Heute unvorstellbar. Die Russen sind da. Im Herzen Europas. Im goldenen Prag. Ihre Präsenz ist bei den Spielen in der alten Sportovní Hala unübersehbar: Ein Tribünen-Sektor ist für KGB-Mitarbeiter reserviert. Zumindest flüstern die Menschen dem Gast aus dem Westen zu, diese Herren, fast alle in Ledermänteln, seien vom russischen Geheimdienst.
Die Botschaft durch ihre drohende Präsenz ist wohl beabsichtigt: Ruhe im Stadion. Wir sehen und hören alles. Kein Protest gegen das sowjetische Nationalteam.
Eine Eishockey-WM ist 1985 hochpolitisch. Auf dem Eis wird ausgetragen, was sonst unterdrückt wird: der Aufstand gegen die Russen. Dr. Ludek Bukac, Doktor der Philosophie, hat das tschechoslowakische Team generalstabsmässig vorbereitet und die von Dr. Vladimir Kostka erfundene Taktik des «falschen Flügels» zur Perfektion entwickelt: Bei gegnerischem Scheibenbesitz wird einer der beiden Flügelstürmer automatisch zum Verteidiger umfunktioniert.
Gibt es eine andere Stadt als Prag, die trotz ihrer dramatischen, ja blutigen Geschichte ihre stille Heiterkeit nicht verloren hat? Wahrscheinlich nicht. Das Grundwasser der Stadt sei mit Blut getränkt, hat irgendjemand einmal gesagt. Das ist düster. Und doch: Prags Geschichte ist seit dem 15. Jahrhundert, seit dem ersten Prager Fenstersturz, auch eine der Gewalt. Ja, Prag hatte im 20. Jahrhundert gar die deutsche und die russische Besatzung – sozusagen Hitler und Stalin – zu erdulden.
Hockey ist während des Kalten Krieges die einzige Möglichkeit zum Aufstand gegen die Russen. Bestens geeignet zur Rebellion, weil Hockey seit 1954 auch das Spiel der Russen ist. Sie werden bei ihrer ersten WM-Teilnahme gleich Weltmeister.
Der 1983 geänderte Modus spielt den Tschechoslowaken (erst seit dem 1. Januar 1993 gibt es Tschechien und die Slowakei) in die Karten. Um die erdrückende Dominanz der Sowjets in der nur acht Teams umfassenden WM zu brechen, beginnt nach der Vorrunde (7 Spiele) eine Finalrunde (3 Spiele) der besten vier Teams mit null Punkten.
Wenn das einheimische Team mit Polizeieskorte von seinem Quartier gut 15 Kilometer vor der Stadt zum Training oder zum Spiel fährt, säumen immer mehr Menschen die Strassen. Die Sowjets dominieren nach Belieben. Auch die Tschechoslowakei (CSSR) ist in der Vorrunde völlig chancenlos und verliert 1:5.
Die Sowjets gewinnen alle sieben Vorrundenpartien mit einem Torverhältnis von 52:8. Die CSSR schafft mit Platz 4 gerade noch den Einzug in die Finalrunde. Mit 30:16 Toren. Die 1:5-Pleite gegen die Sowjets hatte Dr. Bukac aber einkalkuliert. Er weiss: Diesen übermächtigen Gegner kann er nur einmal bezwingen. Also konzentriert er sich auf die Auseinandersetzung in der Finalrunde.
Der 29. April 1985 beschert der Eishockey-Geschichte ein «Hühnerhaut-Erlebnis». Wer dabei ist, wird den Tag nie mehr vergessen. Die CSSR besiegt die UdSSR zum Finalrundenauftakt 2:1. Nach der Schlusssirene singen 14'000 Menschen aus tiefster Seele die tschechoslowakische Hymne. Sie beginnt melancholisch mit dem tschechischen Teil («Wo ist meine Heimat?») und endet mit dem stürmischen slowakischen Finale («Über der hohen Tatra blitzt es, Donner schlagen wild.»)
Stehend und mit steinerner Miene hören die KGB-Russen in ihrem Sitzplatzsektor zu. Nie vorher und nie nachher habe ich eine nur annähernd so inbrünstig gesungene Nationalhymne gehört.
Noch sind die Erinnerrungen an den Prager Aufstand von 1968 wach. Singen im Stadion wird geduldet. Kann ja nicht verhindert werden. Aber feiern auf den Strassen ist nicht erlaubt.
Im Mai 1969 hatten Tausende von Menschen auf dem Wenzelsplatz einen WM-Sieg über die Sowjets bejubelt. Der sowjetische Geheimdienst liess die Schaufenster der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot einschlagen. Der perfekte Vorwand im Nachgang zum Aufstand von 1968 zu noch härteren Massnahmen und einer – wie es offiziell hiess – «Normalisierung». Zu dieser «Normalisierung» gehörte, dass nicht mehr gefeiert, getrunken und getanzt werden durfte, wenn die Russen im Hockey gebodigt werden. So ist es 1985 immer noch Gesetz und Brauch.
Und so kommt es, dass die Stadt fast gespenstisch ruhig wirkt, als wir das Stadion nach dem historischen 2:1-Sieg der Tschechoslowakei verlassen. Stilles, stolzes Prag. Laut sind in den Strassen nur die deutschen Fans. Siege dürfen von den Gästen aus dem kapitalistischen Westen gefeiert werden. Noch gibt es die DDR und die BRD. Eine Reise nach Prag ist für die DDR-Staatsangehörigen möglich. Also reisen sie nach Prag. Und unterstützen nicht das Team der DDR (das absteigt), sondern die westdeutschen Brüder aus der BRD. Die Bundesrepublik schafft den Klassenerhalt durch ein 4:1 gegen die DDR.
Die Konstellation ist am letzten Tag des Turniers so, dass der Sieger der letzten Finalrundenpartie Weltmeister wird. Die Tschechoslowakei gegen Kanada. Nein, die Stadt vibriert nicht. Die Sowjets sind als Titelverteidiger entthront. Da gibt es wahrlich nichts zu feiern.
In den offiziellen Sportnachrichten vom 2. Mai 1985, dem Tag, an dem die CSSR Weltmeister werden kann, wird nicht über die sportliche Ausgangslage berichtet. Sondern über viel Wichtigeres: «Die Teilnehmer der Eishockey-Weltmeisterschaft haben den Jahrestag des nationalen Befreiungskampfes des tschechoslowakischen Volkes geehrt. Sie legten Kränze am Sarkophag von Arbeiterpräsident Gottwald und rote Nelken im Gedenksaal der Roten Armee in der Nationalgedenkstätte in Vítkov nieder. Von dort aus reisten sie weiter auf den Friedhof Olšany, wo sie Kränze an den Gräbern sowjetischer Helden niederlegten.»
Die CSSR gewinnt gegen Kanada 5:3 und wird Weltmeister. Bei den Kanadiern hat Mario Lemieux seine einzige WM bestritten. Den 20-jährigen Stürmer kennt noch kaum jemand. Er ist scheu, aber er plaudert im Kabinengang freundlich mit dem Chronisten. Später wird er einer der besten Spieler der NHL-Geschichte. Wäre er weniger von Verletzungen und Krankheit geplagt worden, hätte er vielleicht Wayne Gretzkys Rekorde gefährden können.
Im Frühjahr 1985 ist es unvorstellbar, dass der Kommunismus nur vier Jahre später am Ende sein wird. Undenkbar, dass die Russen freiwillig abreisen. Ohne einen Schuss abzugeben. Aber auch ausserhalb jeder Vorstellungskraft, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommen könnte. Russen und Ukrainer sind ja in der gleichen Nation (Sowjetunion/UdSSR) brüderlich vereint. Und ebenso absurd der Gedanke, die Russen könnten von der Eishockey-WM ausgeschlossen werden.
Im gleichen Jahr verpasst die Schweiz in Freiburg bei der B-WM 1985 den Wiederaufstieg in die damals acht Teams umfassende A-WM im letzten Spiel durch eine 2:6-Niederlage gegen Holland.
Unvorstellbar, dass die Schweiz nicht nur Stammgast einer auf 16 Teams aufgestockten höchsten WM-Klasse ist. Sondern auch gegen jeden Gegner auf Augenhöhe spielt und sogar gegen Russland gewinnt. Geradezu absurd der Gedanke, die Schweizer könnten bei einer WM kritisiert werden, weil sie es nicht unter die ersten vier schaffen.
In Freiburg steht inzwischen ein neues Stadion. Aber sonst hat sich eigentlich nicht viel verändert. Gottéron kann immer noch nicht Meister werden.
In Prag ist der Mief der sozialistischen Schäbigkeit 1985 weniger sichtbar als in anderen Städten des Ostblockes. Prag ist auch unter sowjetischer Besatzung eine stolze, faszinierende Stadt, die sich in den eisigen Zeiten des Kalten Krieges «verpuppt» zu haben scheint, um still und geduldig auf andere Zeiten zu warten, um wieder zu fliegen wie ein Schmetterling.
Der Glaube an andere Zeiten ist nie verloren gegangen. Für den Besucher aus dem Westen hat diese Zeit auch einen besonderen Reiz. Offiziell gibt es für 100 Franken 200 Kronen. Schwarz wird überall gewechselt: mindestens 2000 Kronen für 100 Franken. Mit guten Beziehungen – und die lassen sich übers Eishockey vortrefflich knüpfen – ist ein Leben wie Gott in Prag möglich.
2024 ist Prag längst wieder die wahre goldene Stadt. Schön wie vielleicht nie mehr seit den Zeiten der Zugehörigkeit zum Reich von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Sissi. Die wilden Übertreibungen der ersten Jahre des Kapitalismus sind schon lange vorüber und vergessen. Gewichen einem Charme, einem Schalk und einer Freundlichkeit, die Prag unter allen Städten der Welt einmalig macht. Auch 2024 ist es möglich, in Prag zu leben wie Gott. Es ist nur etwas teurer geworden.