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Zugs «sowjetische Hockey-Grippe» und niemand bewirkt so viel wie «DiDo»

Jan Kovar, links, von Zug schiesst seinen ersten von zwei Penaltys gegen Torhueter Philip Wuethrich, rechts,von Bern im Penaltyschiessen beim Eishockey Meisterschaftsspiel der National League zwischen ...
Der Zuger Jan Kovar bei seinem ersten von zwei Penaltys gegen Torhüter Philip Wüthrich.Bild: keystone
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Zugs «sowjetische Hockey-Grippe» und niemand bewirkt so viel wie «DiDo»

Eine von mehreren Erkenntnissen aus einem unterhaltsamen, ja dramatischen Hockey-Abend im Oktober: Wenn Zug in den Playoffs auf den SC Bern treffen sollte, droht der Verlust des Meistertitels.
22.10.2022, 13:4922.10.2022, 14:25
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Zug besiegt den SC Bern nach Penaltys 3:2. Niemand wird sich bei der Meisterfeier im Frühjahr an diese Partie erinnern. Und doch ist es ein höchst kurzweiliger, ja dramatischer Hockeyabend, der uns ein paar Erkenntnisse liefert. Erstens: Die Zuger leiden an der «sowjetischen Hockey-Grippe». Sie haben schon erstaunlich viele Punkte, aber nicht ihre meisterliche DNA verloren. Zweitens: Chris DiDomenico ist nicht der beste, aber der wirkungsvollste Einzelspieler der Liga. Drittens: Philip Wüthrich kann der nächste Leonardo Genoni werden.

Wer gerne polemisiert, hätte guten Grund, gegen Zug Stimmung zu machen. Einfach in unschuldiger Manier auf die neutrale, sachliche Statistik verweisen. Zug, Meister 2022 und 2021, Qualifikationssieger 2022 und 2021, steckt in der Krise: Bloss Rang 9 und 43 Gegentore trotz zwei ausländischen Verteidigern. Nur Langnau, Ajoie und Kloten haben eine noch löchrigere Abwehr.

Das ist besonders beunruhigend. Weil ja Meisterschaften in der Defensive entschieden werden und Meistergoalie Leonardo Genoni zur Verfügung steht. Die Statistik liefert also die Farben für ein dramatisches Krisengemälde mit allen bekannten Zutaten: In der Komfortzone satt geworden oder der Trainer erreicht in seiner 5. Saison die Spieler nicht mehr.

Aber sagt die Statistik in diesem Fall die Wahrheit? Nein. Die Zuger beweisen gegen den SCB in einem schnellen, manchmal wilden Spiel, dass sie noch immer meisterlich sind, der Trainer noch lange nicht am Ende seines Lateins und Leonardo Genoni immer noch ein grosser Goalie ist. Für diese Erkenntnis genügen ein paar Minuten im Kabinengang nach dem Spiel.

Die Zuger haben den SCB im Griff. Sie führen zwar nur 1:0. Aber sie dominieren die Partie fast nach Belieben. 44:27 Torschüsse werden die Statistiker am Ende zusammenzählen. Da rutscht Leonardo Genoni kurz vor der zweiten Pause irgendwie, auf geradezu unerklärliche Art und Weise ein Puck durch. Eines der haltbarsten Tore seiner Karriere. Chris DiDomenico erfasst blitzschnell die Situation, trifft zum 1:1 und für seinen verzweifelten Versuch, das Unglück abzuwenden, kassiert Nico Gross auch gleich noch zwei Minuten. Das Powerplay nützt wiederum Chris DiDomenico zum 2:1. Mit einer einzigen Aktion hat Leonardo Genoni sein Team ins Chaos gestürzt. Zug wird zwar nach Penaltys noch 3:2 gewinnen. Aber nach dem 1:6 in Lugano erneut nicht das Punktemaximum.

Die Zuger feiern den Sieg nach dem Penaltyschiessen beim Eishockey Meisterschaftsspiel der National League zwischen dem EV Zug und dem SC Bern am Freitag, 21. Oktober 2022 in Zug. (KEYSTONE/Urs Flueel ...
Die Zuger feiern ihren Sieg.Bild: keystone

In der Regel steht ein Torhüter nach so einem Spiel den Chronisten nicht Red und Antwort. Er wird in Ruhe gelassen. Aber Leonardo Genoni ist eben ein grosser Goalie. Unaufgeregt erklärt er das Spektakel aus seiner Sicht, mit einem Hauch von Selbstironie. Nein, er wisse nicht, was bei dem ersten Gegentor passiert sei. Er müsse sich erst kundig machen. Und sagt, mit diesem ersten Gegentreffer sei seine Mannschaft durcheinandergeraten.

Keine Ausreden, keine Beschönigungen. Und dann sagt er schon fast beiläufig, er freue sich, dass es gelungen sei, das Spiel doch noch zu gewinnen. Und wiederholt später noch einmal, wie er sich über die Reaktion der Mannschaft und den Sieg freue. Und es ist ihm anzusehen, dass er das nicht einfach so sagt. Dass er sich wirklich darüber freut. Das ist ein zentraler Punkt: Auch nach mehr als 15 Jahren und 6 Titeln freut sich Leonardo Genoni über einen Sieg in einem Spiel, über das schon in ein paar Tagen niemand mehr reden wird. Diese Leidenschaft ist der Sauerstoff jeder grossen Karriere.

Trainer Dan Tangnes ist sowieso berühmt dafür, dass er nie die Contenance (= Gemütsruhe) verliert. Auch nach dieser aufregenden Partie mahnt er eher an einen freundlichen Yoga-Lehrer als an den Chef einer Gruppe junger Männer, die ihr Geld mit Spielen verdienen. Die er jeden Tag zur Ernsthaftigkeit und Konzentration ermahnen muss.

Diese Souveränität ist seine Stärke. Er hat sie nicht verloren, als seine Mannschaft im letzten Frühjahr im Final gegen die ZSC Lions 0:3 zurücklag und er verliert sie erst recht jetzt nicht, bei einem 9. Platz im Oktober, einem 1:6 in Lugano und einem vergebenen Punkt gegen den SCB.

Er erläutert, warum er nach diesem 1:6 nicht laut geworden sei und sagt etwas über die Wichtigkeit, solche Niederlagen wegzustecken und nach vorn zu schauen. Er spricht über die Führungsverantwortung, die jeder übernehmen müsse. Keine tiefschürfenden Erkenntnisse. Aber authentisch vorgetragen. Die wichtigste taktische Änderung nach dem 1:6 in Lugano: Er hat alle Linien neu formiert. Nach dem Spiel erklärt Lino Martschini die Wirkung dieser altbewährten Massnahme: «Der Trainer wollte, dass wir mehr untereinander kommunizieren. Wahrscheinlich hat es diesen Impuls gebraucht».

Die DNA eines Meisterteams ist das unerschütterliche Selbstvertrauen. Das Urvertrauen, mit jeder Situation fertig zu werden. Wenn der Meister im Oktober nur auf Rang 9 klassiert und defensiv zu oft nachlässig ist, kann die Ursache der Verlust dieser DNA sein. Nichts ist so schwierig, wie nach Jahren des Erfolges – Zug hat als erstes Team seit dem SC Bern (2016 und 2017) zweimal hintereinander die Meisterschaft gewonnen – eine Mannschaft in der Erfolgsspur zu halten.

Aber diese meisterliche DNA ist bei den Zugern intakt. Und doch haben sie eine Schwäche, die ihnen in den Playoffs gegen ein robustes Team zum Verhängnis werden kann: Die «sowjetische Hockey-Grippe».

So wie einst die Sowjets, so sind auch die Zuger spielerisch zu gut geworden: Die sowjetische Nationalmannschaft (1954 bis 1991) war spielerisch die beste der Hockey-Weltgeschichte: Schneller, disziplinierter und präziser ist nie Hockey gespielt worden. Ein Spiel, eingeübt in jahrelangem Training, das oft Drill war. Die Kanadier sprachen ehrfurchtsvoll von der «Big Red Machine», der grossen roten Maschine.

Im fünften Jahr unter Dan Tangnes spielt Zug an einem guten Abend so schnell und präzis wie kein anderes Team. Es ist «Puckbesitz-Hockey» auf höchstem Niveau. Die Hockeyantwort auf die grosse Zeit des FC Barcelona. So war es fast zwei Drittel lang gegen den SCB: Die Berner liefen dem Puck und ihren Gegenspielern meistens hinterher.

Die Sowjets haben in ihrer besten Phase (1963 bis 1975) 12 von 13 WM-Titeln gewonnen. Sie waren in jeder Beziehung besser als ihre Gegner und doch nicht unbesiegbar. Ihre Überlegenheit verführte sie hin und wieder dazu, es mit der spielerischen Herrlichkeit, mit der Suche nach dem noch perfekteren Spielzug zu übertreiben und den Pass dem Abschluss vorzuziehen. Die raue Einfachheit, die Wucht des direkten Zuges aufs gegnerische Tor ging verloren. Das ist die «sowjetische Hockey-Grippe», die auch den Zugern zu schaffen macht. Dazu gibt es sogar eine Statistik. Sozusagen den Fiebermesser für die «sowjetische Grippe»: Obwohl die Zuger an einem guten Abend nahezu perfektes «Puckbesitz-Hockey» spielen, haben sie bei Weitem nicht die höchste Anzahl Torschüsse: Sie liegen in dieser Statistik mit 404 Abschlussversuchen bloss auf Rang 7. Auf Platz 1 der SCB mit 498 Pucks auf die gegnerischen Goalies.

Womit wir beim Thema sind: Der SCB erwacht mehr und mehr aus seiner sportlichen Agonie. Zwar werden die Berner immer und immer wieder um die Früchte ihrer Anstrengungen gebracht: Sie mussten in 13 Partien schon acht Mal (!) in die Verlängerung oder in die Penalty-Entscheidung. Einmal mehr zeigt sich der intakte Kern der Mannschaft. Es fehlt halt ein wenig an der Führung an der Bande. Aber die DNA des SCB-Spiels ist an einem guten Abend wie soeben in Zug endlich wiederzuerkennen: Wucht, Kraft, Geradlinigkeit – und dazu die Prise Unberechenbarkeit und die Emotionen, die Chris «DiDo» DiDomenico ins Spiel bringt.

Fribourg's Top scorer Chris DiDomenico during the preliminary round game of the National League Swiss Championship between HC Lugano and HC Fribourg-Gotteron at the Corner Arena in Lugano, on Sat ...
Chris «DiDo» DiDomenicoBild: keystone

Der Kanadier ist der perfekte Ausländer für den SCB: Seine Spielintelligenz und Unberechenbarkeit, unterfüttert mit einer starken Persönlichkeit, sind in einem Schablonensystem mit einem Trainer ohne Charisma von unbezahlbarem Wert. Mit der meisten Eiszeit von allen National-League-Stürmern scheint seine Energie schier unerschöpflich. Seine Leidenschaft bringt die Emotionen ins Spiel, die dem SCB neues Leben eingehaucht haben. In Zug hat der SCB-Topskorer beide Treffer erzielt und bei der Penalty-Ausmarchung scheitert er um Millimeter. Oder doch Zentimetern. Kein anderer Einzelspieler der Liga hat durch seine spielerischen Qualitäten, seine Persönlichkeit und sein sonstiges Wirken und Wesen einen so starken Einfluss auf seine Mannschaft.

Aber am meisten treibt die Berner die Frage um, ob Philip Wüthrich der nächste Leonardo Genoni werden kann. In Zug hat er 95,45 Prozent der Schüsse gehalten. Leonardo Genoni «nur» 92,59 Prozent. Er spielte mit der unerschütterlichen Ruhe grosser Goalies. Das ist zwar nur eine Momentaufnahme. Aber in einem Spiel gegen den Meister von 2021 und 2022, der darauf brannte, eine Antwort auf das 1:6 in der vorangegangenen Partie zu geben. Für einen Abend war Philip Wüthrich in Zug der neue Leonardo Genoni. Aber es ist, natürlich, in dieser Saison noch nicht aller Spieltage Abend.

Vieles spricht dafür, dass der SCB in den Playoffs der gefährlichste Gegner für die Zuger wäre. Dass das Zusammentreffen dieser beiden Teams im besten Wortsinn ein «Clash of the Titans» wäre. Ein Drama sondergleichen, das für Zug mit dem Verlust des Meistertitels enden könnte.

Wäre und könnte, weil wir ja nicht wissen, ob es zu einer Playoffserie zwischen den Meisterteams von 2016, 2017, 2019, 2021 und 2022 kommen wird. Und auch nicht, wer gewinnen würde.

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quelle: keystone / ennio leanza
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28 Kommentare
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AgentNAVI
22.10.2022 14:32registriert März 2018
"Kein anderer Einzelspieler der Liga hat durch seine spielerischen Qualitäten, seine Persönlichkeit und sein sonstiges Wirken und Wesen einen so starken Einfluss auf seine Mannschaft."

Und Cervenka spielt Golf?
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Playoffbart
22.10.2022 14:19registriert Oktober 2015
Bei allem Respekt für die "Wucht, Kraft, Geradlinigkeit" des SCB. Aber der gefährlichste Gegner für die Zuger in den Playoffs sind eher die ZSC Lions oder Genf. Auch die haben Wucht, Kraft & Geradlinigkeit. Aber dazu noch so viel spielerische Klasse, dass sie ihre(n) besten Stürmer nicht schon der Quali dermassen forcieren müssen wie der SCB.
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parakalo
22.10.2022 14:31registriert Dezember 2014
Die Zuger haben eine Zauggsche Weisheit verinnerlicht: wenn die Blätter von den Bäumen fallen, ist noch keine Meisterschaft entschieden (der genaue Wortlaut ist mir entfallen - sinngemässe Ausführung).
Entscheidend ist die Form im Frühling, wenn die Blätter an den Bäumen wieder spriessen.
Und dass irgendwann der EV Zug entthront wird, ist mir vollends bewusst. Wäre keine Schande, auch nicht gegen einen wiedererstarkten SCB.
Schöne Hinicht…
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