per shot». Soll heissen: Die Anzahl Tore, die beim jeweiligen Spieler pro Schuss zu erwarten sind. Nättinen sammelt mit jedem Schuss 0,08 Expected Goals an. Das ist einer der besten Werte der Liga, insbesondere bei seinem Schussvolumen. Kubalik kam 2018/19 nur auf 0,04 Expected Goals pro Schuss.
Ebenfalls ein wichtiger Faktor bei der Produktivität eines Spielers ist die Menge an Powerplay-Zeit, die er erhält. Bei der Analyse fällt auf, dass Nättinen derzeit noch etwas weniger Eiszeit erhält als Kubalik vor zwei Jahren. Das liegt auch daran, dass der Tscheche damals häufiger in Unterzahl spielte, als es sein finnischer Nachfolger jetzt tut.
Nättinen darf bis jetzt zudem etwas häufiger in Überzahl ran. Der Grund dafür ist einfach: Ambri kann pro Spiel rund acht Minuten in Überzahl agieren, der Höchstwert der Liga. Das hat der Ausbeute des Flügelstürmers sicherlich einen starken Boost verliehen.
Nättinen profitiert derzeit sicherlich von einem Hoch, das so nicht nachhaltig ist. Einerseits kann er mit Ambri ausserordentlich viel Powerplay spielen, andererseits ist seine Schusseffizienz mit 26,09 Prozent auf einem Niveau, das über eine ganze Saison kaum zu halten ist.
Vieles deutet aber auch darauf hin, dass Nättinen ein noch besserer Schütze ist als sein Vorgänger Dominik Kubalik. Eine Saison mit einer Schusseffizienz von rund 16 Prozent sollte für den Finnen möglich sein. Es scheint also realistisch, dass der 23-Jährige die 30-Tore-Marke knacken kann. Kubalik kam auf 25 Treffer bei 32 Assists.
Analytics sind ein nützliches Hilfsmittel, gleichzeitig aber auch nur ein Teil der Beurteilung von Eishockeyspielern. Deshalb wollen wir auch noch Scouts, Mitspieler, Trainer und natürlich auch Nättinen selbst um ihre Einschätzungen bitten.
Dennis Schellenberg ist Scout und Manager des europäischen Scouting-Teams von Future Considerations. Der Zürcher beobachtet seit Jahren die besten Talente im europäischen und Schweizer Eishockey – dazu gehört auch Julius Nättinen.
Dominic Zwerger ist ebenfalls Stürmer bei Ambri-Piotta und Linienpartner von Julius Nättinen. Im Powerplay ist es oft Zwerger, der seinem Mitspieler die Vorlagen für die Direktschüsse zuspielt. Luca Cereda ist seit vier Jahren Cheftrainer von Ambri. Er hat Dominik Kubalik gecoacht und nun auch Nättinen. Wir wollen die beiden und auch Julius Nättinen selbst zu Wort kommen lassen.
Wie sind Sie mit dem Saisonstart von Julius Nättinen zufrieden?
Luca Cereda: Wir sind zufrieden. Er hatte ganz am Anfang im Trainingslager Mühe mit kleineren Verletzungen, die ihn etwas zurückgeworfen haben. Als er endlich in die Saison starten konnte, hat er gleich ein paar Tore geschossen. Das hilft einem Stürmer natürlich.
Julius Nättinen: Mit dem Start, den ich hatte, muss ich natürlich zufrieden sein. Es ist ein neues Team, eine neue Liga. Vieles ist anders. Ich habe gleich im ersten Spiel getroffen und konnte diesen Schwung mitnehmen. Es gibt aber immer noch Dinge in meinem Spiel, die ich verbessern möchte.
Wo kann sich Nättinen noch verbessern?
Nättinen: Das geht vor allem beim Spiel 5 gegen 5. Ich will in diesen Situationen noch aktiver sein. Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich bei 5-gegen-5 den Puck nicht so oft habe. Das will ich ändern.
Cereda: Ich glaube, trotz seiner Effizienz hat Julius noch Steigerungspotenzial. Seine Präsenz im Spiel kann er noch ausbauen. Beim Spiel 5-gegen-5, der Bande entlang und auch beim Spiel ohne Scheibe hat er noch Verbesserungspotenzial. Er ist daran, arbeitet gut. Das sind die Ziele, die wir mit ihm noch erreichen wollen.
Zwölf Tore in zehn Spielen. Haben Sie einen derart guten Start erwartet?
Nättinen: (lacht) Nein, wenn du so einen Start erwartest, träumst du wahrscheinlich. Ich wusste, dass ich Tore schiessen kann, aber dass es gleich so gut klappt, habe ich nicht erwartet.
Die Chemie mit Dominic Zwerger scheint sofort gestimmt zu haben.
Zwerger: Ja, entweder die Chemie passt oder sie passt nicht. Bei uns stimmt es, wir haben uns schnell gefunden und haben viel Spass auf dem Eis. Ich glaube, das sieht man uns auch an beim Spielen. Er ist ein Top-Spieler, was es natürlich auch für mich einfacher macht.
Nättinen: Ich habe schon vor meinem Wechsel einige Highlights von Zwerger und Kubalik angeschaut. Er ist ein sehr guter, natürlicher Passer. Ich weiss, dass ich mich nur etwas freistellen muss und dann findet mich «Zwergi». Das hat dann ziemlich schnell geklappt und wir fühlten uns rasch wohl beim Zusammenspiel.
Was ist das Geheimnis von Nättinens Torgefahr? Ist es eine spezielle Schusstechnik?
Nättinen: Nein, da gibt es keine Magie oder andere spezielle Dinge. Wenn du ein paar Mal triffst, hast du das Gefühl, dass plötzlich jeder Schuss reingeht. Ich habe viel Selbstvertrauen und bin immer bereit für den Puck. Auch wenn der Pass einmal etwas zu scharf kommt oder ein wenig holpert, suche ich den Direktschuss, um es für den Goalie so schwierig wie möglich zu machen.
Zwerger: Ich glaube, das wissen wir alle: Das ist sein Schuss. Es ist definitiv ein NHL-Schuss. Er schiesst aus jeder Position, egal wie der Puck kommt. Das ist schwierig für alle Goalies. Er hat einen unglaublichen Antritt und wenn er die Scheibe kriegt, musst du nicht lange überlegen, dann ist sie meistens drin.
Cereda: Er sucht direkt den Weg zum Tor. Wenn bei anderen Spielern der Pass nicht so genau ist, dann haben sie die Tendenz, die Scheibe zu stoppen und erst dann zu schiessen. Julius sucht immer den direkten Weg zum Tor.
Welche Rolle spielt die Länge des Stocks? Ihr Stock scheint länger zu sein als bei den meisten Schweizer Spielern.
Nättinen: Ja, vor etwa sechs oder sieben Jahren hatte ich das Gefühl, dass ich einen längeren Stock brauche. So brauche ich beim Schiessen weniger Kraft. Ich vertraue meinen Stöcken, und sie machen die Arbeit für mich.
Sie sind ausgebildeter Center, haben aber vor zwei Jahren auf den Flügel gewechselt. Wie hat das Ihr Spiel verändert?
Nättinen: Ich glaube das Spiel auf dem Flügel passt besser zu mir. Ich kann meinen Speed und meinen Schuss besser nutzen als auf der Centerposition, wo du oft tiefer stehst.
Warum fällt es Ambris Gegnern so schwer, das Powerplay zu verteidigen? Eigentlich weiss man ja, dass irgendwann der Pass auf Nättinen und dann der Schuss kommt.
Cereda: (lacht) Erstens ist Nättinen nicht alleine auf dem Eis. Zweitens ist er halt einfach auch ein sehr, sehr guter Spieler. Und drittens finden gute Spieler immer irgendwie den Weg zum Tor. Es ist das Gleiche in Zürich mit Fredrik Pettersson. Man weiss, dass er irgendwann schiessen wird, aber er findet die Lücken zwischen den Verteidigern. Diese Nase, um im richtigen Moment das Loch zu finden, zeichnet diese Spieler aus.
Wie viele Tore liegen in dieser Saison noch drin?
Zwerger: Ich will da keinen Tipp abgeben. Ich hoffe, dass er einfach so weiterspielt wie bisher, dann kommen die Tore von alleine. Dann können wir als Mannschaft weiter gewinnen und die Playoffs erreichen.
Cereda: Das ist schwierig zu beantworten. Ich denke seine Schusseffizienz wird irgendwann zurückgehen, die ist im Moment sehr hoch. Aber ist ein echter Sniper. Wenn er weiterhin den direkten Weg zum Tor findet, dann wird er auch seine Tore schiessen, wenn auch vielleicht nicht mehr im gleichen Rhythmus wie im Moment.
Nättinen: Ich habe mir keine persönlichen Ziele gesetzt. Es ist ein neuer Ort, ich weiss nicht, was mich noch so erwartet. Wir wollen mit der Mannschaft die Playoffs erreichen und ich will dabei ein wichtiger Spieler sein – in der Offensive und in der Defensive.
Zwerger, Mitspieler: „Er hat einen unglaublichen Antritt ...“
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