Eine Szene erklärt den HC Lugano: Langnaus Jules Sturny vollendet einen blitzsauberen Konter gegen Luganos Mirco Müller und Santeri Alatalo mit dem 1:0. Den entscheidenden Pass hat er von Pascal Berger bekommen. Das ist gefühlt ungefähr so, wie wenn Südsee-Insulaner mit einem Bambusspeer einen Flugzeugträger der US-Pazifikflotte versenken würden.
Pascal Berger hatte zuvor erst einen einzigen Skorerpunkt auf dem Konto und Jules Sturny zwei Tore. Beide wissen nicht einmal, ob ihr Arbeitsverhältnis verlängert wird. Mirco Müller (Vertrag bis 2027) und Santeri Alatalo (Vertrag bis 2025), denen als Verteidiger das Abschirmen und Behüten des Lugano-Kastens obliegt, gehören zu den besten, bestgelöhnten und talentiertesten Schweizer Verteidigern überhaupt.
Sie haben sich schon mehrfach international bewährt, Mirco Müller sogar in der NHL. Wenn zwei so berühmte Titanen der Defensive von Langnaus tapferen offensiven Hinterbänklern blamiert werden, dann wissen wir: Es wird höchst unterhaltsames Operettenhockey zelebriert. Lugano ist zu Gast. Die «Opera Buffa» des Hockeys.
Die Bezeichnung mag ein wenig respektlos sein, ist jedoch als Kompliment gemeint, um dem Publikum den aktuellen Zustand eines grossen Hockeyunternehmens zu erklären. Die «Opera Buffa» ist zwar nicht im Tessin, aber immerhin in Italien erfunden worden, wird oft – wie ein Hockeyspiel – in drei Akten aufgeführt und bedeutet «komische Oper». Sie steht im Gegensatz zur «Opera Seria», der «ernsten Oper», ist aber auch ein Kunstwerk: Denken wir nur an den «Barbier von Sevilla», komponiert vom grossen Gioachino Rossini.
Dem HC Lugano fehlt es eigentlich an nichts. Im Management sitzen eine ganze Reihe von grossen Persönlichkeiten, die sehr wohl wissen, wie Hockey funktioniert: zum Beispiel die kluge Präsidentin Vicky Mantegazza, Geschäftsführer Marco Werder oder Sportchef Hnat Domenichelli. Die Geldspeicher sind stets gut gefüllt und die Nachwuchsabteilung gehört zu den besten im Land. Die Hockey-Götter haben die Füllhörner des Talents über dem Team ausgeschüttet. Und doch findet der HC Lugano, Meister von 1986, 1987, 1988, 1990, 1999, 2003 und 2006, seine Identität als «Grande Lugano» einfach nicht mehr.
Oder ist es am Ende so, dass der HC Lugano inzwischen sehr wohl eine Identität gefunden hat? Nur nicht die meisterliche, die alle in Gedenken an die ruhmreiche Vergangenheit so intensiv suchen? Sondern eine ganz andere als «Opera Buffa?»
Das mag eine überaus boshafte, schon beinahe bösartige Feststellung sein. Aber möglicherweise kommt sie der Wahrheit nahe. Hin und wieder gelingen Lugano ja auch diese Saison grandiose Siege. Ein 3:0 in Biel, die Triumphe in den bisherigen zwei Derbys gegen Ambri, gleich drei Siege gegen Meister Zug, oder ein 5:1 gegen den SCB. Aber halt noch mehr unrühmliche Niederlagen wie ein 1:4 in Ajoie, zwei Pleiten gegen Aufsteiger Kloten und inzwischen die zweite Demütigung in Langnau. Es gibt also keine Konstanz. Nicht über Wochen und sehr oft nicht einmal an einem Abend über drei Drittel. Es fehlt zwar den meisten nicht am guten Willen oder fehlender Leistungsbereitschaft. Aber einigen halt schon.
Inzwischen ist Lugano auf den drittletzten (!) Platz abgerutscht. Die Reserve auf die Playouts beträgt nur noch einen Punkt. Das «Grande Lugano» in den Playouts? Wir sollten das Undenkbare denken.
Eigentlich möchte ja Lugano eine «Opera Seria» des Hockeys sein. Deshalb ist immer und immer wieder der Trainer ausgewechselt worden. Zuletzt musste gar der grosse Chris McSorley gehen. Weil auch er kein «Hockey Seria», kein taktisch ernsthaftes Hockey durchzusetzen vermochte.
Nun versucht es Luca Gianinazzi. Ein aussergewöhnlicher Trainer. Erst 30 Jahre alt. Der jüngste der Liga. Kultiviert, klug und kompetent. Er ist im HC Lugano gross geworden und kennt die DNA des Unternehmens. Die Hoffnung ist berechtigt, er möge Luganos Antwort auf Ambris berühmten Luca Cereda werden. Aber es gibt ein Problem: Seine Spieler machen, was sie wollen. Vielleicht ist er zu kultiviert für eine Führungsposition in diesem rauen Spiel. Er mahnt eher an den Zengärtner im Teegarten auf dem Monte Verita als an einen Bandengeneral.
Es gibt nämlich noch eine Szene, die uns den HC Lugano erklärt. Neben dem Eis. Nach der bitteren Niederlage in Langnau. Eine gute Viertelstunde lang bleibt die Kabinentüre zu. Luca Gianinazzi redet seinen Spielern ins Gewissen. Der Chronist erlaubt sich die Bosheit, zu behaupten: Was er hinter verschlossener Türe im Ilfis-Tempel sagt, geht bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus. Göschenen-Airolo.
Das ist nicht Luca Gianinazzis Fehler. Luganos Trainer ist machtlos, weil ungenügende Leistungen einfach keine Konsequenzen haben. Als er seine Kabinenpredigt gehalten hat, wird er im Kabinengang gefragt, ob er den Mut habe, Mark Arcobello mal auf die Tribüne zu setzen. Er fragt freundlich, warum er das denn tun sollte? Um ein Zeichen zu setzen! Um klar und deutlich zu zeigen, dass ungenügende Leistungen Konsequenzen nach sich ziehen.
Von solchen autoritären Erziehungsmethoden will Luganos Trainer nichts wissen. Vielleicht auch, weil er klug ist und ahnt, dass Mark Arcobello das Ohr der Präsidentin, des Geschäftsführers und des Sportchefs hat. Er sagt, Eishockey sei ein Mannschaftssport. Es gehe darum, gemeinsam eine Identität zu entwickeln. Mark Arcobello mag er nicht kritisieren. «Er ist zwar nicht so produktiv, wie viele erwarten. Aber er leistet wertvolle Defensivarbeit.» Einer, der die kleinen, wichtigen Dinge richtig mache. Eigentlich so, wie es sich für den Captain gehört.
Ist das so? Keine Polemik. Nur ein Blick in die Statistik. Mark Arcobellos Bilanz beim 4:6 in Langnau: minus 2, 0 Tore, 0 Assists. Hat er einfach einen schlechten Abend eingezogen? Nein. Seine Bilanz (minus 9!) ist die drittschlechteste Saisonbilanz aller Lugano-Spieler. Mark Arcobello leistet also Defensivarbeit? Das ist ein Witz.
Der Captain tanzt seinem Trainer und seinen Mitspielern auf der Nase herum. Warum auch nicht? Im Alter von 34 Jahren ist er mit einem Rentenvertrag bis 2025 gut versorgt.
Eigentlich ist es ganz einfach: Wenn der Trainer solche Leistungen seines Captains akzeptiert (oder akzeptieren muss), dann ist er verloren. Dann nimmt ihn keiner mehr ernst.
Am Dienstag kommt Ambri zum Derby nach Lugano. Ein Sieg genügt, um alle im Klub für ein paar Tage glücklich zu machen. Eine Niederlage wäre auch nicht so schlimm. Die Sonne scheint im Tessin trotzdem, die Blätter der Palmen bewegen sich sanft im Wind, der vom See her weht, das Salär wird pünktlich überwiesen, das Leben ist doch schön. Was sind denn schon ein paar verlorene Hockeyspiele im Vergleich zu allem, was heute in der Welt passiert? Eben. Hockey ist auch ein Schauspiel. Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer – auch wenn es die gegnerischen sind – bestens unterhalten wie soeben in Langnau, dann ist doch der Zweck erfüllt wie bei einer «Opera Buffa». Oder?
So ist es: Als «Opera Buffa» ist der HC Lugano im Zustand dieser Saison eine wunderbare Bereicherung des Unterhaltungswertes unserer höchsten Liga.