Dieses Tor wird Leonardo Genoni nie mehr vergessen können. Ihm, dem Perfektionisten, wird diese Szene noch hundertmal durch den Kopf gehen. Sie wird ihn in seinen Träumen heimsuchen. Und er wird mit sich selbst hadern. Im Sinne: Hätte ich diesen Puck halten, dieses Tor verhindern können?
Es ist der letzte, der allerletzte Versuch der Kanadier in der regulären Spielzeit. Exakt 0,4 Sekunden vor Schluss rutscht der Puck – abgeprallt von Leonardo Genoni – zum 2:2 über die Linie. Verlängerung. Später Niederlage. Hätten die Schweiz der Welt nicht so präzise Uhren beschert, wären wir jetzt im Halbfinale. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte.
Hätte Leonardo Genoni so ein Tor wie dieses 2:2 während eines Qualifikationsspiels gegen die Lakers oder gegen Langnau kassiert, dann würden Kritiker monieren: nicht unhaltbar.
Aber so ein Urteil wäre bei diesem Tor der Kanadier so respektlos wie wenn wir Albert Einstein vorhalten würden, er habe sich einmal beim Bezahlen seines Mittagessens in der Kantine des Patentamtes Bern (wo er tatsächlich arbeitete) verrechnet.
Leonardo Genoni hatte bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 96 Prozent der Schüsse abgewehrt. Eine grössere nervliche Anspannung als in den letzten Sekunden dieser Partie gegen Kanada ist im Sport gar nicht möglich.
Wenn in so einer Situation ein Mensch ein Stück Hartgummi, das mit mehr als 100 km/h auf ihn zurast, nicht abzuwehren vermag, so ist er von aller Schuld freizusprechen. Wahrlich, wahrlich, wahrlich ein Schelm, wer auch nur an das Wort «Lottergoalie» denkt. Und auch noch Schande über alle, die so etwas denken.
Leonardo Genoni fehlten 0,4 Sekunden zur sportlichen Unsterblichkeit. 0,4 Sekunden haben aus einem strahlenden einen unglücklichen Helden gemacht.
Aber wenn die Enttäuschung einmal überwunden ist, wird Leonardo Genoni bald merken, dass ihn gerade dieses Drama ewigen Ruhm beschert. Das Publikum erinnert sich an die strahlenden Helden. Aber es erinnert sich noch viel länger an seine unglücklichen Helden. Sie berühren unsere Seele und Herz stärker.
Dürfen wir ein Spiel, das 40 raue Kerle und zwei Torhüter auf einer rutschigen Unterlage ausgetragen, aus Schweizer Sicht auf einen Mann, auf Leonardo Genoni reduzieren? Ja, das dürfen wir. Im Sinne einer Homage an diesen grandiosen Torhüter. Nicht als Kritik – da seien die Hockeygötter davor!
Die Schweizer reisen nun als unglückliche Helden dieser WM 2019 heim. Sie waren so gut wie vor einem Jahr, als sie bis ins Finale gegen Schweden kamen. Sie haben nicht versagt. Sie haben alles richtig gemacht. Sie sind nur nicht mit der Medaille belohnt worden, die sie verdient hätten.
Sie haben die Magie ihres Spiels im richtigen Moment wiedergefunden – aber dabei das Glück und das alles entscheidende Spiel verloren.
Bei der WM 2019 haben wir trotzdem das beinahe perfekte Turnier erlebt. So wie es nur die Grossen spielen. Und zu den Grossen gehören wir ja. Auch und erst recht nach dieser Niederlage.
Zuerst der sichere Gewinn der «B-WM» mit vier Siegen gegen die Kleinen (Italien, Lettland, Absteiger Österreich und Norwegen). Die Viertelfinals sind bereits gesichert.
Highlights: @MStoner61 was the OT hero for Canada, one of his two goals in the game for @HockeyCanada in a miraculous 3-2 comeback victory over @SwissIceHockey at #IIHFWorlds
— IIHF (@IIHFHockey) May 23, 2019
More game highlights >https://t.co/LZ0SQWyVuE pic.twitter.com/KYEFTab6BK
Nun drei Niederlagen gegen die, die auf unserem Niveau spielen (Schweden, Russland, Tschechien). Nun spielen die Resultate keine Rolle mehr. Es geht darum, das Spiel, das Powerplay, die Defensivorganisation zu justieren. Im spielerischen Maschinenraum alles zu revidieren und ölen. Die perfekte Linienkombination zusammenzustellen. Die Magie im Spiel zu finden. Das Teile eines weltmeisterlichen Puzzles so zusammenzusetzen, dass im Viertelfinale alles passt, funktioniert.
Das Justieren und Organisieren ist noch keine Kunst. Dazu sind alle gut ausgebildeten Coaches und ihre Assistenten auf diesem Niveau in der Lage.
Die ganz grosse Kunst ist es, die Magie des Spiels zu finden. Den Spielern die Selbstsicherheit und die Ruhe zu vermitteln, die erst grosse Erfolge möglich machen. Erst diese Magie macht es möglich, unter den Besten die Besten zu sein.
Diese Magie kann nur der Zeremonie-Meister der Emotionen finden. Der Cheftrainer. Genau das ist Patrick Fischer im entscheidenden Augenblick erneut gelungen. So wie 2018. Im Viertelfinale ist diese Magie wieder da. Das Powerplay funktioniert auf einmal. Aus den zwei ersten Strafen machen die Schweizer die zwei Tore zum 1:0 und 2:1. Sie münzen zwei von drei gegnerischen Ausschlüssen in Tore um.
Dieses Viertelfinaldrama von 2019 ist der Perfektion des Spiels der Schweizer geschuldet. Dem richtig von Nationaltrainer Patrick Fischer zusammengestellten und magistral vorbereiteten und gecoachten WM-Team. Verbandspräsident Michael Rindlisbacher möchte den 2020 nach der WM auslaufenden Vertrag so schnell wie möglich bis und mit der olympischen Saison 2022 verlängern. Damit die Saison 2019/20 mit der WM im eigenen Land nicht durch Spekulationen um die Zukunft des charismatischen Nationaltrainers gestört wird. Aber seine Verwaltungsratskollegen bremsen noch. Auch das ist wiederum eine andere Geschichte.
Kehren wir zum Spiel, zum Drama zurück: Ein paar Sekunden haben genügt, um der Welt zu zeigen, was die Qualität unseres Eishockeys ausmacht. Später werden 0,4 Sekunden die Schweizer um den Lohn für ihrer fabelhaften Leistungen bringen.
Es ist eine Szene, die wir für einen Werbefilm über unser Hockey verwenden können. Drei Sekunden vor der zweiten Pause trifft Nico Hischier im Powerplay zum 2:1. Fast, aber eben nur fast das Siegestor. Diesen Treffer haben der grösste (Nino Niederreiter/188 cm) und der kleinste Stürmer (Lino Martschini/165 cm) vorbereitet. Es ist die Zusammenarbeit zwischen einem Star in der NHL und einem Star aus der heimischen Liga. Das spricht für die Qualität der National League.
8 Sekunden vor der Sirene gelingt Nico Hischier dieses Tor zum 2:1! Noch 20 Minuten trennen die Nati gegen Kanada nun vom WM-Halbfinal-Einzug. #srfhockey pic.twitter.com/giP0fQBtlN
— SRF Sport (@srfsport) 23. Mai 2019
Die Art und Weise, wie sich Zugs Zauberzwerg furchtlos vor dem kanadischen Tor behauptet und die Scheibe direkt zu Nico Hischier weiterleitet – das ist aller höchste Hockeykunst, eine Kombination aus Mut, Spielintelligenz und Technik.
Das waren bei dieser WM 2019 die Qualitäten der Schweizer: Ruhe, Selbstvertrauen, Mut, Schlauheit, Technik und Tempo.
In der Schlussphase der regulären Spielzeit entreissen uns die Kanadier mit dem Mute der Verzweiflung den Sieg, zwingen das Glück und finden die Magie.
Glück und Pech sind im Sport die Argumente der Verlierer. Aber es gibt eben auch Ausnahmen von dieser Regel.
Wer 0,4 Sekunden vor Schluss das Halbfinale an einer WM verpasst, darf von Pech reden – und ist trotzdem ein Sieger.