Der alles dominierende, einschüchternde und scheinbar unbesiegbare «Böse» mit der Kragenweite eines Karl Meli, Ruedi Hunsperger, Ernst Schläpfer oder Jörg Abderhalden, die jeweils eine ganze Epoche dominierten, gibt es nicht mehr. Prognosen vor einem Fest mit eidgenössischem Charakter sind schwieriger geworden.
Aber bei aller Ungewissheit ist doch eine Struktur ersichtlich: Die Berner haben mit den Königen Kilian Wenger und Matthias Sempach und Christian Stucki, dem «König der Herzen», als einziger Teilverband gleich drei Siegesanwärter. Und noch wichtiger: Dieses «Trio Grande» bekommt Flankenschutz durch ein breites Feld von Mittelschwingern, die, wenn es die Situation erfordert, auf ihre eigene Chance verzichten und fast jeden ausserkantonalen Gegner durch ein Remis («Gestellten») zurückbinden können.
Beispielsweise Bernhard Kämpf, Matthias Aeschbacher, Simon Anderegg oder Remo Käser. Siegesanwärter und aussichtsreiche Aussenseiter haben auch die Ostschweizer oder die Innerschweizer. Aber kein Teilverband hat die Breite der Berner.
Diese Zuversicht kann allerdings auch ein Irrtum sein. Vor sechs Jahren, beim letzten Unspunnen-Fest von 2011, ging das bernische «Königreich der Bösen» unter. Als draussen in der Arena der Ostschweizer Daniel Bösch und der Innerschweizer Christian Schuler (er muss verletzungshalber auf Unspunnen 2017 verzichten) zum Schlussgang in die Hosen stiegen, weilte Kilian Wenger bereits bei der Dopingkontrolle.
Christian Stucki und Matthias Sempach kamen frisch geduscht, gebürstet und gekämmt aus der Garderobe. Die Ränge 3 (Sempach), 4 (Wenger) und 8 (Stucki) täuschten noch über das Ausmass des Debakels hinweg: Die Berner Sägemehl-Superstars hatten schon nach drei von sechs Gängen, bei «Halbzeit», nichts mehr mit der Entscheidung zu tun.
Was hatte die Berner damals bloss zu Fall gebracht? Sie waren doch die grossen Favoriten (wie jetzt) und es schien, als könnte nichts passieren (wie jetzt). Mochte kommen, was wolle – einer würde schon durchkommen (wie jetzt). So dachten die Berner. So dachte eigentlich die ganze Schwinger-Schweiz. So denken die Berner und die ganze Schwinger-Schweiz auch in diesen Tagen wieder.
Schwingerlegende Niklaus Gasser ortete damals als Ursache eine zu hohe Nervenbelastung durch hohe Erwartungen, Medien- und Starrummel. Tatsächlich gehörten die Berner Titanen in den Wochen vor dem Fest zu den meistabgebildeten Schweizer Sportlern. Und Kilian Wenger, der damals regierender König war, sagte: «Ja, da ist was dran.»
Christian Stucki wunderte sich hingegen, warum ihm Unspunnen 2011 kein Glück gebracht hatte. «Ich habe sehr gut geschlafen, ich kam am Sonntagmorgen als erster Berner in die Garderobe und fühlte mich super. Aber dann hatte ich einfach keinen Pfuus mehr. Ich weiss nicht warum. Es war einfach nicht mein Tag.»
Nun sind sechs Jahre ins Land gezogen. Die Titanen der Berner haben sich längst an diesen Rummel gewöhnt. Sie lassen sich nicht mehr irritieren. Obwohl König Matthias Glarner nach einem Unfall bei einem Medientermin auf Unspunnen verzichten muss.
Eigentlich ist ja Unspunnen genau ein Fest für einen «Bösen» wie Christian Stucki (198 cm/142 kg). 2011 hat Daniel Bösch (193 cm/135 kg) gewonnen. Sozusagen eine Ostschweizer Antwort auf Christian Stucki. Aber ohne dessen Charisma und Vermarktungspotenzial. Ein eidgenössisches «Eintagesfest» mit sechs Kämpfen hat eine andere, eine höhere Dynamik und Intensität als das Eidgenössische mit acht Gängen in zwei Tagen.
Unspunnen ist ein Fest, das es gut mit den Aussenseitern meint. Wir finden in den letzten 50 Jahren nur zwei Könige in der Siegerliste: Rudolf Hunsperger (1968) und Jörg Abderhalden (1999). Thomas Sutter (1993) wurde erst nach seinem Unspunnen-Sieg König. Unspunnen haben vor allem «Eintages-Könige» gewonnen. «Böse» wie Martin Grab (2006), Niklaus Gasser (1987), Leo Betschart (1981), Ernest Schlaefli (1976) oder eben Titelverteidiger Daniel Bösch. Und noch nie hat einer der bisher 22 Sieger seinen Unspunnen-Triumph wiederholt.
Christian Stucki, der flinke Riese, ist «zwäg». Mental robust wie nie, viel robuster als 2011. Flink wie nie, viel flinker als 2011. Technisch gut wie nie, viel besser als 2011. Wenn der nächste Sonntag «sein» Tag ist, dann bringt er eine unbesiegbare Kombination aus Gewicht, Kraft, Wucht, Standfestigkeit, Explosivität, Technik und Beweglichkeit ins Sägemehl. Wenn er «zieht», dann macht er seine Schwünge präzis, entschlossen und konsequent.
Er hat schon das Kilchberg-Fest 2008 gewonnen, den anderen eidgenössischen «Eintages-Showdown» neben Unspunnen. Er führt die «Weltrangliste» (die von der Fachzeitschrift «Schlussgang» erstellte Jahreswertung) an. Und Matthias Sempach und Armon Orlik, seine vielleicht gefährlichsten Gegner, sind zweifelnde oder hinkende Titanen.
In lichten Momenten ist Armon Orlik eine «Kampfmaschine», die an Jörg Abderhalden, einen der «bösesten» aller Zeiten mahnt. Erst der schlaue, erfahrene Matthias Glarner stoppte 2016 im Eidgenössischen Schlussgang seinen Sturm auf den Königsthron. Aber seit dem 7. Mai 2017 ist er ein zweifelnder Titan.
Im 5. Gang am Aargauer Kantonalen kontert Bruno Gisler seinen Angriff, er fällt unglücklich auf den Nacken und bleibt regungslos liegen. Rund zehn Minuten lang spürt er weder Arme noch Beine. Er wird ins Spital transportiert, wo das Gefühl zurückkommt und die Ärzte Entwarnung geben. Erst Unspunnen wird zeigen, ob sein Selbstvertrauen wieder intakt ist, ob er seine Sicherheit zurückgewonnen hat. Bis dahin ist er ein zweifelnder Titan.
Matthias Sempach ist der technisch vielseitigste Schwinger. 2013 hat er auf dem Weg zum Königstitel in acht Gängen seine Gegner mit acht verschiedenen Würfen besiegt und im Schlussgang auch Christian Stucki gebodigt. Der einst mental zerbrechliche «Böse» ist inzwischen zum nervenstarken Champion gereift. Wäre der vierfache eidgenössische Kranzschwinger ganz gesund, dann wäre er der ganz grosse Favorit und Anwärter auf den «Eidgenössischen Hattrick»: bis heute hat nur Jörg Abderhalden alle drei Feste mit eidgenössischem Charakter (Eidgenössisches, Kilchberg, Unspunnen) gewonnen.
Matthias Sempach (König 2013, Kilchberg 2014) könnte der Nächste sein. Aber er hat sich beim Berner Kantonalen am 9. Juli eine Zerrung des Aussen- und hinteren Kreuzbandes und einen Muskelfaseranriss des äusseren Wadenmuskels zugezogen. Inzwischen hat er das Training wieder aufgenommen. Aber er ist nach wie vor ein hinkender Titan.