96,7 Prozent ist nicht die Fangquote von Tobias Stephan, sondern der Anteil der Spiele, in denen er in den sechs NLA-Qualifikationen zwischen 2012 und 2018 das Tor des EV Zug hütete. 290 von 300 Meisterschaftspartien bestritt der Marathonmann in dieser Zeitspanne. Ein unfassbarer Wert. Und er war damit nicht alleine. Auch Benjamin Conz (für Fribourg und Ambri) sowie Leonardo Genoni (für Bern und Davos) hatten Werte jenseits der 90 Prozent. Zum Vergleich: In der NHL bestreiten selbst die Topgoalies in der Regel nicht mehr als 75 Prozent oder maximal 60 von 82 Qualifikationspartien.
Die Tendenz bei der Mehrheit der Schweizer Klubs, auf eine klare Nummer eins zu setzen, hatte in den letzten Jahren einen unangenehmen Nebeneffekt. Junge Torhüter bekamen nur in Ausnahmefällen die Chancen, sich zu bewähren. Oft wurde, wenn sich der Stammgoalie verletzt hatte, Hilfe im Ausland gesucht, weil in den eigenen Reihen schlicht keine valable Alternative zur Verfügung stand – oder man dies zumindest glaubte und dem eigenen Nachwuchs nicht traute.
Schaut man auf die aktuelle Saison, dann hat diesbezüglich offenbar ein Umdenken stattgefunden. Die Arbeitslast der Goalies wird besser verteilt. Das ist einerseits dem umfangreichen Spielplan mit vielen Pflichtterminen in Meisterschaft, Cup und/oder Champions Hockey League geschuldet. Andererseits haben die Klubs gemerkt, dass es sich lohnt, auch auf der Goalieposition die entsprechenden Investitionen zu machen.
Nationalmannschafts-Goalietrainer Peter Mettler bestätigt, dass ein Mentalitätswandel zu erkennen ist. «Wenn wir in der Schweiz die jungen Goalies am richtigen Ort einsetzen, können sie die nötigen Entwicklungsschritte machen. Wir haben Talente, aber wir müssen sie auch entsprechend fördern und fordern.» Er nennt die Swiss League als Beispiel, wo derzeit eine ganze Reihe vielversprechender Talente zum Einsatz kommen, Mettler: «Die Klubs sind langsam so weit, dass sie mutiger werden. Sie merken, dass sie ihre Goalies nicht nur bei den Elite Junioren einsetzen und davon ausgehen können, dass sie bei Bedarf dann auf höchstem Level bereit sind.»
Mettler sagt, dass die Klubs generell mutiger geworden seien, auch mal auf junge Goalies zu setzen. Mit gutem Grund: «Diese Spieler sind ein Kapital für den Verein, bei denen es sich lohnt, etwas in die Ausbildung zu investieren.» Später könne man insofern profitieren, als dass man vielleicht nicht in eine teure Nummer investieren müsse. Oder man profitiere von den Ausbildungsentschädigungen, wenn diese Goalies sich in einem anderen Klub durchsetzen.
Lange Zeit war der Weg an die Spitze durch etablierte Kräfte versperrte gewesen. «Jetzt wittern diese Jungs ihre Chance und sind entsprechend bereit, viel in ihre Karriere zu investieren», sagt Mettler. Der Zeitpunkt ist günstig: Die grosse Schweizer Goaliegeneration mit Jonas Hiller (36), Leonardo Genoni (31), Reto Berra (32) oder Tobias Stephan (35) befindet sich langsam, aber sicher auf der Zielgeraden ihrer Karrieren. Die Klubs haben die Probleme erkannt. «Der Mensch funktioniert so. Es braucht oft erst eine Krise, ehe man reagiert und ein Umdenken stattfindet», sagt Mettler, betont aber im gleichen Atemzug: «Wir hatten selbst in den Jahren, in denen keine grossen Goalies ausgebildet wurden, genügend Talente, die aber keine Chance erhielten, sich zu beweisen.»
Und dann kommt es auch noch darauf an, unter welchen Umständen die jungen Torhüter ins kalte Wasser geworfen werden. Der HC Davos setzte nach dem Abgang von Leonardo Genoni zum SC Bern wieder auf ein junges Torhütergespann. Während sich Genoni zusammen mit Reto Berra zehn Jahre vorher in Davos hinter einer gefestigten Meistermannschaft in aller Ruhe entwickeln konnte, mussten sich Gilles Senn und Joren van Pottelberghe hinter einer punkto Defensivverhalten bisweilen arg destabilisierten Equipe beweisen.
Weder ihrem Selbstvertrauen noch ihren statistischen Werten war diese Situation zuträglich. Was letztlich darüber hinwegtäuscht, dass die beiden zu den grössten Schweizer Goalietalenten der letzten Jahre gehören. Mettler sagt: «Wir haben den Hang dazu, einen Goalie nur aufgrund seiner Fangquote zu beurteilen. Solange aber ein Schuss von der roten Linie gleich viel Wert ist wie ein Schuss aus bester Abschlussposition, dann ist diese Statistik nicht wirklich aussagekräftig. Ich bin überzeugt, dass beide auf einem sehr guten Weg sind.»
Dieser Weg wird im Sommer möglicherweise für das Duo nach Nordamerika führen. Senn und Van Pottelberghe bringen etwas mit, was den jungen Schweizer Goalies oft fehlt: die Grösse. Ein Trend, der auch dem Schweizer NHL-Talentspäher Thomas Roost aufgefallen ist. Punkto physischen Voraussetzungen hinken die Goalies hierzulande der Konkurrenz aus dem Ausland hinterher. «Wenn ich die Goaliecoaches als Messgrösse nehme, dann darf ich feststellen, dass in der Schweiz einige sehr gute Leute am Werk sind. Allerdings ist die Qualität der Nachwuchsgoalies bei uns nicht so gut wie in den Top-Nationen. Möglicherweise wird bei der Rekrutierung von auszubildenden Goalies noch zu wenig Gewicht auf die Körpergrösse gelegt. Das Potenzial von kleinen Goalies ist im heutigen Eishockey in aller Regel beschränkt.»
Deshalb wird zum Beispiel U20-Nationalgoalie Luca Hollenstein, der an der letzten Junioren-WM mit spektakulären Vorstellungen auffiel, kaum eine Chance auf eine NHL-Karriere eingeräumt. Seine 1,78 Meter Körpergrösse sind schlicht zu wenig. Für eine schöne Karriere in der Schweiz könnte sein Talent aber allemal reichen.