Endlich! Seit Montag hat Silvan Widmer die Gewissheit: Ja, er fährt an die EM. Es ist das erste grosse Turnier, an dem der 28-Jährige teilnimmt. Und auch darum eine spezielle Geschichte, weil er 2016 und 2018 zweimal in allerletzter Sekunde den Sprung ins Kader verpasste.
Nun sitzt Widmer in Bad Ragaz in einem kleinen Zelt neben dem Schweizer Trainingsplatz, strahlt in die Kamera und sagt: «Ich bin glücklich und stolz. Ich habe mir diese Nominierung verdient.» Zittern um die Selektion musste der Aargauer indes nicht wirklich. Dafür hat er sich im letzten Jahr viel zu solide präsentiert. Gerade im Nati-Trikot.
Trotzdem, die anstehende EM könnte für FCB-Verteidiger Widmer zum Karriere-Highlight werden. Ganz sicher ist sie eine Genugtuung für ihn. Die Belohnung, dass er trotz der Rückschläge vor der EM in Frankreich und der WM in Russland nie aufhörte, weiterzukämpfen. Auf die Frage von CH Media, ob er einmal an den Nati-Rücktritt dachte, sagte er letzten Herbst:
Im Sommer 2018, also wenige Wochen nach der Enttäuschung, nicht an der WM in Russland dabei zu sein, entschliesst sich Widmer für einen Transfer zurück in die Schweiz, wechselt nach fünf Jahren bei Udinese Calcio zum FC Basel. «Es gab einige, die diesen Schritt nicht verstanden haben. Sich fragten: Warum wechselt ein 25-Jähriger zurück in die Super League? Für mich aber war es genau der richtige Schritt. Ich konnte seither viele Spiele machen, auch international.»
In der Tat. Widmer hat noch einmal grosse Fortschritte gemacht. Er ist gereift. Und abgeklärter geworden auf dem Platz. Er selbst hat das so beschrieben: «Ich spiele in jeder Phase gelassener. Früher hatte ich diese Ruhe noch nicht. Jetzt warte ich den richtigen Moment ab für meine Aktionen und versuche nicht einfach mal etwas und hoffe, dass es gut kommt.»
Die Frage ist nun: Welche Rolle wird Widmer an der EM übernehmen? Die Position als rechter Aussenverteidiger ist jene, die derzeit am meisten umkämpft ist in der Nati. Widmers Konkurrent heisst Kevin Mbabu. Der 26-Jährige vom VfL Wolfsburg hat sich mittlerweile in der Bundesliga durchgesetzt, kam zuletzt immer besser in Fahrt.
Widmer hat beim FC Basel eine Saison mit gemischten Gefühlen hinter sich. Der Start war gut. Dann wurde er durch Quarantänen, die Corona-Infektion und schliesslich auch noch von einer Verletzung gestoppt. Er sagt: «Die sportliche Bilanz mit dem FCB ist durchzogen. Es war enttäuschend, dass wir nicht europäisch spielten. Und dann YB rasch ziehen lassen mussten.» Sein Fazit ganz generell: «Man kann es nicht leugnen: Wenn man merkt, dass im ganzen Verein Unstimmigkeiten herrschen, dann hat das einen Einfluss aufs Team. Es gehört dazu, dass man dies ausblenden kann. Leider ist das nicht ganz gelungen.»
Wie sieht nun die Ausgangslage im Hinblick auf die EM aus? Widmer beschreibt sie so: «Kevin spielt derzeit in der Bundesliga auf einem höheren Niveau. Er hat viel Power und Dynamik nach vorne. Aber ich muss mich nicht verstecken, das habe ich durchaus schon bewiesen. Und ich hoffe, dass ich taktisch ein bisschen weiter bin als er. Auch die defensive Verlässlichkeit könnte für mich sprechen. Und vielleicht ist das dann entscheidend.» Die Verlässlichkeit spricht tatsächlich für Widmer. Mbabu hat in der Nati schon mehrfach Fehler begangen, die am Ursprung von entscheidenden Gegentoren standen.
Was klar ist: Von den vier Super-League-Spielern im Kader ist Widmer der einzige mit Chancen auf die Startelf. Eray Cömert (FCB), Becir Omeragic (FCZ) und Christian Fassnacht (YB) dürfen sich höchstens Hoffnungen auf Teileinsätze machen. Gut möglich, dass sich Widmer und Mbabu abwechseln. Die Kraftreserven könnten am Ende ein Vorteil sein. Schliesslich will die Nati ja auch nach der Gruppenphase gegen Wales, Italien und die Türkei noch im Turnier sein.