Ambri – ratlos im Niemandsland zwischen Leidenschaft und Resignation
Eine Legende sagt, dass in schwierigen Zeiten zwischen Herbst und Februar Meisterteams geformt werden. Das mag sein. Im Januar 2019 waren die St. Louis Blues das schwächste aller NHL-Teams. Anschliessend gewannen sie ihren bisher einzigen Stanley Cup.
Schenken wir der Legende vom schwierigen Herbst, der grosse Teams formt, Glauben, dann wird in der Leventina gerade eine grosse Mannschaft geschmiedet. Ambri hat nach dem Startsieg gegen Kloten (2:1) achtmal hintereinander verloren und ist auf den letzten Platz zurückgefallen. Ambri hat auf eigenem Eis diese Saison erst 8 Sekunden lang geführt: vom 2:1 gegen Kloten nach 59:52 Minuten bis zum Schlusspfiff. Und seither reiht sich Niederlage an Niederlage.
2:3 in Langnau. 0:3 gegen Lausanne. 1:3 in Bern. 2:5 gegen die ZSC Lions. 2:3 n.P. in Biel. 4:5 in Genf. 0:4 gegen Zug. 1:3 in Fribourg.
Ambri steckt in der grössten Krise seit unter Sportchef Paolo Duca (44) und Trainer Luca Cereda (44) im Sommer 2017 eine neue Zeitrechnung begonnen hat. «Das ist so», bestätigt Paolo Duca.
Das ist umso dramatischer, weil Ambri in den letzten Jahren meistens ein wenig ein «Herbstmeister» war, Punkte holte, solange noch Blätter in den Kastanienbäumen waren und so recht gut durch die Saison kam. Vor einem Jahr resultierten aus den ersten elf Spielen acht Siege. Paolo Duca sagt, eigentlich habe man auch diese Saison bei der Vorbereitung auf eine Frühform hingearbeitet.
Was ist passiert? Was ist los? Was ist zu tun? Ein gewöhnlicher Sportchef hätte einen gewöhnlichen Trainer längst gefeuert. Aber Ambri hat keinen gewöhnlichen Sportchef und keinen gewöhnlichen Trainer. Luca Cereda und Paolo Duca haben soeben ihre 9. Saison begonnen. In den neun Jahren bevor Luca Cereda Bandengeneral geworden ist, kamen und gingen in Ambri sieben Trainer. Also müsste ein Trainerwechsel so alltäglich sein wie die Eisreinigung im Stadion. Aber keiner war einer von Ambri. Sie kamen alle aus Nordamerika und ihre Sprache war Englisch oder Französisch. Sie waren bloss hier, um Geld zu verdienen. Also berührte ihre Entlassung Ambris Seele nicht.
Aber jetzt ist alles anders. Um es poetisch zu formulieren: Sportchef Paolo Duca und Trainer Luca Cereda leben, atmen, trinken und essen Ambri. Sie sind ein Teil der DNA, der Seele dieser Hockey-Institution. Das macht beide eigentlich «unentlassbar».
Die bange Frage ist daher nicht, ob Ambris Sportchef seinen Trainer feuert. Das wird er nie tun. Beide haben 2017 gemeinsam dieses Abenteuer begonnen und beide sind so lange im Amt wie noch keiner ihrer Vorgänger. Wir können davon ausgehen, dass sie dieses Abenteuer zu einem Zeitpunkt, den noch nicht einmal die Hockey-Götter wissen, gemeinsam beenden werden. Selbst Präsident Filippo Lombardi, seit 2009 im Amt, wird es nicht wagen, den Sportchef, den Trainer oder alle beide zu entlassen.
Das will etwas heissen. Denn der flamboyante grosse Vorsitzende ist in seinem Selbstverständnis der Louis XIV («Sonnenkönig») der Leventina, ja der Südschweiz, mit einem ganz ähnlichen Selbstverständnis wie der berühmte französische König («Ambri, c'est moi»). In den acht Jahren von seinem Amtsantritt bis zur Anstellung von Paolo Duca und Luca Cereda hat er fünf Trainer gefeuert und drei verschiedene Sportchefs beschäftigt.
Die bange Frage ist also nicht, ob der Trainer oder der Sportchef oder alle beide bald gehen müssen. Sondern: Geben Paolo Duca und Luca Cereda auf? Werfen sie das Handtuch? Diese Frage ist keineswegs eine polemische. Im Frühjahr 2023 haben beide offen mit Filippo Lombardi über einen möglichen Rücktritt gesprochen. Nach einem herrlichen gemeinsamen Skitag in Airolo haben dann beide mit neuem Mut beschlossen, weiterzumachen.
Gestern sind Paolo Duca und Luca Cereda früh gemeinsam mit dem Auto hinauf nach Ambri gefahren (sie wohnen im Südtessin). Um mit dem Staff zu beraten, was zu tun ist (Krisensitzung). Ist Ambri in Not, wird auch an einem freien Sonntag gearbeitet. Nach 17 Uhr sind sie wieder talwärts nach Hause gefahren.
Um es mit boshafter Poesie zu formulieren: Ihre Karriere an einem einzigen Sonntag zusammengefasst: Gemeinsam sind sie hoch hinaufgefahren und haben Ambri den emotional grössten Triumph (Spengler Cup 2022) der Geschichte beschert und gemeinsam geht es jetzt in der bisher grössten Krise bergab. Aber aufgeben?
«Nein, das kommt nicht in Frage», sagt Paolo Duca am Hosentelefon auf der Fahrt heimwärts nach der gestrigen Krisensitzung. Und neben ihm sitzt Luca Cereda im Auto und bestätigt:
Für Ambri gilt seit Anbeginn der Zeiten: Non molliamo mai.
Aber eben: Was ist zu tun? Wer ist verantwortlich? Der Trainer? Natürlich trägt er die Verantwortung. Aber es gibt keine Anzeichen einer Entfremdung zwischen Chef und Spielern. An der taktischen Schulung gibt es wenig auszusetzen. Der klassische Vorwurf «kein System» ist haltlos. Und er kann auch nichts dafür, dass Dario Bürgler nicht jünger, André Heim nicht schneller und Inti Pestoni nicht flinker werden.
Und der Sportdirektor? Er hat eigentlich alles richtig gemacht. Mit Philip Wüthrich holte er einen zweiten Schweizer Goalie neben Gilles Senn, um alle Ausländerlizenzen für Feldspieler einsetzen zu können. Sieben hat er in Lohn und Brot. Theoretisch – was sich auf Grund ihrer Vergangenheit und ihren Referenzen abklären lässt – müssten sie eigentlich die zentrale Rolle einnehmen können, die ausländische Arbeitnehmer in Ambri spielen müssen.
Die Verteidiger Tim Heed und Jesse Virtanen stehen in ihrer vierten Saison. Chris DiDomenico war letzte Saison ein leidenschaftlicher Leitwolf. Michael Joly kommt aus Lugano, wo er gut genug war für einen Punkt pro Spiel und trotzdem den Laufpass bekam. Er müsste eigentlich doppelt und dreifach motiviert sein. Alex Formenton war ein Held im Spengler Cup-Siegerteam. Nicolas Petan hat letzte Saison in der KHL fast einen Punkt pro Spiel gebucht und Chris Tierney hat sich in über 650 NHL-Partien bewährt.
Was ist trotzdem schiefgelaufen? Glanz und Elend dieser Saison lassen sich auf die eine Partie vom letzten Freitag gegen Zug reduzieren: Ein leidenschaftliches Ambri erarbeitet sich gegen einen der Titanen der Liga ein Chancenplus. Wenn Michael Joly allein vor Leonardo Genoni um die Mitte der Partie zum 1:0 getroffen hätte, wäre ein Sieg möglich und wahrscheinlich gewesen. Der Kanadier scheiterte. Nach dem 0:1 durch Lino Martschini kehrte Resignation ein. Ambri blieb im Niemandsland zwischen Leidenschaft und Resignation stecken. In diesem Spiel und in der ganzen bisherigen Saison.
Der Untergang gegen Zug begann mit Michael Jolys Versagen. Und damit sind wir beim Thema. Fünf bisher eingesetzte ausländische Stürmer haben ein einziges Tor erzielt. Drei Treffer steuerten die beiden ausländischen Verteidiger bei. Schlimmer noch: Alle Ausländer haben eine negative Plus/Minus-Bilanz. Nicolas Petan und Tim Heed sogar die schlimmste des ganzen Teams (-9). Alles klar. Sage mir, wie es Ambris Ausländer geht und ich sage Dir, wie es um Ambri steht.
Geld, um neues Personal im Ausland zu rekrutieren, hat Paolo Duca nicht. Und überhaupt: Wenn jetzt ein ausländischer Stürmer zu haben ist, dann dürfte der Grund für seine Verfügbarkeit nicht eine grandiose Leistung bei seinem letzten Arbeitgeber sein. Was ist zu tun? Paolo Duca bringt es auf den Punkt:
Es ist in der Not der Sammelbegriff für die Besinnung auf die einfachen, berechenbaren Elemente in einem unberechenbaren Spiel auf rutschiger Unterlage: Geradlinigkeit, Effizienz, Disziplin, Entschlossenheit, Mut.
Das Eishockey kennt den Begriff des «Befreiungsschlages». Der Puck wird aus der eigenen Zone bis ans andere Ende spediert, um sich in einer Druckphase etwas Luft zu verschaffen.
So ein «Befreiungsschlag» ist im nächsten Spiel möglich. Ein Sieg am Dienstag beim Derby in Lugano würde alle Kritik in Psalmen verwandeln. Mindestens bis zum erneuten Derby am 28. Oktober.
P.S. Die wichtigste Massnahme der St. Louis Blues auf dem Weg vom Liga-Schlusslicht zum Stanley Cup war die Entlassung des Trainers.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
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Er ist
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Er kann
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