Digitale Skepsis in einer digitalisierten Gesellschaft
Im Vorfeld der Volksabstimmung vom Sonntag galt es als ausgemacht, dass es bei der Eigenmietwert-Vorlage einen «Krimi» geben wird, während die Annahme der elektronischen Identität (E-ID) mehr oder weniger Formsache ist. Es kam komplett anders. Die Abschaffung des Eigenmietwerts stand früh fest, bei der E-ID hingegen blieb es bis zuletzt spannend.
Lange sah es so aus, als ob sie entgegen allen Umfragen abgelehnt werden könnte. Das deutliche Ja in den Städten verhalf der Vorlage quasi im Schlussspurt zum Durchbruch. Mit einer Zustimmung von 50,4 Prozent aber war es eine enge Kiste. Der zuständige Bundesrat Beat Jans kam bei seiner ersten Volksabstimmung mit einem tiefblauen Auge davon.
Gegenüber der ersten E-ID-Abstimmung vor viereinhalb Jahren war es dennoch ein klarer Fortschritt. Damals sagten fast zwei Drittel des Stimmvolks Nein, jetzt gab es immerhin ein knappes Ja. Denn die Hauptforderung des Nein-Lagers, eine rein staatliche E-ID, wurde erfüllt. Namhafte Gegner waren nun dafür, und im Parlament gab es kaum Opposition.
Zerstrittener Haufen
Die SVP wechselte bei der Parolenfassung zum Nein, betrieb aber keinen aktiven Abstimmungskampf, ausgenommen die Jungpartei und ihr umtriebiger Chef Nils Fiechter. Die Gegenseite bestand vorab aus einem heterogenen und zerstrittenen Haufen von Netzaktivisten und Staatskritikern. Schon bei der Unterschriftensammlung krachte es heftig.
Jetzt hätte dieses kuriose Bündnis fast einen Sensationserfolg erzielt. Sein Kampf geht weiter: Es hat beim Zürcher Regierungsrat Beschwerde gegen eine Spende der Swisscom von 30’000 Franken für die Ja-Kampagne eingereicht. Es ist ein Fall in der Grauzone: Die Swisscom gehört mehrheitlich dem Bund, ist aber auch ein börsenkotiertes Unternehmen.
Analoge Landbevölkerung
Gleichwohl stellt sich die Frage, warum es derart eng wurde. Die Mobilisierung auf dem Land wegen des Eigenmietwerts dürfte der E-ID geschadet haben, denn die ländliche Bevölkerung lebt tendenziell «analoger» als jene im urbanen Gebiet. Letztlich aber geht es um ein Misstrauen in doppelter Hinsicht: gegen den Staat und gegen die Digitalisierung.
Der Staat
Früher verhielten sich Menschen mit einer staatskritischen Einstellung eher passiv. Sie nahmen kaum am politischen Prozess teil. Das hat sich seit der Corona-Pandemie geändert. Deutlich wurde dies bei den drei Abstimmungen zum Covid-19-Gesetz. Es wurde jedes Mal angenommen, doch der Nein-Anteil war mit rund 40 Prozent überraschend hoch.
Seit der Rückkehr zur Normalität ist der Einfluss der «Schwurbler» geschwunden, aber die Skepsis gegen einen als übergriffig empfundenen Staat ist geblieben. Digitale Tools bieten sich als «Blitzableiter» an. Im Abstimmungskampf kursierten abstruse Vergleiche mit dem chinesischen Unterdrückungsstaat. Das ist zu viel der «Ehre» für die E-ID.
Ernsthafter sind die Bedenken gegen die Teilrevision der Verordnung zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (VÜPF). Sie wird auch von Befürwortern der E-ID bekämpft. Das knappe Ergebnis sollte dem Bund als Warnschuss dienen. Und die E-ID muss freiwillig bleiben. Staatliche Dienstleistungen müssen weiterhin analog angeboten werden.
Eine weitere Quelle des Misstrauens sind die Probleme bei staatlichen IT-Projekten. Die E-ID bietet dennoch mehr Chancen als Risiken, denn die Digitalisierung ist eine Tatsache, und die Schweiz hinkt in manchen Bereichen hinterher. Das gilt besonders für das Gesundheitswesen und das dysfunktionale elektronische Patientendossier (EPD).
Die Digitalisierung
Die digitale Welt hat aber unbestritten problematische Seiten. Gross ist die Skepsis etwa gegenüber den amerikanischen Tech-Giganten. Die SP fordert eine stärkere Regulierung von Online-Plattformen, doch der Bundesrat hat das Dossier zurückgestellt, um US-Präsident Donald Trump nicht zu verärgern. Mit solchen Signalen schafft man kein Vertrauen in der Bevölkerung.
Die rasante Entwicklung bei der Künstlichen Intelligenz sorgt ebenfalls für Verunsicherung. Die Szenarien gehen weit auseinander. Sie reichen von Beschwichtigungen über die Angst vor massiven Jobverlusten bis zu apokalyptischen Warnungen, laut denen hyperintelligente Maschinen die Menschheit entweder versklaven oder gleich ganz auslöschen könnten.
In den Umfragen und auch in der Tamedia-Nachbefragung zeigte sich, dass eine Mehrheit der Frauen gegen die E-ID war. Man kann den Wert solcher vorab online erhobener Umfragen gerade bei Digitalthemen hinterfragen (hier hat Nils Fiechter einen Punkt), aber es sind die Mütter, die immer noch den grössten Teil der Erziehungsarbeit leisten.
Sie sehen den oft fragwürdigen bis verheerenden Einfluss von Smartphones und Social Media auf ihre Kinder, etwa durch die Vermittlung bizarrer Schönheitsideale, und die Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit. Eine Folge davon sind die zunehmenden Debatten über Handyverbote an Schulen. Das lässt die Frauen nicht unbeeindruckt.
Das Misstrauen gegenüber der Digitalisierung ist somit nachvollziehbar. Wer jedoch die staatliche E-ID ablehnt und weiterhin sorglos seine Spuren im Cyberspace hinterlässt, verhält sich nicht glaubwürdig. Konsequent wäre es, sich auch privat zurückzuhalten und mehr bar zu bezahlen statt mit Plastikkarte oder, noch heikler, per Smartphone-App.
Man muss nicht paranoid werden, aber eine gewisse Skepsis gegenüber dem Digitalen ist angebracht. Dazu gehört etwa, dass man besser nicht ChatGPT oder Gemini fragt, wie man zu einer bestimmten Vorlage abstimmen soll. Man kann wichtige Informationen erhalten, aber die Meinungsbildung müssen wir schon selbst übernehmen.