Auf dem Höhepunkt war Schluss. Als Daniel Carcillos Name 2015 zum zweiten Mal im Stanley Cup eingraviert wurde – nach zwei Triumphen mit den Chicago Blackhawks –, beendete er, 30-jährig, seine Karriere. Der Kanadier bestritt in der NHL 474 Spiele.
Fortan widmete sich Carcillo der Stiftung «Chapter 5», die er ins Leben gerufen hatte. Sie hilft Eishockey-Spielern, die nach einer Gehirnerschütterung körperliche Probleme, Angstzustände oder Depressionen haben. Carcillo hatte während seiner Laufbahn selber mit Alkoholproblemen und Medikamentenmissbrauch zu kämpfen. Und er verlor seinen besten Freund im Eishockey, Steve Montador, der nach mehreren schweren Gehirnerschütterungen nur 35 Jahre alt wurde.
Nun klagt Daniel Carcillo an. Gemeinsam mit einem anderen früheren Spieler, Garrett Taylor, will er mehrere Junioren-Ligen vor Gericht zerren. Am Donnerstag ist in Toronto die Klage gegen die Canadian Hockey League (CHL) und deren drei Mitglieder Western Hockey League (WHL), Ontario Hockey League (OHL) und Quebec Major Junior Hockey League (QMJHL) eingereicht worden. Es geht um Mobbing, Erniedrigung, sexuellen Missbrauch, körperliche und verbale Gewalt. Carcillo äussert die Hoffnung, dass durch seinen Fall eine Lawine ins Rollen gerät: «Es gibt viele mehr, denen es wie mir ergangen ist.»
«In der Eishockey-Welt war vielen bekannt, dass Missbrauch stattfindet», sagte Anwalt James Sayce zu «The Hockey News». Doch bis heute gäbe es Ligen, die nur sehr langsam auf diesen Missbrauch reagieren würden. «Es sind systematische Probleme, die schon seit geraumer Zeit bestehen. Im Mittelpunkt des Falles steht das Versäumnis, Kinder zu schützen und zu beaufsichtigen.» Die Klage fordert Schadenersatz wegen Fahrlässigkeit und Verletzung der Treuepflicht. Sie verlangt ausserdem, dass Teams und Ligen stellvertretend für den Missbrauch haften, den ihre Mitarbeiter und Spieler begangen haben.
Daniel Carcillo, der vor seiner NHL-Zeit in der Ontario Hockey League spielte, behauptet in der Klageschrift, dass er während der Saison 2002/03 «fast ständig und wiederholt missbraucht» worden sei. Damals lief er in seiner ersten Saison für die Sarnia Sting auf.
Liest man die Anklageschrift durch, haben es die 15- bis 17-jährigen Neulinge besonders schwer. Bis heute leide er unter psychischen Problemen, die er vor den Misshandlungen nicht gehabt habe. Niemand habe die Rookies im Team beschützt, obwohl Trainer und General Manager über die Vorfälle im Bild waren. Diese hätten ihn dauerhaft traumatisiert, wirft Carcillo ihnen vor.
Neue Teammitglieder wurden etwa gezwungen, sich nackt in die Mitte des Duschbereichs zu setzen. Ältere Mitspieler urinierten auf sie und bespuckten sie mit Speichel und Kautabak. Mindestens einmal habe das der Headcoach gesehen. Er habe gelacht und sei wieder gegangen.
Ein anderes Mal sei der Trainer in die Kabine gekommen, in der ein Neuling bäuchlings auf einen Tisch gefesselt war. Die älteren Mitspieler hätten ihm mit einem Gürtel auf den nackten Po geschlagen. Auch der Coach habe sich daran beteiligt und gelacht, während der Junge geweint habe. Eine andere Misshandlung waren Schläge mit einem abgesägten Torhüterstock auf den nackten Hintern. Dabei seien Wunden entstanden, die so schlimm waren, dass sich die Opfer nicht einmal mehr setzen konnten. Sie informierten den Trainerstab, doch der unternahm nichts.
Auch ein beliebtes Spiel auf Kindergeburtstagen wurde durchgeführt – in einer primitiveren Version. Rookies mussten mit dem Mund einen Apfel aus einer Kühlbox fischen. Doch diese war nicht mit Wasser gefüllt, sondern «mit Urin, Speichel und anderen Körperflüssigkeiten der älteren Spieler».
Weiter wirft die Klageschrift vor, dass rassistische, sexistische und homophobe Beleidigungen an der Tagesordnung waren. Garrett Taylor berichtet, wie sein Headcoach die Kreditkarte des Teams einem der älteren Spieler gab, um Alkohol für eine Rookie-Party zu kaufen. An dieser mussten die Rookies in Frauenkleidern erscheinen und so viel trinken, bis sie erbrachen und einen Filmriss hatten.
Bei anderen Partys veranstalteten die älteren Spieler Orgien und nötigten die jüngeren zu sexuellen Handlungen. Man habe sie gezwungen, Urin, Sperma und Fäkalien zu schlucken und zu sexuellen Aktionen mit Tieren. Genitalien der Spieler wurden in Reizstoffe und giftige Flüssigkeiten getaucht, ihnen wurden Hockeyschläger, Besen oder Lebensmittel in den After eingeführt.
«Solche Geschichten kommen immer wieder ans Tageslicht», sagte Anwalt James Sayce. «Und der Grund dafür, dass sie immer wieder auftauchen, ist, dass einige Überlebende stark genug sind, ihre Geschichten zu erzählen und gegen die geltenden Codes im Hockey zu verstossen.»
Der Omertà, dem ungeschriebenen Gesetz des Schweigens gegenüber Aussenstehenden, soll es an den Kragen gehen. Die Canadian Hockey League sagte der Nachrichtenagentur Canadien Press, man sei noch nicht im Besitz der Anklage und könne deshalb noch keinen Kommentar abgeben.
Ich hoffe, dass ein Verantwortlicher gerecht bestraft werden kann. Dies ist natürlich sehr schwierig, da wohl das ganze System betroffen ist.
Das wichtigste ist aber, dass sich nach der Klage auch wirklich etwas ändert und es nicht einfach gleich weitergeht wie bisher.