Die Titanen waren das mächtigste und älteste Göttergeschlecht der griechischen Mythologie. Es soll zwölf davon gegeben haben. Das Wort, das wir für Riesen in Menschengestalt verwenden, bedeutet eigentlich «sich recken». Wehe also, wenn die Titanen sich recken. Sich erheben.
Der Ausdruck passt gut zum Eishockey, diesem Spiel der rauen Kerle. Für unser Hockey sind die Titanen in erster Linie die Spieler, die jedes Frühjahr aus Amerika herbeieilen, um den Schweizern bei der WM im Kampf gegen die Grossen beizustehen: Roman Josi, Yannick Weber, Nino Niederreiter, Sven Andrighetto, Nico Hischier, Kevin Fiala, Philipp Kuraschew und Vincent Praplan sind es in diesem Jahr.
Ohne diese titanische Hilfe aus Amerika vermögen wir die traditionellen Hockey-Grossmächte (Russland, Tschechien, USA, Kanada, Schweden und Finnland) noch nicht niederzuringen.
Die amerikanischen Titanen sind die Besten unserer Guten. Deshalb haben sie ja eine Chance in Übersee bekommen. Deshalb sind einige von ihnen zu Dollarmillionären geworden.
Zu sagen, die amerikanischen Titanen hätten uns hier in Bratislava in den drei Partien gegen die Grossen – 3:4 gegen Schweden, 0:3 gegen Russland, 4:5 gegen Tschechien – zu wenig geholfen, wäre eine billigen Polemik und eine Respektlosigkeit sondergleichen. Und käme der Wahrheit doch ziemlich nahe.
Sie haben – bis auf den glücklosen Praplan, der gegen Tschechien endlich auf die Tribune verbannt worden ist (da wartet nächste Saison viel Arbeit auf SCB-Trainer Kari Jalonen) – alles gegeben. Tapfer und leidenschaftlich gekämpft. Sie verdienen Lob und Aufmunterung. Nicht Kritik.
Roman Josi war ein wahrer Leitwolf. Gegen Tschechien gar ein charismatischer. Yannick Weber ein mutiger Verteidiger des helvetischen Territoriums. Das Genie von Nico Hischier und Kevin Fiala blitzte immer wieder auf. Die Kaltschnäuzigkeit von Sven Andrighetto auch. Und Nino Niederreiters Ankunft hat, obwohl wir wieder kein Powerplay-Tor gemacht haben, die erhoffte Wirkung gezeigt. Bei seinem ersten Einsatz gegen Tschechien hat er das Schweizer Spiel belebt und inspiriert.
Ja, beim Ausgleich zum 4:4 haben wir auf eindrücklichste Art und Weise gesehen, wozu die amerikanischen Titanen fähig sind. Die titanische Vorarbeit von Roman Josi, die Wucht von Nino Niederreiter haben noch einmal die Hoffnung auf den Sieg zurückgebracht. Wehe, wenn Titanen sich recken!
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Aber keiner unserer amerikanischen Titanen vermochte bisher einer der Väter des Sieges gegen einen Grossen zu werden und die Differenz zu unseren Gunsten zu machen. Auch Roman Josi nicht. In den drei Partien gegen Schweden, Russland und Tschechien sind den amerikanischen Titanen «nur» zwei Tore gelungen.
Es wäre nun eine Respektlosigkeit sondergleichen, nun auch noch jeden der zwölf Gegentreffer gegen die Grossen aufzuführen, bei denen mindestens einer unserer amerikanischen Titanen mitschuldig oder doch statistisch dabei waren (es sind 10). Schliesslich wagt es auch niemand, dem Dorfpfarrer vorzuhalten, wie oft er in der Beiz gejasst und dabei leise geflucht hat. Respekt, wem Respekt gebührt.
Warum vermochten die Titanen bisher nicht, die Differenz zu machen? Ganz einfach: Die Luft ist auf höchstem Niveau dünn. Wer am Ende einer langen, kräftezehrenden nicht in bester Bestform ist, kann bei der WM nicht mehr die Differenz machen.
Die verlorene Magie unserer amerikanischen Titanen zeigt uns auch, wie zerbrechlich das WM-Glück ganz oben ist.
Aber so schlimm ist das alles gar nicht. Die «gewöhnlichen» Spieler – also die, die nicht dem mächtigen Göttergeschlecht der Titanen angehören und die nicht im Himmel Amerikas, sondern als Helvetier auf der Erde des heimischen Hockeys wohnen – haben ihre Pflicht bei weitem erfüllt.
Ja, die Helvetier haben das Fundament gelegt, auf dem wir immerhin «B-Weltmeister» geworden und zum dritten Mal in vier WM-Turnieren die Viertelfinals erreicht haben.
Die Helvetier begeisterten gegen Tschechien. Wunderbar, wie Lino Martschini den Puck von hinter dem Tor präzis wie ein Laserstrahl auf den Stock des aufgerückten Verteidigers Lukas Frick gespielt hat – und Lukas Frick vollendete direkt zum 1:0. Und der nationale Vorkämpfer Tristan Scherwey hat gegen Tschechien gar zwei Tore erzielt.
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Das spricht für die Entwicklung unseres Hockeys, für das Niveau unserer Liga. So gesehen dürfen wir selbst dann, wenn wir im Viertelfinal scheitern sollten, sagen: wir haben hier in Bratislava ein grosses WM-Team gesehen. Es ist besser, viel besser als es die Resultate vermuten liessen. Und, das muss auch noch gesagt sein: die Schweizer haben gegen Tschechien ein grosses Spiel gezeigt und zum ersten Mal bei diesem Turnier einen Grossen mit 40:26 Torschüssen (!) dominiert. Im dramatischen Schlussdrittel gar mit 15:4 Torschüssen.
Bandengeneral Patrick Fischer verdient ein Lob für seinen Mut, beim Stande von 4:4 Torhüter Robert Mayer vom Eis zu holen durch einen sechsten Feldspieler zu ersetzen.
Zwar hätte auch ein Sieg mit einem Treffer Differenz die Schweiz in der Tabelle auch nicht mehr weiter nach oben gebracht (dafür hätte es einen Sieg mit zwei Toren Differenz gebraucht). Aber Patrick Fischer wollte den Sieg. Er wollte die Magie des Erfolges zurückhaben. Er wollte den Motivationsschub fürs Viertelfinale. Das ist die Siegermentalität, die er verlangt und die er vorlebt.
Es gehört zu den Besonderheiten einer WM, dass in einem Spiel alles ändern kann. Unsere amerikanischen Titanen können im Viertelfinale die Differenz machen. So wie bei der Szene, die zum 4:4 gegen Tschechien führte. Es war die letzte Szene des Ruhmes in den Gruppenspielen – und die Szene, die uns Hoffnung fürs Viertelfinale macht.
Allerdings brauchten sie dann den Rückhalt eines grossen Goalies. Weder Reto Berra (nach dem dritten Gegentreffer gegen Tschechien durch Robert Mayer ersetzt) noch Leonardo Genoni waren bisher grosse, magische, charismatische Torhüter.
Leonardo Genoni war ein bisschen grösser, magischer und charismatischer als Reto Berra. Deshalb wird er im Viertelfinale spielen.
So einfach ist Eishockey halt auch auf höchstem internationalem Niveau: jede noch so kluge Analyse endet mit dem Torhüter.