Kraftvoll, beinahe rau erklingt «La Rauracienne». Die Hymne des Kantons Jura. Die «Marseillaise» der Jurassier. Uralt und schon vor 190 Jahren als Kampflied gegen die bernische Obrigkeit gesungen. Kämpferisch. Nicht melancholisch wie Ambris «La Montanara». Ajoie ist nicht Ambri, das in einer langen Geschichte eine wundersame Kultur des Leidens, der unerfüllten Sehnsucht entwickelt hat. Ajoies Kultur ist aufmüpfiger, rebellischer. Der Klub ist neben der Katholischen Kirche die wichtigste Institution eines Kantons, der seine Freiheit erst vor 42 Jahren erkämpft hat.
Nun intonieren etwas mehr als 3000 Besucherinnen und Besucher die «Raurakische Hymne» vor dem Spiel. Zu Ehren einer Gruppe Männer in ritterähnlichen Ausrüstungen, eisernen Schuhen, behelmt und mit Stöcken in den Fäusten. Rebellen eben. Sie sind zurück auf der grossen Bühne. Um die Mächtigen herauszufordern. Der HC Ajoie spielt nach 28 Jahren wieder in der höchsten Liga.
In diesem stimmungsvollen Auftakt keimt schon der Kern der Niederlage. Trainer Gary Sheehan wird es so erklären: «Es war zu viel los an diesem Tag und schwierig, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Wir wollten zu viel.»
Es war ein grosses Ajoie. Leidenschaftlich und mutig. Aber es fehlte die Geduld, die Kaltblütigkeit, die Präzision, die Ajoies Spiel, das Powerplay, die «Offensivmaschine» eben auch ausmachen. Die Jurassier wollten alles, gaben alles, aber die Sachlichkeit ihres Spiels verglühte in den Emotionen des Tages und des milden Spätsommerabends.
Es war ein grosses Ajoie, aber es war nicht das wahre Ajoie. Oder wie es Gary Sheehan auch noch sagte: «Wir spielten zu naiv.» Oder eben wie ein Neuling. Ajoie hat im Cup schon Titanen besiegt. Auch Biel. Ein Cupspiel ist einmalig. Beflügelt. Ein sportlicher Sonntag. Der Aussenseiter hat nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen – und wenn er verliert: na und? Aber nun ist es der Auftakt zu einer Meisterschaft. Jeder Punkt zählt, jede Niederlage schmerzt. Es ist der erste von 52 sportlichen Werktagen.
Die neue Arena ist an diesem historischen Abend der Rückkehr nicht ausverkauft. Gut 1500 Plätze bleiben leer. Es ist die Unsicherheit der Virus-Krise, die auch hier, hinter den sieben Jurabergen, noch nicht überwunden ist. Ein volles, ausverkauftes Stadion? Nein. Noch nicht. Obwohl es die Möglichkeit gibt, den zum Eintritt notwendigen Test vor Ort zu machen.
Zum ersten Mal seit 560 Tagen, seit dem 25. Februar 2020, der drittletzten Qualifikationsrunde der Saison 2019/20, ist es möglich, bei einem Meisterschaftsspiel die Stadien bis auf den letzten Platz zu füllen. Aber die Stadien sind nicht voll. Nicht in Zug. Nicht in Bern. Nicht in Zürich und nicht einmal hier, am ersten Tag einer neuen Ära. Es wird wohl ein sorgsames, langsames, ein wenig ängstliches Herantasten an eine Normalität, an die wir uns erst wieder gewöhnen müssen. Das Gedränge in einer maskenfreien Menschenmenge wirkt inzwischen schon fast beängstigend.
Der von weither angereiste Besucher merkt nicht, dass bei weitem nicht alle da sind, die da sein könnten. Die Akustik in diesem Hockey-Tempel aus Holz ist überwältigend. Intensiver, stimmungsvoller sogar als Ambris Kultarena Valascia und in Langnau, Fribourg oder Bern.
Ein gewöhnliches Spiel, eine normale Niederlage oder ein logischer Sieg – das ist in diesem Treibhaus der Emotionen nicht möglich. Es muss ein Drama werden. Und es wird ein Drama. Weil die Bieler nicht gekommen sind, um bloss zu spielen. Um freundliche Gäste einer rauschenden Party zu sein. Ganz im Gegenteil. Sie sind gekommen, um alles für den Sieg zu tun. Unerbittlich, entschlossen und voller Leidenschaft – aber eben auch cooler und in ihrem Spiel präziser.
Der Aussenseiter kann nicht fliegen. Nur selten findet er die Lücken in den Reihen eines schier übermächtigen Gegners. Es nützt nichts, dass sich das Publikum bei jedem Powerplay von den Sitzen erhebt. Die Emotionen treiben den Aussenseiter voran. Aber das Tempo reicht nicht, um abzuheben. Um Lücken aufzureissen.
Die drei kanadischen Stürmer Jonathan Hazen, Philip-Michaël Devos und Guillaume Asselin bleiben ohne Skorerpunkt. Wenn die drei Besten nicht treffen, dann ist Ajoie verloren. Gary Sheehan ist weit davon entfernt, seine ausländischen Stürmer deshalb zu kritisieren und scherzt: «Wenn jeder auf 40 Punkte kommen will, so muss mit der Punkteproduktion bald begonnen werden…» 40 Punkte braucht Ajoie von jedem, wenn die Schmach des letzten Platzes abgewendet werden soll.
Biel dominiert den Aufsteiger von allem Anfang an (41:31 Torschüsse) mit vier Linien und lässt ihm keine Atempause. Der Stich ins Herz kommt ausgerechnet im Powerplay. Und, wie es sich für so ein Drama gehört, auch nicht von einem gewöhnlichen Spieler. Es ist Gaëtan Haas, der Rückkehrer, der Captain, der Leitwolf, der teuerste Spieler der Bieler Hockeygeschichte. In Unterzahl zieht er davon und erzielt das 0:1. Er entscheidet gleich das erste Spiel nach seiner Rückkehr. So muss es sein.
Es ist der Stich ins Herz des tapferen Aufsteigers, von dem er sich nicht mehr erholen wird. Ajoie verliert sein erstes NL-Spiel mit Publikum in der neuen Arena. Obwohl der Trainer alles richtig gemacht hat. Obwohl Torhüter Tim Wolf hexte (94,87 Prozent Fangquote) und seiner Mannschaft bis in die letzte Minute das Spiel offenhielt. Obwohl jeder sein bestes Hockey spielte. Gegen ein gewöhnliches Biel hätte es wahrscheinlich trotz allem gereicht. Aber nicht gegen dieses erstaunliche, grosse Biel.
Ajoie hat verloren und die Herzen seiner Fans gewonnen. Durch Leidenschaft, Mut und Kampf bis zur letzten Sekunde. Die tapferen Verlierer werden mit Applaus und Sprechchören verabschiedet.
Die neue Zeitrechnung des jurassischen Hockeys hat mit einem grossen Hockeyabend begonnen. Der Aufsteiger wird ein Farbtupfer in der höchsten Liga sein. Und diese erste Partie enthält auch eine Warnung: Wenn ein Biel, an Talent himmelhoch überlegen, all seine Kräfte mobilisieren muss, um ein Ajoie, das vor lauter Emotionen sein Potenzial noch nicht entfaltet hat, knapp zu besiegen (3:1) – wie wird es hier, wenn sich Ajoie an die neue Liga gewöhnt hat, jenen ergehen, die weit weniger Talent als Biel haben? Ajoies Niederlage ist zugleich eine Warnung. Nicht nur für Langnau, die Lakers oder Ambri. Auch und gerade für den SCB.
Ich lese den Bericht jetzt noch ein 2. Mal durch und suche die Erwähnung von Marc Lüthi. Den habe ich entweder überlesen oder er scheint tatsächlich vergessen gegangen zu sein...
Ich freue mich jedoch auf eine spannende Saison mit Ajoie💛🖤