Im Leben eines Fussballtrainers gibt es schönere Momente als am Tag nach einer vernichtenden Niederlage Erklärungen zu liefern. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dieses 1:6 im WM-Achtelfinal gegen Portugal aufzuarbeiten, kommen auch noch Nebengeräusche hinzu. Für Nationaltrainer Murat Yakin ist also der Tatbestand der «Strafaufgabe» definitiv erfüllt.
Was ist hinter den Kulissen passiert? Als die TV-Kameras einmal ausgeschaltet waren, brach in den Tiefen des prächtigen Lusail-Stadions bei einigen Spielern der Frust über das soeben Erlebte heraus. Es ging um die Art und Weise dieser Niederlage, den lamentablen Auftritt, die fehlende Leidensbereitschaft. Doch über allem schwebte eine Frage: Was ist zu halten von Murat Yakins Entscheidung, auf eine Dreierkette zu setzen?
Es gibt zwei Dimensionen dieser Frage. Erstens, die inhaltliche. Jedem Sachverständigen wird schnell klar, dass eine 1:6-Niederlage nicht allein mit dem Spielsystem erklärt werden kann. Schon gar nicht, wenn die ersten beiden Gegentore nach Standardsituationen fallen.
Womit wir bei der zweiten Dimension wären, der interessanteren. Weil Yakin seine Nati zuvor in einem Ernstkampf eben nie in einer Dreierkette spielen liess, und alles komplett schief gegangen war, wurden entsprechend auch alle Spieler danach befragt – mit dem Ergebnis, dass die Meinungen ziemlich kontrovers ausgefallen sind. Von «wir waren sehr überrascht» bis zu «das müssen wir Profis beherrschen» gab es alles. Enttäuschungen von nicht für die Startelf berücksichtigten Spielern wie Elvedi oder Seferovic befeuerten das Klima noch zusätzlich.
Mit dieser Melange muss sich der Nationaltrainer nun am Tag danach auseinandersetzen. Er tut das zusammen mit Verbandspräsident Dominique Blanc und Sportdirektor Pierluigi Tami im Medienraum des Schweizer Trainingscenters in Doha. Derweil finden draussen bereits Aufräumarbeiten statt.
Für Yakin geht es darum, zu verhindern, dass in der Beziehung zwischen ihm und dem Team Risse entstehen. Zumal das Team nun auseinandergeht und erst im März 2023 wieder zusammenkommt, zum Start der EM-Qualifikation. Zunächst einmal stellt er eines klar: «Ich trage nicht nur bei Siegen die Verantwortung. Sondern auch, wenn wir verlieren.» Weiter: «Unmittelbar nach dem Spiel ist es immer sehr emotional.» Was er damit auch meint: Im Frust nach einer grossen Enttäuschung kann schon einmal ein unbedachtes Wort fallen.
Darum einmal tief durchatmen und nicht gleich die Arbeit von 15 Monaten über Bord werfen. Und schliesslich sagt Yakin: «Mein Job ist es, die Spieler wieder zu motivieren und aufzubauen. Ich tue das, indem ich sie involviere. So wie immer, ich habe auch während dieser WM immer wieder Spieler auf dem Zimmer besucht und Dinge besprochen.»
So war beispielsweise die Taktik für das Portugal-Spiel mit den Führungsspielern abgesprochen. Wer bei dieser Entscheidungsfindung alles genau dabei war, will Yakin indes nicht verraten, auch nach mehrfachem Nachfragen nicht.
Yakin appelliert daran, die WM nicht nur aufgrund dieses 1:6 gegen Portugal zu bewerten. «Dieses Resultat überschattet derzeit alles. Insgesamt befinden wir uns aber auf einem tollen Weg.»
Für Yakin ist dieses 1:6 die erste grosse Niederlage als Nationaltrainer. Auch seine Vorgänger Vladimir Petkovic und Ottmar Hitzfeld haben schon heftige Niederlagen erlitten an einem grossen Turnier. Petkovic an der EM 2021 beim 0:3 gegen Italien. Hitzfeld an der WM 2014 beim 2:5 gegen Frankreich. Der Unterschied: Sowohl Petkovic wie auch Hitzfeld hatten die Gelegenheit, die Mannschaft am selben Turnier noch einmal aufzurichten. Prompt gelang die Reaktion.
Bei Yakin ist es nun anders. Er muss sich bis zur EM 2024 gedulden, ehe er diese Gelegenheit erhält. Natürlich, es gibt auch Qualifikationsspiele, aber die Gegner heissen Rumänien, Israel, Weissrussland, Kosovo und Andorra. Da werden, bei allem Respekt, selbst Siege die Erinnerung an das Portugal-Debakel nicht auslöschen.
Gut 45 Minuten dauert der Auftritt der Nati-Bosse. Zum Schluss fasst Yakin noch einmal zusammen: «Eine kurze Phase der Trauer gibt es. Aber wir verlieren nicht unseren Mut und unsere Ehre. Wir haben bewiesen, dass wir tollen Fussball spielen können. Das verlernt man nicht plötzlich einfach so.» Dann verabschiedet er sich. Heute Donnerstag kurz nach 15 Uhr landet die Schweizer Delegation in Zürich.